Von oben herab: Genau!

Nr. 41 –

Stefan Gärtner über einen an sich unschuldigen Nachtisch

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Das Internet ist ja Fluch und Segen zugleich, aber ein Segen ist es heute für den Kolumnisten, weil er nur Sekunden braucht, um herauszufinden, dass es in der 89. Folge der Sitcom «Seinfeld» war, dass alle plötzlich ihren Schokoriegel mit Messer und Gabel essen. Die Folge wurde, auch das weiss Wikipedia, am 6. Oktober 1994 ausgestrahlt, und am 6. Oktober 2025 sitze ich am Schreibtisch und erfahre vom allerneusten Supertrend aus dem «Tages-Anzeiger»: «Ein simpler Aufruf auf Tiktok reichte, um über zweihundert Jugendliche in Zürich aufzubieten. Diese machten es sich am Mittwochabend um 17 Uhr auf der Chinawiese gemütlich, holten ihre Puddings und Gabeln hervor und assen gemeinsam. Ziel der Veranstaltung sei es, neue Personen kennenzulernen und einfach mal zu lachen. Denn ‹die Welt ist ernst genug›, sagte eine Teilnehmerin. Der Internettrend macht seit einigen Wochen die Runden in Deutschland und Österreich.» Weshalb der Norddeutsche Rundfunk einen Medienwissenschaftler befragte, der den Trend mit dem «Gangnam-Style» verglich, aber einen wichtigen Unterschied sah: «Die Menschen, die jetzt um die 20 sind, sind auch die, die stark von der Pandemie und den Lockdowns betroffen waren. Sie haben prägende Zeiten verpasst, und viele haben jetzt das Bedürfnis, analog Kontakte zu knüpfen.»

Ich habe prägende Zeiten auch ohne Lockdown verpasst, und es darf uns Eltern freuen, dass nicht mehr nur wir automatisch schuld sind, wenn die Kinder spinnen und sich das Bedürfnis, analog Kontakt zu knüpfen, nicht über Schule, Uni oder Sportverein befriedigen lässt, sondern über etwas, was immerhin nicht halb so nervtötend ist wie das Gangnam-Gehopse von einst. Ein Trend, das ist ja immer auch der Drang, etwas Blödes zu machen, weil es alle machen, und laut Medienwissenschaft sind Pudding und Gabel blosser Zufall: «Es hätte auch eine Banane sein können, die man mit dem Messer isst»; oder eben ein Schokoriegel mit Besteck, und dass dem analogen Bedürfnis ein digitales Relais vorgeschaltet ist, macht den analogen Spass nicht wertlos, ist aber vielleicht doch eine Ironie.

Nichts auf der Welt kann bekanntlich eine Idee aufhalten, deren Zeit gekommen ist, und wie zwecklos war da der Einspruch meiner Zweifelsfall-Duden-Ausgabe von 1985, der Gebrauch von «Genau!» als Ausdruck der Zustimmung sei «nicht zu empfehlen». Heute ist es so, dass Sprache sofort zusammenbrechen würde, würde «Genau!» als Ausdruck von Zustimmung verboten, zumal «genau» längst auch ein populäres Füllwort ist. Würde ich also eine Zwanzigjährige fragen, ob die Corona-Einschränkungen dafür verantwortlich sind, dass sie heute ein derart starkes Bedürfnis nach physischer Begegnung hat, dass sie dafür sogar Pudding mit der Gabel isst, würde sie vermutlich antworten: «Genau!», und den Satz mit der Zeit und der Idee – fälschlich, wie das Internet weiss, Victor Hugo zugeschrieben – hat jetzt die FAZ über einen Leitartikel gesetzt, der den Vormarsch des Faschismus als Folge des «Wokeismus» beschreibt.

Vielleicht ist aber der neue (und ja immer so alte) Faschismus bloss einer, der darauf beruht, dass das Internet Sachen sagen kann, die dann einfach geglaubt und gemacht werden, und also hat der «Tagi» wieder recht, wenn er schreibt: «Der Event erscheint banal und tut doch gut», und die Leute mit den Hemmungen, im Sozialen wie darin, in aller Öffentlichkeit Törichtes zu tun, dürfen wieder zu Hause bleiben und allein alle Folgen «Seinfeld» schauen; genau. «Vor allem der High-Protein-Pudding von Coop wurde gegabelt», verrät eine Bildunterschrift, womit sich der Kreis erfreulich schliesst: Denn nur in einer Welt, die unschuldigsten Nachtisch zum Selbstoptimierungs-Superfood verunedelt, werden Menschen ihn auf Zuruf mit einer Gabel essen; dass sie, wie das Foto zeigt, aus Plastik ist: umso schöner.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.