Aus dem Gleichgewicht

Le Monde diplomatique –

Reise ins postpandemische China

Vor der Coronapandemie lag China praktisch um die Ecke. Per Direktflug über den Nordpol waren die 10 000 Kilometer zwischen Montreal und Peking in rund zehn Stunden zu bewältigen. Doch als China im Frühjahr 2023 seinen dreijährigen Lockdown beendete, wurde diese Verbindung nicht wiederbelebt, und so blieb mir nichts anderes übrig, als von Montreal über Toronto, Zürich und Hongkong in die chinesische Hauptstadt zu fliegen. Die Reise dauerte mehr als 30 Stunden. In Peking angekommen, wurde mir schnell klar, dass die Pandemie nicht nur im Flugverkehr Spuren hinterlassen hat.

Seit 2018 verfolge ich für meinen Blog „Reading the China Dream“ intensiv das intellektuelle Leben in China. Ich lese, übersetze und interpretiere Texte von Autoren, die weder vom Regime für Propagandazwecke bezahlt werden noch Dissidenten sind. Und ich beleuchte den Kontext, in dem diese Texte geschrieben und veröffentlicht wurden.1 Natürlich gibt es Tabuthemen wie Xinjiang, Tibet, Hongkong und Präsident Xi Jinping. Aber abgesehen von diesen sensiblen Bereiche bestehen durchaus Freiräume, um über aktuelle Themen zu diskutieren.

Die Autoren sind größtenteils Universitätsangehörige und andere Akademiker, die für die breite Öffentlichkeit schreiben. Geprägt wurden sie in einer Zeit der Reformen und der Öffnung, für die die im Land allgegenwärtigen Hochgeschwindigkeitszüge und hochmodernen Flughäfen stehen. Erstaunlicherweise existieren hier intellektuelle Vielfalt und autoritäres Regime faktisch nebeneinander. Dieser Pluralismus und seine Basis, die Gedankenfreiheit, sind integraler Bestandteil des „Chinesischen Traums“ jener Denker, mit denen ich es seit mehreren Jahren zu tun habe.

Xi Jinping kann damit überhaupt nichts anfangen. Der Präsident lehnt Pluralismus kategorisch ab und versucht seit Beginn seiner Amtszeit, ideologische Disziplin durchzusetzen. Die Intellektuellen widersetzen sich dem auf ihre ganz eigene Weise, wie die in unserem Blog veröffentlichten Texte zeigen.

Doch wie sieht es nach drei Jahren des Rückzugs ins Private und radikaler Isolierung vor Ort aus? Zuletzt hatte ich mich im Dezember 2018 in China aufgehalten. Nun verbrachte ich im Mai 2023 eine Woche in Peking, eine in Schanghai und einige Tage in Hongkong.

Auf den ersten Blick scheint es China gut zu gehen, sogar sehr gut. Peking präsentierte sich mir schöner und sauberer, als ich es in Erinnerung hatte. In unserem angesagten Hotel in einer charmanten Gasse unweit des Glockenturms herrschte eine freundliche Atmosphäre. Und in Schanghai hatte nach den Shutdowns des vergangenen Frühjahrs offenbar wieder das normale Leben Einzug gehalten. Die Straßen und Restaurants waren voll, die Metro beförderte Tag für Tag mit eindrucksvoller Effizienz nicht weniger als 10 Millionen Passagiere.

Mit meinem Zehnjahresvisum, das mir vor der Pandemie ausgestellt worden war und das zum Glück noch galt, hatte ich keinerlei Probleme. Ich konnte alle Personen sehen, die auf meiner Besuchsliste standen – auch solche, die ich vorher noch nie getroffen hatte, die aber auf meine E-Mail- oder WeChat-Anfragen geantwortet hatten. Überall waren Kameras installiert – besonders am Schanghaier Flughafen, wo beim Boarding Gesichtserkennungssoftware eingesetzt wird. Ich hatte aber nicht den Eindruck, überwacht zu werden. Und auch meine Gesprächspartner:innen versteckten sich nicht.

Doch hinter dieser Fassade der Offenheit und Dynamik zeigte sich ein anderes Bild. Die Folgen der mittlerweile beendeten Null-Covid-Politik sind schwerwiegend.

Wir alle haben den erbarmungslos geführten Kampf gegen das Virus in China verfolgt: Das erste Jahr war hart, die drakonischen Maßnahmen der Regierung zeigten aber offenbar Wirkung. Im zweiten Jahr hielten die Behörden weiterhin an ihrem Modell fest, auch wenn die Nachteile immer offensichtlicher wurden. Im dritten Jahr schließlich wurden das Ganze auf die Spitze getrieben: Die Bevölkerung musste überraschende Isolationsmaßnahmen und drastische Lockdowns über sich ergehen lassen, während der Rest der Welt gelernt hatte, mit der Omikron-Variante zu leben.

