Im Tal der Luxusuhren: Die Komplikationen der Zeit

Nr. 15 –

Die exklusivsten Uhren der Welt stammen noch immer aus der Schweiz. Viele davon aus dem Vallée de Joux - einem Hochtal, in dem es nach Feierabend sehr ruhig ist.

Im Morgengrauen ist Stossverkehr auf den Strassen des lang gezogenen Hochtals. Ab fünf Uhr morgens schieben sich die Autokolonnen von der französischen Grenze her in die Dörfer: Die «frontaliers» fahren zur Arbeit. Rund 2500 von ihnen arbeiten im Vallée de Joux in der Uhrenindustrie. Die Fabriken sind hell erleuchtet, die Parkfelder in Le Sentier bald bis auf den letzten Platz besetzt.

Le Sentier, L’Orient und Le Brassus bilden zusammen die Gemeinde Le Chenit, mit 4084 EinwohnerInnen die grösste politische Gemeinde im Tal. Im Tearoom der Pfarrei von Le Sentier kostet der Café crème 2 Franken 70. Eine Standuhr tickt, ältere Männer, jeder allein an seinem Tisch, blättern in der Zeitung «24 heures» und im «Feuille d’Avis», dem amtlichen Mitteilungsblatt des Tals. Todesanzeigen, ein Bericht von der letzten Gemeinderatssitzung, ein Foto des Kirchenchors. Ein Dorfladen in der näheren Umgebung steht vor der Liquidierung - Spielwaren, Haushaltgegenstände und Geschirr werden verscherbelt.

Die Uhrenindustrie des Vallée de Joux weist derzeit Rekordumsätze aus. Das Geschäft mit den Luxusgütern blüht. In den Dörfern, in denen die Uhren hergestellt werden, ist davon wenig zu spüren. Einfamilienhäuser stehen zum Verkauf, Hotels stehen leer, an der Grand-Rue in Le Sentier steht einsam ein Kebab-Imbiss. Einzig in den Auslagen der beiden kleinen Juwelierläden in Le Sentier ist der Glamourexport sichtbar: Hier tragen die Uhren Preisschilder, auf denen «3000 Franken» oder «5000 Franken» steht. Es sind Uhren der günstigeren Klasse.

La Golisse ist der Nachbarort von Le Sentier. Hier steht nicht viel mehr als die Fabrikanlagen von Jaeger-LeCoultre, einem Unternehmen, das heute zum Luxusgüterkonzern Richemont mit Sitz in Genf gehört und rund tausend Mitarbeitende zählt. Direkt an der Strasse steht ein Monument mit dem markanten Kopf von Antoine LeCoultre, der 1866 die erste Manufaktur des Tals errichtete. Jaeger-LeCoultre baut sich zurzeit ein eigenes Museum. Talseits wurde für das Personal ein dreistöckiges Parkhaus erstellt, das werktags voll ist und an die Parkhäuser in grossen Shoppingcentern erinnert. Wohl die Hälfte der Autos hat ein französisches Nummernschild. Hinter dem Haus stehen Frauen und Männern in kleinen Gruppen beisammen. Sie tragen Arbeitsschürzen und rauchen Zigaretten.

Das Vallée de Joux, auf tausend Metern Höhe, ist rechts und links von mächtigen Tannenwäldern gesäumt. Die Winter sind lang und kalt hier, klar und trocken ist die Luft - genau die richtigen Bedingungen für die Herstellung hochempfindlicher Geräte, die keinen Staub vertragen. In den abgelegenen Höfen und Weilern hatten die Bauernfamilien schon im 18. Jahrhundert aus blanker Not mit Nebenerwerben begonnen. Die Frauen klöppelten Spitzen, die Männer wandten sich der Uhrmacherei zu. Viele Bauernhäuser haben heute noch im obersten Geschoss die charakteristischen Fensterzeilen, in die Giebelfassade gebrochen, damit mehr Licht auf die Werkbank fällt. Die ersten Manufakturen fertigten Einzelteile, Zahnräder und andere Uhrenkomponenten an oder schliffen Steine, die für die Uhrmacherei verwendet wurden. Die Bestellungen kamen aus aller Welt ins stille Tal; zu den Kunden gehörten gekrönte Häupter und unzählige andere Promis der damaligen Zeit.

6277 EinwohnerInnen zählt das Tal heute, 59 Personen mehr als 2005, Grund zu verhaltenem Optimismus. 1969 waren es noch 8111 Menschen, danach gings nur noch abwärts. In der Uhrenkrise wanderten nicht nur ausländische Arbeitskräfte ab, sondern auch SchweizerInnen, die in den Uhrenfabriken des Vallée de Joux gearbeitet hatten. Da zeigten sich die Schattenseiten einer Monokultur, wie sie das Tal kennzeichnet. Der Gemeindesekretär von Le Sentier, Pierre-André Reymond, erzählt von der grossen Krise der dreissiger Jahre, als die Industrie am Boden lag und die Uhrmacher Steine klopften und Gemeindearbeiten verrichteten, um mit ihren Familien über die Runden zu kommen.

