Bundesrat: Der unheimliche Wille zur Macht

Nr. 34 –

Vom Wolfsabschuss bis zum Kampfjet: Seit einigen Jahren häufen sich die Fälle, in denen sich die Landesregierung über demokratische Prozesse hinwegsetzt. Hat der Bundesrat ein Demokratiedefizit?

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Symbolbild: eine Hand platziert Atomkraftwerke und Kampfjets auf einer Schweizer Landeskarte
Eine Schweiz, wie sie Albert gefällt: Röstis Missachtung demokratischer Gepflogenheiten fällt auf.

Das jüngste Beispiel stammt von letzter Woche, als der Bundesrat seine Antwort auf die «Blackout-Initiative» verabschiedete. Der Bundesrat fordert exakt dasselbe wie die Initiant:innen selbst, nur nicht auf Verfassungsebene, sondern per Gesetz: die Aufhebung des Neubauverbots von Atomkraftwerken. Der indirekte Gegenvorschlag ist ein Geschenk an die AKW-Freund:innen. Die Chancen für eine Abschaffung des Verbots – im Parlament und bei einer Volksabstimmung – sind gerade erheblich gestiegen.

Dabei besteht das Verbot seit gerade einmal acht Jahren. 2017 haben in einer Volksabstimmung über 58 Prozent Ja gesagt zur Energiestrategie 2050 – und damit zu einem Verbot neuer AKWs. Dieses Ergebnis will Energieminister Albert Rösti (SVP), einst selber eifriger Atomlobbyist, nun kippen – obwohl sich eine Mehrheit der Kantone, der Städteverband, die Umweltorganisationen sowie manche Wirtschafts- und Elektrizitätsverbände gegen die Aufhebung des Verbots ausgesprochen hatten. Dies im Rahmen einer Vernehmlassung, die eigentlich sämtlichen «interessierten Kreisen» eine frühzeitige Mitsprache einräumen will.

Es fällt schwer, den Sinn hinter Röstis AKW-Zwängerei zu erkennen. Anfang Juli publizierte die Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT) eine Studie zu den «Perspektiven für die Kernenergie in der Schweiz»: Selbst bei einer Aufhebung des Neubauverbots ist die Inbetriebnahme eines neuen AKW in der Schweiz demnach nicht vor 2050 realistisch – allein schon aufgrund des langwierigen politischen Prozesses dorthin. Zunächst müssten ein Subventionierungsgesetz (ohne staatliche Investitionen ist ein Neubau gemäss der SCNAT unmöglich) sowie Rahmen-, Bau- und Betriebsbewilligungen durchkommen. Hinzu käme eine Bauzeit von rund acht Jahren.

Warum also diese Anstrengung, wenn frühestens in einem Vierteljahrhundert ein neues AKW zur Stromproduktion bereitstünde? Zwei Motive sind denkbar: Entweder will Rösti damit den Ausbau der erneuerbaren Energien, der erst im Juni 2024 an der Urne überdeutlich beschlossen wurde, torpedieren. Oder der Energieminister wäre bereit, das Neubauprozedere mit autoritären Winkelzügen abzukürzen. Beides wäre demokratiepolitisch mindestens fragwürdig.

Röstis Wille zur Missachtung demokratischer Gepflogenheiten trat schon zuvor wiederholt zutage. Als Umweltminister drückte er eiligst eine Jagdverordnung durch, die den Abschuss ganzer Wolfsrudel erlaubt – ohne Vernehmlassung und gegen die Einwände mehrerer Bundesämter. Als Medienminister veranlasste er die Senkung der SRG-Gebühren von heute 335 auf 300 Franken pro Haushalt – ebenfalls auf dem Verordnungsweg, als Antwort auf die SVP-«Halbierungsinitiative», in deren Komitee er einst selber sass.

Ab auf die Verordnungsebene

Mit Verordnungen kann der Bundesrat an Parlament und Stimmbevölkerung vorbei relativ eigenmächtig agieren. Das mag sinnvoll sein, um bei der Umsetzung von Gesetzen die komplexen Details vom politischen Parkett zu holen und in den Departementen praktikable Lösungen zu erarbeiten. Und in Krisensituationen lässt sich argumentieren, dass eine Exekutive Handlungsspielraum braucht, den nur die Verordnungsebene bietet. Beides ist aber weder beim Wolf noch bei der SRG-Kürzung gegeben. Stattdessen reizt der Bundesrat in diesen Fällen seine Machtkompetenzen eigenmächtig maximal aus.

Es wäre verfehlt, dabei allein auf Rösti zu zeigen. So gab im Frühjahr SP-Justizminister Beat Jans bekannt, die Revision zur Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs per Verordnung durchsetzen zu wollen. Diese will die verschlüsselte Onlinekommunikation im Internet aushebeln. Noch ist offen, ob der Bundesrat dem Justizminister folgt.

Und dann ist da natürlich der Kauf der F-35-Kampfjets. Nachdem der Bund über Jahre hinweg behauptet hatte, es gebe einen Fixpreis von 6 Milliarden Franken für die 36 Flugzeuge, stellte sich mittlerweile heraus, dass Mehrkosten von bis zu 1,3 Milliarden anstehen. Der Bundesrat war auf seine eigene, von teuren Anwaltskanzleien beglaubigte Fiktion eines Fixpreises hereingefallen.

