Wichtig zu wissen: Stimmen im Alter

Nr. 42 –

Ruedi Widmer über Verkehrspolitik, Demokratie und alte Leute

Diesen Artikel hören (4:17)
-15
+15
-15
/
+15

Basels Schienenverkehr hat bei der neuen Verkehrsanalyse des Bundesrats keine Priorität, weil Verkehrsminister Albert Rösti genau weiss, dass Basel deswegen nicht zu Deutschland wechseln wird.

Der bundeseigene Härdöpfler (SVP) entscheidet mit seinem zusammen mit der ETH entwickelten Verkehrskonzept gleich selber am Schreibtisch über Strasse und Schiene und realisiert nun hier das und dort jenes – teilweise entgegen Volksentscheiden wie zum Beispiel in St. Gallen. Weil es einfacher ist und sich ohnehin nicht alle Volksflausen bezahlen lassen, über die mal irgendwann irgendwo abgestimmt wurde. Je länger überdies ein Volksentscheid zurückliegt, desto weniger Leute erinnern sich ganz physisch gesehen daran, und dann fällt manches auch einfach aus der Zeit. Und wenn man alle Stimmbürger:innen nimmt, die vor Jahren Ja zu Schienenvorlagen stimmten, die ab heute gerechnet erst noch gebaut werden müssen, und davon die inzwischen Verstorbenen abzieht, dann können sich Volksentscheide durchaus plötzlich ins Gegenteil verkehren, weil bei den Nein-Stimmenden vielleicht weniger Leute verstorben sind. Wir bauen ja nicht Eisenbahnen für Verstorbene, sondern den heutigen und vor allem den in Zukunft nicht mehr ideologisch abgetriebenen Autofahrer:innen neue Strassen.

Wer zählt demokratisch die verstorbenen Stimmen? Niemand. Ein Systemfehler. Relevant wäre eigentlich, über etwas abzustimmen, es dann zu bauen und – kurz bevor es fertig ist – die dann noch lebenden Stimmbürger:innen nochmals zu befragen, ob man es eröffnen oder wieder abbrechen soll. Der Faktor Mensch wird einfach zu wenig eingerechnet in der Demokratie. Denn wenn die Leute konkret sehen, für was sie abgestimmt haben, ändern viele ihre Meinung. Das sollte Relevanz haben, sonst richten wir uns bei unseren zeitlich langen Prozessen von Idee, Abstimmung und Umsetzung immer nach der Vergangenheit und machen Politik für nicht mehr Lebende.

Ein Projekt wie etwa die Neat kann von der Abstimmung bis zur Eröffnung gut und gerne achtzehn Jahre dauern. Der Rückbau würde dann wieder zehn Jahre gehen. Aber die Demokratie wäre so «sauberer» als heute und die Kritik an ihr von den stets Unzufriedenen weniger. Die Stimmenden werden durch den Tunnel gefahren, und nachher gibts eine Kundenbefragung: Hat es Ihnen gefallen? Ja oder nein? Man könnte diese zweigeteilte Volksbefragung auch «Anstimmung» und «Abstimmung» nennen.

Die Politologin Rahel Freiburghaus löste eine Kontroverse aus, weil sie über eine Altersbegrenzung für das Stimm- und Wahlrecht nachdachte. Immer mehr alte Menschen übertrumpfen immer weniger junge Menschen. Doch warum stimmen alte Menschen angeblich weniger zukunftsorientiert ab als junge?

Das Problem, scheint mir, liegt auch darin, dass wir schon sehr früh zu viel Neues dürfen und später nichts mehr, was die Menschen träge machen kann und ideologisch festzurrt. Deshalb stimmen alte Leute nur noch gewohnheitsmässig und oft konservativ ab. Dürfte man aber erst im Alter von zum Beispiel sechzig Jahren abstimmen, würde man sich das ganze Leben darauf freuen. Die Energie und die Hoffnung, die junge Menschen entwickeln, bis sie endlich achtzehn werden, um Auto fahren zu dürfen, sind enorm. Diese Sehnsucht und Vorfreude kann verlängert werden, also etwa Altersfreigabe von Filmen mit Gewaltdarstellungen erst mit dreissig, Sex mit vierzig, Berufslehre/Studium mit fünfzig, Stimm- und Wahlrecht mit sechzig, Handy mit siebzig und Autofahren mit achtzig. Es ginge uns allen besser, weil wir das ganze Leben lang eine Perspektive hätten und im Kopf jung blieben.

(Für die Perspektive der Schweizer Demokratie ist bei der SRF-Abstimmung ausnahmsweise auf eine möglichst grosse Teilnahme von über Achtzigjährigen zu hoffen.)

Ruedi Widmer darf mit 52 bereits Kolumnen schreiben.