Jetzt aber boomt die Branche. Im Vallée de Joux liegt die Zahl der Erwerbslosen bei 2,9 Prozent, im restlichen Kanton Waadt sind es 4,6 Prozent. Von 5500 Beschäftigten, GrenzgängerInnen eingerechnet, arbeitet die grosse Mehrheit in der Uhrenindustrie. Die Swatch-Group mit ihren Firmen Breguet, Frédéric Piguet, ETA Valjoux, François Golay und Blancpain ist eine der grossen ArbeitgeberInnen im Tal.

Der Aufschwung der Branche komme dem ganzen Tal zugute, sagt Reymond, denn davon profitierten auch die Bauwirtschaft, das Gewerbe und der Dienstleistungsbereich. Und natürlich: Die im Tal ansässigen Unternehmen bezahlen Steuern. Aber dennoch, sagt er, man müsste mehr machen, den Tourismus fördern zum Beispiel. Geschlossene Restaurants und Hotels wirken nicht einladend. «Weil es der Uhrenindustrie so gut geht, ist die Bereitschaft, mehr in den Tourismus zu investieren, nicht gross», meint Jeannine Rainaud, die Gemeindepräsidentin von Le Chenit. Dem Tal fehle die aktive Bevölkerung, die sich am politischen und gesellschaftlichen Leben beteilige. «Wir möchten dringend mehr EinwohnerInnen.» Bauland wäre vorhanden, ebenso ein Sportzentrum, ein Regionalspital, Bahn und Bus, Schulen und die Ecole technique de la Vallée de Joux, die 1908 gegründete Uhrmacherschule. Hier absolvieren zurzeit 60 angehende UhrmacherInnen eine Vollzeitausbildung, und 35 Lehrlinge aus den ansässigen Uhrenfabriken besuchen die Berufsschule. Etwas mehr als ein Viertel sind junge Frauen, 13 Prozent GrenzgängerInnen.

Frankreich ist nah. Die GrenzgängerInnen sind ein umstrittenes Thema. Man braucht sie, aber den Mehrverkehr möchten die Einheimischen lieber nicht im Tal. Mittags beleben die «frontaliers» die Cafés und Restaurants, abends sind sie weg. Manche legen zweimal täglich einen Weg von fünfzig Kilometern zurück. Gegenüber dem Vorjahr hat ihre Zahl um 400 Personen zugenommen. Die Löhne in der Schweiz sind attraktiv. In einem Bericht im «24 heures» vom 31. Januar erklärt ein Grenzgänger, der seit ein paar Jahren im Tal arbeitet: «Man ist beidseits der Grenzen nicht gern gesehen. In meiner Region liegen die Löhne selten über dem ‹smic› [dem gesetzlichen Mindestlohn in Frankreich, etwa 1255 Euro].»

Ein schütteres Glöcklein auf dem Turm des Hauptgebäudes der Uhrenfabrik Breguet in L’Orient läutet mittags zur Pause. Im Bäckerladen gegenüber der Fabrik holen sich Angestellte Sandwiches und Getränke. L’Orient ist ein winziges Strassendorf: einige städtisch anmutende Mietshäuser, eine elegante Fabrikantenvilla inmitten eines Parks sowie der Altbau der einst stolzen Uhren- und Uhrwerkefabrik «Lemania», 1999 in den Besitz der Swatch-Group übergegangen und 2004 durch einen Neubau ergänzt. Viel mehr steht da nicht.

Im Unia-Büro von Le Sentier erzählt Gewerkschaftssekratär Eric Voruz vom Kampf, den die UhrenarbeiterInnen und die damalige Gewerkschaft FTMH (in der deutschsprachigen Schweiz Smuv) 1998/1999 für den Erhalt der Arbeitsplätze bei «Lemania» geführt haben. Die Fabrik sollte nach Genf transferiert werden. Die Schliessung des Werks in L’Orient hätte 600 Personen den Arbeitsplatz gekostet. «Das ganze Tal hat sich damals gegen die Pläne der Finanzgruppe gewehrt», erinnert sich Voruz.