Ein Mandat der Stimmbevölkerung für diese Mehrkosten gibt es nicht. Und wird es auch kaum je geben: Gerade einmal 8681 Stimmen gaben im September 2020 den Ausschlag, als noch nicht über einen konkreten Kampfjettyp, sondern lediglich über den mittlerweile überholten Kostenrahmen abgestimmt wurde. Mit demokratischen Gepflogenheiten hat die Kampfjetbeschaffung auch sonst wenig zu tun: Obwohl 2022 100 000 beglaubigte Unterschriften für die Volksinitiative «Stopp F-35» vorlagen, unterzeichnete der Bundesrat im Monat darauf den Kaufvertrag – und machte die Abstimmung damit hinfällig.

In der Repräsentationslücke

Hat der Bundesrat also ein Demokratiedefizit? «So pauschal lässt sich das nicht behaupten», sagt Politologin Rahel Freiburghaus, Assistenzprofessorin an der Uni Lausanne. Die Demokratietheorie sei ein weites Feld, und so liessen sich darin auch Positionen finden, die das machtbewusste Vorgehen des Bundesrats durchaus rechtfertigten. Aber sie stimmt zu: «Die kontroversen Fälle kommen in letzter Zeit in einer gewissen Kadenz.»

Ganz nüchtern betrachtet, lässt sich festhalten: Dieser Bundesrat ist offensichtlich bestrebt, sich das Regieren nicht zu sehr von demokratischen Prozessen verkomplizieren zu lassen. Das ist insbesondere angesichts der aktuellen Zusammensetzung frappant: Vier von sieben Magistrat:innen gehören den rechtsbürgerlichen Parteien SVP und FDP an, die bei den letzten Nationalratswahlen zusammen nur 42,2 Prozent Wähler:innenanteil erreichten. Angesichts dieser Schieflage hat deren Powerplay auch etwas von einer Brechstangenpolitik.

Aber auch ungeachtet der Parteizugehörigkeiten gehöre es zur Natur jeder repräsentativen Demokratie, dass sich zwischen Bevölkerung und gewählten Vertreter:innen ein gewisser Graben auftue, sagt Freiburghaus. Diese «Repräsentationslücke» zeigt sich in der Schweiz allein schon in der extremen Übervertretung etwa von Akademikerinnen und Immobilienbesitzern im Parlament. Und gemäss Studien würden die Parlamentarier:innen ihre eigene Wähler:innenbasis auch noch als wesentlich konservativer einschätzen, als sie es tatsächlich sei, sagt Freiburghaus. Unter dem Strich gebe es in Bundesbern deshalb einen «Reichen- und Konservatismusbonus».

Mit Volksabstimmungen und Referenden verfügt die Schweiz über ein relativ einzigartiges Instrument, um diese Lücke ansatzweise zu überbrücken. Da sei es besonders fatal, wenn genau dieses seine Wirkung verfehle, sagt Freiburghaus. Auch dazu gab es jüngst besorgniserregende Signale, wiederum von Albert Rösti, diesmal als Verkehrsminister: Auf das Nein zum Autobahnausbau im November reagierte er, indem er eine Studie zu geplanten Verkehrsinfrastrukturprojekten in Auftrag gab – und kurzerhand auch die Bahninfrastruktur in die Evaluationsmasse packte. Mehrere der verworfenen Autobahnausbauten seien zudem «erneut zu überprüfen», so Rösti. «Hier liesse sich tatsächlich ein Demokratiedefizit verorten», sagt Freiburghaus. «Wenn der Bundesrat ein Abstimmungsergebnis gewissermassen als Schuss vor den Bug versteht und nicht als Auftrag für eine Politik, die sich an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert.»

Mal wieder Krisenmodus

Der aktuelle Bundesrat ist freilich nicht der erste mit grossem Machtanspruch. Die Vollmachten etwa, die der Regierung im Zweiten Weltkrieg zugesprochen wurden, mussten ihr 1949 per Volksabstimmung wieder entzogen werden. Auch in der Schweiz schlägt in Krisenzeiten bekanntlich die Stunde der Exekutive – man denke etwa an die Pandemiejahre. Die «besondere Lage» beendete der Bundesrat im Frühling 2022 jedoch aus freien Stücken wieder.

Auch in diesen Tagen befindet sich das Land im Krisenmodus, seit es mit dem Zollgebaren von US-Präsident Donald Trump konfrontiert ist. Schon im April offenbarte sich die bundesrätliche Bereitschaft, demokratische Prozesse unter den Teppich zu kehren, um dem Egomanen in Washington nicht zu missfallen – indem etwa eine längst angekündigte Vorlage zur Onlineplattform-Regulierung erneut auf Eis gelegt wurde. Und als sich dann vor drei Wochen zeigte, wie wenig Trump von der Schweiz beeindruckt ist, griff man zum nächsten Hebel: pure Marktmacht, verkörpert von einer Handvoll Wirtschaftsbossen, die über ein geheimes «attraktiveres Angebot» der Schweiz mitberaten durften. Die demokratische Öffentlichkeit muss also warten – während im Moment der grössten Kopflosigkeit auf den Reichenbonus einmal mehr Verlass ist.