Dann kam das abrupte Ende der Null-Covid-Strategie mit seinen Horrorszenen: Keinerlei Kontrollen und Maßnahmen, überall kranke Menschen, zehntausende, wenn nicht gar hunderttausende Tote – und eine Regierung, die sich den Sieg über das Virus auf die Fahnen schrieb. Diese Mischung aus verblüffender Inkompetenz und extremem Zynismus war frappierend. Und sie ging auch an den chinesischen Intellektuellen nicht spurlos vorüber.

In Peking traf ich zwei junge Chinesen in ihren Dreißigern, nennen wir sie X und Y, die als Journalisten für ein privates Medienunternehmen tätig sind. Der lose Kontakt zwischen uns war durch die gemeinsame Arbeit an einem Projekt entstanden, das uns nun als Vorwand für ein Treffen diente. Wir kannten uns noch nicht persönlich. Trotzdem schütteten sie mir während des eineinhalbstündigen Gesprächs in einem sicheren Raum ihr Herz aus.

Sie schilderten mir das katastrophale Ende der Null-Covid-Politik. Y war sichtlich aufgebracht: „Du wünschst dir, dass deine Regierung versucht, sich zumindest ein bisschen um dich zu kümmern. Und dann stellst du fest, dass dies überhaupt nicht so ist, dass es ihnen völlig egal ist, was mit dir geschieht.“

Dass die Entscheidungen im Kampf gegen das Virus eine zutiefst politische Dimension hatten, war in China allen klar. Einige Beobachter rechneten deshalb damit, dass die Maßnahmen im Zusammenhang mit einem wichtigen Datum der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) – etwa nach dem XX. Parteitag im Oktober 2022 – gelockert würden.

Es blieb auch niemandem verborgen, dass die Null-Covid-Politik eng mit dem Image – oder auch dem Ego – von Präsident Xi verknüpft war; und das ist einer der Gründe dafür, warum die Lockdowns und Kontrollen im letzten Jahr zu Spannungen führten, die nicht mehr unter dem Deckel gehalten werden konnten. Trotzdem hatte niemand mit der 180-Grad-Wende gerechnet, die die Regierung dann mitten im Winter vollführte, ohne begleitende Maßnahmen wie eine Impfkampagne oder zumindest einem Vorrat an Medikamenten.

Völlig überrascht wurde die Bevölkerung von den offiziellen Verlautbarungen, wonach die Omikron-Variante lediglich eine harmlose Erkältung verursache und China das Virus besiegt habe. Was macht es da schon, dass Ihr Großvater gestorben ist! Menschen sterben andauernd, hätte Mao Tse-tung dazu gesagt.

Kompetenz ist – oder war – aus Sicht junger Chines:innen eine hervorstechende Eigenschaft ihrer Regierung. Sie sind sich durchaus bewusst, dass ihre Staatsführung unter Präsident Xi zunehmend autoritärer wurde. Der Autoritarismus ist aber nichts Neues, man ist – auch wenn manche es lieber anders hätten – daran gewöhnt. Zumal dieses autoritäre Regime dem Land und seinen jungen Menschen in den letzten Jahrzehnten einen Wohlstand beschert hat, der zur Zeit ihrer Großeltern undenkbar gewesen wäre.

Die jungen Chines:innen sind zynisch und patriotisch zugleich; sie sind sehr stolz auf dieses prosperierende, technologisch hochentwickelte China. Zumindest bis Dezember 2022, als die Regierung das Land ins Gesundheitschaos stürzte und seine errungene Legitimität gefährdete. Y ist noch immer wütend.

X hingegen wirkt überfordert. „Meine Ausbildung hat mich in keiner Weise auf so etwas vorbereitet“, sagt er. „Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Ich habe das Gefühl, ich habe das Gleichgewicht verloren.“ Er hat viel mit Freunden geredet, die ihre Arbeitsstelle bei diesem und jenem Unternehmen oder beim Staat gekündigt haben, weil sie „kein Teil des Systems mehr sein wollten“. Im Chinesischen gibt es dafür den Ausdruck „Tangping“ (Flachliegen), was so viel heißt wie: sich dem Leistungsdruck zu entziehen, weniger arbeiten, mehr leben.

X berichtet auch von Freunden, die das Land sofort verlassen haben oder infolge der Krise in ihrem Alltag nicht mehr funktionieren – und das nicht nur beruflich. X wollte mit mir, einem Ausländer, darüber sprechen, weil es hier in seinem Land niemand tut. Denn darüber sprechen heißt, den famosen „Sieg über das Virus“ infrage zu stellen, und das kann Probleme zur Folge haben.

X hat zahlreiche Konflikte im Arbeitsalltag insbesondere kleiner und mittlerer Unternehmen mitbekommen, die nach drei Jahren pandemiebedingter Schließungen mehr schlecht als recht laufen. Die Leute seien cholerisch, überfordert, unglücklich und desillusioniert. Das trifft sicherlich nicht nur auf China zu. Das Gespräch hinterließ bei mir den Eindruck, dass sich X und seine Kolleg:innen in einem Trauerprozess befinden.

Diese intensive, unerwartete Begegnung berührte mich zutiefst. Am nächsten Tag aß ich mit einem Akademiker zu Mittag, den ich ebenfalls neu kennengelernt hatte. Ich fragte ihn nach seiner Meinung zu den Schilderungen von X und Y, und er stimmte ihren Aussagen und Analysen sofort uneingeschränkt zu. Jeder und jede leide hier unter posttraumatischen Stress, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß.

