Die Welt dreht sich: Morgenlektüre
Rebecca Gisler liest Kohlblätter
Wer kennt sie nicht, diese gewisse Faszination, Magazine zu lesen, die absolut nichts Interessantes oder Wichtiges zu berichten haben? In einer Zeit, in der wir täglich mit tragischen Nachrichten überflutet werden, wirkt es fast kathartisch, hin und wieder diese «feuilles de chou» (Kohlblätter) zu lesen – wie man sie auf Französisch so schön nennt –, die mindestens einmal im Monat ungefragt im Briefkasten landen. Meine beiden Lieblings-«Kohlblätter» sind das Gemeindeblatt des Dorfes, in dem ich wohne, und das Gesundheitsmagazin der CSS-Krankenkasse, das sogar zweimal geliefert wird: einmal auf Französisch und einmal auf Deutsch – ein doppeltes Lesevergnügen sozusagen.
Am liebsten lese ich diese Magazine beim Frühstück. Mit einem geschlossenen Auge, in einem Zustand des Halbschlafs mit einem noch unversehrten und wohlwollenden Hirn. In diesem Zustand der Offenheit gegenüber der Welt blättere ich durch die Magazine. Die Dorfzeitung ist bei weitem weniger böswillig als das Kundenmagazin der CSS, das einem regelrechten politischen Traktat zur Verherrlichung der neoliberalen Softpower gleichkommt.
Im CSS-Magazin werden Gesprächspartner:innen (unter anderem sogenannte Bio-Hacker, ehemalige Eiskunstläuferinnen, Zahnärzte, Hypnose-Coaches) zu einer Gesprächsrunde eingeladen, bei der wichtig wirkende Themen diskutiert werden: die Bedeutung von Arbeit, aber auch die der Erholung, die Freuden von Skitouren und Sport im Allgemeinen sowie die Wichtigkeit harmonischer Beziehungen – illustriert mit schmerzhaft perfekten Fotos besagter Diskussionsrunde.
Während das CSS-Magazin Gesundheit wie eine schicke Rolex zu verkaufen versucht, berichtet das Dorfblatt über spezifische Ereignisse – manchmal scheint es sogar, die besagten Ereignisse würden erst erfunden, um dann darüber berichten zu können. In der Herbstausgabe etwa steht auf der Titelseite eine Untersuchung des Touring Club Schweiz, durchgeführt direkt vor einem Schulhausplatz. Die Schlussfolgerung ist fett gedruckt inmitten des restlichen Textes zu lesen: «Gute Einhaltung der Geschwindigkeit / Wenig Unfälle». Auf einer anderen Seite wird über Fusswege informiert, die gerade renoviert werden – zur Vorwarnung, damit man ja nicht auf die Idee kommt, sie zufällig zu benutzen, und dann vor Ort eine böse Überraschung erlebt. Ein Exklusivinterview mit einem Mitglied des Gemeinderats darf auch nicht fehlen.
Weiter wird vor Asiatischen Hornissen gewarnt (wir befinden uns allerdings noch nicht im Stadium der Invasion). Die Route des Räbeliechtli-Umzugs wird auf einer halben Seite genau beschrieben. Ein ausführlicher Bericht über die Leistungen der lokalen Sportvereine (Fussball, Basketball, Rudern, Turnen) nimmt den Mittelteil des Magazins ein.
Bei dieser Lektüre handelt es sich um das, was man ein «guilty pleasure» nennt: ein heimliches Vergnügen, das einen für einen kurzen Moment effektiv betäubt und beglückt. Doch diese Informationen rauschen an uns vorbei und hinterlassen kaum Spuren. Und doch, wenn ich schliesslich den Blick vom «Kohlblatt» hebe, ist der Nachhall hart: Mir wird bewusst, dass ich in dieser watteweichen Welt des Dorfblatts lebe. Und es kommt der Gedanke auf, ob nicht mein ganzes Leben eine Art «guilty pleasure» ist.
Rebecca Gisler ist Autorin und lebt in einem Dorf in der Nähe von Zürich. Dass sie das CSS-Magazin auf Deutsch und Französisch bekommt, hat mit ihrer familiären Situation zu tun.