Ein Traum der Welt: K wie «kind»

Nr. 26 –

Annette Hug pflegt ihren Tunnelblick

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Nicht in Nachrichten hängen bleiben. Sich auf die Arbeit konzentrieren. Sorgfältig nachschauen, was ein Wort genau heisst. Zum Beispiel im Oxford English Dictionary (OED). Das einzige Wörterbuch, das für über tausend philippinische Wörter genau recherchierte Einträge bietet. Kostenpunkt: hundert Pfund pro Jahr. Lohnt sich aber. Seit der Öffnung des Standardwerks für «world Englishes» vermischen sich hier die Sprachen.

Das tun sie auch in der Eröffnungsszene des Romans «Kind, mein Kind, wie haben sie dich bloss gemacht» von Lualhati Bautista. Er spielt in Manila, circa 1983: Eine junge Mutter erträgt mit sarkastischem Witz die Morgenstunden im Schulhof, ihre Tochter hat die Vorschule erfolgreich bestanden, zur Feier des Tages wird «Miss Kinder» erkoren. Aufgepeppt und geschminkt gehen die Mädchen nach vorn, um ihr Sprüchlein aufzusagen.

«Kindergarten» ist ein alter Eintrag im OED. Nachdem der deutsche Pädagoge Friedrich Fröbel den Begriff 1840 geprägt hatte, tauchte er bereits 1850 als Lehnwort im Englischen auf. Ins philippinische Englisch und die Sprache Tagalog kam das Wort über das amerikanische Englisch, über den Pazifik also. (Nein, nicht an Nachrichten denken, nicht an Tarnkappenbomber und den Luftwaffenstützpunkt in Guam.)

Die Vereinigten Staaten schickten 1901 ein Schiff voll Lehrer:innen in ihre neue Kolonie in Asien. In den Diskussionen darüber, was die philippinischen Kinder genau lernen sollten, setzten sich Debatten aus den USA fort. Besonders in Schulen im Norden der Insel Luzon, bei den «nichtchristlichen» bzw. «wilden Stämmen», kamen Modelle aus den Reservaten der Native Americans zum Einsatz. Direktor dieser «indian schools» war von 1894 bis 1898 William Hailmann. In Glarus geboren, wurde er in Amerika zum Kindergartenpionier. Glühender Anhänger von Fröbel, warb er für eine Vorschule mit Kopf, Herz und Hand. In seinen Vorlesungen zur Geschichte der Pädagogik erscheint Fröbel als Krönung der Arbeit von Johann Heinrich Pestalozzi. Bei den Kindern müsse – mit viel Herz – der praktische Sinn geweckt werden, der dem Schweizer Pädagogen selbst leider abgegangen sei, schreibt Hailmann. Für die Kinder der Native Americans stellte er sich eine baldige Integration in die Schulen der Weissen vor. «Mit Kopf und Hand» sollte heissen: Durch praktische Anschauung wird der Verstand geschult, die Kinder werden klüger, beten nicht einfach Worte nach, sie denken.

Die meisten Schulen weigerten sich jedoch, Kinder aus den Reservaten aufzunehmen, und die Nachfolgerin von Hailmann, Estelle Reel, verstand «Hand» nur noch im Sinn von «Handarbeit». Von rassistischen Vorstellungen durchdrungen, sprach sie den Schüler:innen der «indian schools» ein höheres intellektuelles Potenzial ab und wollte sie ausschliesslich zu manuellen Tätigkeiten erziehen. Diese Konzeption wurde für philippinische Schulen im Norden Luzons zum Vorbild. (Und ja, die Hauptziele der amerikanischen Kolonisierung waren militärisch und kommerziell: Mit Hawaii, Guam und den Philippinen bauten die USA eine Art Brücke über den Pazifik, um im aufstrebenden Asien präsent zu sein.)

Was ich im Abgleich zwischen OED und Grimms Wörterbuch noch herausfinden möchte: Ist das englische «kind», im Sinne von lieb, mit dem deutschen Wort «Kind» verwandt?

Annette Hug ist Autorin und Übersetzerin in Zürich, von Lualhati Bautista hat sie bisher den Roman «Die 70er» übersetzt. Vielleicht ist sie einer Finte aufgesessen: Die B-2-Bomber sind am vergangenen Sonntag wohl gar nicht von Guam aus geflogen, um im Iran Atomanlagen zu bombardieren, sondern direkt aus Missouri.