An einer Ausfallstrasse in Le Brassus stehen die Fabrikgebäude von Audemars Piguet. Die 1875 gegründete Firma ist noch immer in Familienbesitz; VR-Präsidentin Jasmine Audemars vertritt die vierte Generation. Rund 400 Personen arbeiten hier, 800 Personen sind es weltweit. Audemars Piguet hat Boutiquen von Mailand bis Miami, von Taipeh bis Moskau. Der Firma - unter anderem Sponsorin von Alinghi und Maserati - geht es ausgezeichnet. Das 2000 erstellte Gebäude ist schon wieder zu klein. Ein paar hundert Meter weiter unten wird neu gebaut, eine 35-Millionen-Franken-Investition, mit der vor allem die Montageateliers zentralisiert werden sollen. Fünfzig neue Stellen will Audemars Piguet dieses Jahr schaffen.

Vom Konferenzraum aus blickt man auf die verschneite Ebene, auf Wälder, verstreut liegende Bauernhöfe und einen kleinen Weiler. Das Traditionsunternehmen ruht mittendrin, wirkt gleichzeitig kosmopolitisch und solide verankert. «Wir sind hier wohl näher am sozialen Leben des Tals als andere Unternehmen, deren Entscheidungszentren anderswo liegen», meint Georges-Henri Meylan, Generaldirektor der Uhrenfirma. Er stammt selber aus der Region und wohnt auch hier. Audemars Piguet habe sich immer für die Belange des Vallée de Joux engagiert; sein Vorgänger beispielsweise habe zu den Promotoren der Nordischen Skimeisterschaften von Le Brassus gehört.

26 000 Uhren des höchsten Segments verlassen jährlich das Werk von Audemars Piguet, 1970 waren es erst 5000 Stück. Eine Uhr kostet im Durchschnitt 25 000 bis 30 000 Franken. Für die aus Stahl gefertigte «Royal Oak», die mit ewigem Kalender ausgestattet ist, wenden Liebhaber 58 000 Franken auf, für die gleiche Version in Platin 127 000 Franken. Im Katalog finden sich auch Modelle für 200 000 oder 300 000 Euro beziehungsweise «sur demande». Audemars Piguet hat immer exklusive Uhren hergestellt. «Die Uhrenkrise und die Wirtschaftskrise der siebziger Jahre haben die ganze Branche getroffen», sagt Meylan, «Tausende von Arbeitsplätzen in der Branche gingen verloren; hier im Tal wanderten viele Junge ab. So ist uns eine ganze Generation an Berufsleuten verloren gegangen.» Heute sei Uhrmacher wieder ein attraktiver Beruf geworden. Drei der acht Lehrlinge bei Audemars Piguet, alle aus dem Tal, sind junge Frauen. Neben der Berufslehre können ArbeiterInnen betriebsinterne Aus- und Weiterbildungen absolvieren. Damit will das Unternehmen den Personalmangel überwinden.

Neben dem Hauptgebäude hat Audemars Piguet ein Uhrenmuseum eingerichtet, in dem eine Kollektion der schönsten Stücke ausgestellt ist. In den oberen Geschossen haben die BesucherInnen direkten Einblick in Ateliers, wo Männer und Frauen Präzisionsarbeit verrichten. Ein junger Mann, die Lupe überm Auge, zeigt winzige Teilchen, die er bearbeitet. Museumsdirektor Martin K. Wehrli erklärt: «417 solcher Teilchen umfasst eine einzige Uhr, und ein Jahr Arbeit steckt darin. Die Uhrmacher, die solche Einzelstücke herstellen, geben ihr Werk ungern aus den Händen, stets haben sie noch etwas zu perfektionieren.»

Spezielle, ausgeklügelte Mechanismen, im Fachjargon Komplikationen genannt, hatten bereits die frühen Taschenuhren aus der Manufaktur in Le Brassus. Heute gibts das alles in Armbanduhrgrösse: ewige Kalender, die Schaltjahre und unterschiedliche Monatslängen berücksichtigen, Minutenrepetition, Mondphasenanzeige und vieles mehr. Kunstfertigkeit, Leidenschaft und Liebe zum kleinsten Detail - in den Ateliers unter dem Dach des alten Fabrikgebäudes offenbart sich ganz konkret, wofür die Schweizer Uhrenmacherei steht.