Im Grunde haben mir alle meine Gesprächspartner dieselbe Geschichte erzählt, nämlich dass das Ende der Null-Covid-Politik den Menschen schmerzhafte Wunden zugefügt hat, die nur schwer verheilen. Besonders schlimm sind die Verletzungen bei der älteren Generation. Das meinen zumindest die meisten der Intellektuellen, mit denen ich in Kontakt stehe.

„Wir hatten ja schon unseren 4. Juni“, sagte einer von ihnen in Anspielung auf das Datum, als Soldaten im Jahr 1989 den Protest auf dem Tiananmen-Platz niederschlugen – eines jener dramatischen Ereignisse, welche die Legitimität des Staats und das Vertrauen in ihn untergruben. Solche Dinge geschahen häufig in der Geschichte des Einparteienstaats, doch war er stets robust genug, um alles zu überstehen.

Die Autoren der von mir übersetzten Texte scheinen hingegen weniger unter den Schrecken des Lockdown-Endes zu leiden als unter den tagtäglichen Zumutungen in Xis China. „Niemand kann mehr irgendetwas sagen“, höre ich immer wieder von meinen Gesprächspartnern. Sie beschreiben ein nach Schlüsselwörtern gesteuertes Zensursystem. Das simple Wort „Religion“ etwa ist derzeit tabu und darf in keinem Text vorkommen. Zahlreiche Veröffentlichungen auf WeChat oder Weibo, den chinesischen Pendants von Facebook oder X, wurden ohne Begründung gelöscht.

Die Klage, dass sich niemand etwas zu sagen traue, höre ich allerdings schon, seit wir uns vor zehn Jahren kennenlernten. Es kann allerdings sein, dass sie sich nach den Zeiten vor Präsident Xi zurücksehnen, als sie noch offen sagen konnten, dass die KP ihre Rolle gespielt habe, nun aber die Zeit für etwas Neues gekommen sei. Damit kämen sie heute nicht mehr durch. Das heißt aber noch nicht, dass „niemand mehr irgendetwas sagen kann“. Denn trotz des allgemeinen Unmuts werden in China gute Bücher veröffentlicht, sodass ich immer genug zu übersetzen habe.

Gleichwohl sind meine gebildeten Freunde noch nie so desillusioniert gewesen wie heute. Manche behaupten, sie läsen gar nichts mehr außer dem Austausch in ihrer WeChat-Gruppe. Ich hatte manchmal den Eindruck, besser als sie darüber informiert zu sein, „wer was in China schreibt“. Das war früher anders.

Viele Intellektuelle, die nicht „flachliegen“ wollen, bleiben den Universitäten möglichst fern. Denn dort sind die Kontrollen am strengsten. Sie suchen sich andere Betätigungsfelder – geben etwa gut zahlenden Unternehmern Privatunterricht.

Diese Umorientierung bringt allerdings die Forschung nicht voran. Und die Unternehmer hegen, so sagt ein langjähriger Freund, allesamt antiamerikanische Ressentiments und machen die USA für jedes noch so kleine Problem verantwortlich – eine Folge der von Donald Trump eingeleiteten und unter Joe Biden fortgeführten Eindämmungspolitik.

Bei meinem Aufenthalt traf ich auch einen liberalen, jungen Autor, der bereits einen Bestseller veröffentlicht hat, zwei weitere Bücher plant und die Lage eher optimistisch sieht. Einen Nachmittag verbrachte ich zudem mit den Machern des Magazins Bejing Cultural Review, einer meiner bevorzugten Quellen. Ihre Texte sind stets gut geschrieben und mitunter subtil regimekritisch, fast 30 davon habe ich übersetzt. Anders als viele befreundete – chinesische wie westliche – Journalisten, die sich ausgesprochen zynisch über die Politik äußern, ist man bei Beijing Cultural Review zu meiner Überraschung auf die Parteilinie eingeschwenkt.

Die folgende Anekdote illustriert vielleicht am besten die aktuelle Situation: Ein liberaler, moderat prodemokratischer Freund erzählte mir von anderen „radikaleren“ Liberalen, die teilweise Trump-Fans seien und die Möglichkeit eines Kriegs mit Taiwan begrüßten; denn sie seien überzeugt, dass dieser die KP zu Fall bringen könnte.

Nicht ohne Ironie fügte er hinzu, die meisten von ihnen seien sehr wohlhabend und besäßen zum Teil Immobilien in den USA. „Ich habe das alles nicht. Deshalb verzichte ich lieber auf den Krieg und bleibe in China, solange und soweit ich dem Gefängnis entgehen kann.“ Ob der Chinesische Traum da noch eine Chance hat?

1 Siehe „China und seine unbekannten Denker“, LMd, Januar 2023.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

David Ownby arbeitet am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle zum intellektuellen Leben in China. Autor von „L’essor de la Chine et les intellectuels publics chinois“, Paris (Collège de France) 2023.