Aber wie passen Milliardenumsätze und hochqualifizierte Präzisionsarbeit auf der einen und Anfangslöhne von 3100 bis 3850 Franken auf der andern Seite zusammen? Gewerkschaftssekretär Eric Voruz zeigt den Gesamtarbeitsvertrag, abgeschlossen zwischen dem Arbeitgeberverband der schweizerischen Uhrenindustrie und der Unia, seit 1. Januar 2007 in Kraft und 140 Seiten stark. «Wir haben einen der fortschrittlichsten Gesamtarbeitsverträge in der Schweiz», sagt Voruz und verweist namentlich auf die bezahlte Weiterbildung, die Geschlechtergleichstellung und den Mutter- und Vaterschaftsurlaub. Die Löhne sind derzeit Verhandlungsthema. Die Gewerkschaft verlangt für die ungelernten Arbeitskräfte neu 3250, für die anderen 4050 Franken Anfangslohn. Trotz Milliardengewinnen markierten die Unternehmer hinsichtlich der Löhne Härte. «Die Philosophie der Patrons hat sich kaum geändert, Globalisierung hin oder her; die Unternehmer lassen uns spüren, wer hier Herr im Hause ist», sagt Voruz. «Viele Beschäftigte stehen unter Druck, das bekommen wir immer wieder zu hören. Die Stimmung in zahlreichen Firmen ist nicht gut; es wird über Schikanen geklagt.» In den letzten Jahren konnte die Unia im Vallée de Joux ihre Mitgliederzahl steigern. Allein im Tal gibt es über 1400 Mitglieder, Schweizerinnen und Grenzgänger; über 1100 von ihnen sind in der Uhrenindustrie tätig, davon etwas mehr als die Hälfte Frauen.

Am Abend ist nichts mehr los in Le Sentier und den umliegenden Ortschaften. Kaum ein Auto auf der Strasse, niemand zu Fuss. Dunkel auch die Fabriken. Die wenigen Gasthöfe sind leer. Nur im Buffet de la Gare in Le Sentier, dem verrauchten Treffpunkt der Jugend des Tals, ist noch Leben anzutreffen.

Vom 12. bis 19. April findet in Basel die Uhren- und Schmuckmesse Baselworld statt. Die Genfer Uhrenmesse, der Salon international de la haute Horlogerie, wird am 16. April eröffnet und dauert bis zum 21. April.

Die Schweizer Uhrenindustrie

Geografisch beschränkt sich die Schweizer Uhrenindustrie auf den Jurabogen zwischen Delémont (JU) und Le Brassus (VD) sowie auf drei Städte am Jurasüdfuss: Genf, Biel und Grenchen. Die einzige nennenswerte Ausnahme bildet die Uhrenfirma IWC in Schaffhausen. Genf, wo die aus Frankreich geflüchteten Hugenotten Mitte des 16. Jahrhunderts die Uhrmacherkunst eingeführt hatten, blieb lange Zeit das bedeutendste Zentrum in der Uhrenherstellung. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts erfasste die industrielle Revolution die Uhrenindustrie, es entstanden die ersten Fabriken, die zunächst Taschenuhren, ab dem frühen 20. Jahrhundert auch Armbanduhren herstellten. Innert Kürze wuchsen die Zwillingsstädte La Chaux-de-Fonds und Le Locle zum neuen Zentrum der schweizerischen Uhrenindustrie heran. Diese Rolle verloren sie erst, als die Erfindung der Quarzuhr 1967, der Schock der Erdölkrise 1973 und die Konkurrenz durch Billiguhren aus Asien die Uhrenbranche in ihre bisher grösste Krise stürzten. Die Wiederauferstehung im Zeichen der Swatch und der Luxusuhren verlagerte das Epizentrum der Branche erneut. Dank dem Aufschwung von Rolex, der weltweit bekanntesten Uhrenmarke, und der Gründung des Swatch-Konzerns, des grössten Uhrenkonzerns der Welt, gilt heute Biel als Weltstadt der Uhren. Zum Bieler Einzugsgebiet gehört auch Grenchen, in dessen drei ETA-Fabriken nicht weniger als 2500 Arbeiter Rohwerke herstellen. Das andere florierende Zentrum ist Genf, auf dessen neuer Industriezone Plan-les-Ouates eine ganze Reihe protziger Uhrenfabriken zu bestaunen sind.

Doch die Schweizer Uhrenindustrie beschränkt sich keineswegs auf die städtischen Zentren. Das Vallée de Joux steht für die ländliche Variante. In unzähligen Dörfern stösst man hier auf kleinere und grössere Fabriken, die - trotz vieler Betriebsschliessungen während der letzten Krise - Uhren oder Uhrenteilchen produzieren.

Nach der grossen Krise, die in den siebziger Jahren die Schweizer Uhrenindustrie beinahe in die Knie gezwungen hatte, setzte Mitte der neunziger Jahre ein erneuter Aufschwung ein, basierend auf der Produktion von teuren Uhren. Nach Wert gemessen ist die Schweiz nach wie vor das mit Abstand wichtigste uhrenproduzierende Land der Welt. Der Export brachte 2006 einen neuen Rekordumsatz von 13,7 Milliarden Franken ein, satte 10,9 Prozent mehr als im Vorjahr und auch bedeutend mehr als in den Jahren vor der Krise. Und im Januar 2007 ist der Export abermals um 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen.

Die Schweizer Uhrenindustrie beschäftigt heute über 40 000 Personen, Tendenz steigend. 1974 waren es 76 000 gewesen, 1987 aber nur noch 29 000.