Prozesse im Budapest-Komplex: Politische Härte am Gericht

Nr. 43 –

In den nächsten Wochen beginnen in Deutschland weitere Verfahren gegen Antifaschist:innen. Die Bundesanwaltschaft erhebt den Vorwurf des versuchten Mordes – auch wenn Ungarn diesen längst hat fallen lassen.

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Am Ende wird Hanna S. wegen gefährlicher und versuchter gefährlicher Körperverletzung sowie Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu fünf Jahren Haft verurteilt. Das Obergericht in München ist überzeugt, dass die Dreissigjährige im Februar 2023 an zwei Überfällen auf Rechtsextreme in Budapest beteiligt war. 32 Verhandlungstage hat der Strafsenat getagt und abgewogen. Letztlich war er sich sicher, S. auf Überwachungsaufnahmen aus der ungarischen Hauptstadt zu erkennen. Ihre Anwälte haben Revision angekündigt.

Der Schuldspruch gegen Hanna S. von Ende September ist das erste deutsche Urteil im «Budapest-Komplex». Dieser beschreibt die Angriffe auf Neonazis und Rechtsextreme am «Tag der Ehre», einem wichtigen Vernetzungstreffen für Rechtsextreme im Februar 2023, und die damit verbundenen Gerichtsprozesse gegen mehrere Antifaschist:innen. Anfang November müssen sich sieben Personen wegen der Taten in Budapest vor dem Oberlandesgericht (OLG) in Dresden verantworten. Aber nicht nur deswegen.

«Spyle – Most Wanted»

Die Bundesanwaltschaft wirft den Angeklagten im Dresdner Verfahren die Mitgliedschaft in einer linksextremen kriminellen Vereinigung beziehungsweise deren Unterstützung vor. Sie sollen sich «dadurch unter anderem – in wechselnden Besetzungen – ausserdem der gefährlichen Körperverletzung, des versuchten Mordes, der Sachbeschädigung, der Urkundenfälschung und des versuchten gefährlichen Eingriffs in den Strassenverkehr schuldig gemacht haben», schreibt das OLG Dresden in einer Pressemitteilung.

Der bekannteste Beschuldigte dürfte Johann G. sein, der sich in Graffitikreisen als «Spyle» einen Namen gemacht hat. Die Ermittlungsbehörden hatten europaweit nach ihm gesucht, ehe sie ihn eher zufällig im November 2024 in einem Regionalzug in Thüringen festnahmen. Bis dahin hatte G. sie immer wieder damit genarrt, dass er an prominenten Stellen Graffitis malte, die Botschaften enthielten wie «Most Wanted» – am meisten gesucht. Er ist der Verlobte von Lina E., die im Mai 2023 vom OLG Dresden zu einer Haftstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt worden war. Auf dem Höhepunkt des Verfahrens gegen Lina E. rollte eine S-Bahn mit seinem Graffitinamen und dem Zusatz «Catch me if you can» durch Leipzig – fangt mich, wenn ihr könnt.

Überfälle im Osten Deutschlands

Neben den Taten in Budapest wird es im neuen Dresdner Verfahren auch um Vorwürfe gehen, die bereits gegen Lina E. erhoben worden waren: Im Zentrum stehen Angriffe auf bekannte Rechtsextremisten in Sachsen und Thüringen, die sich zwischen 2018 und 2020 zugetragen haben sollen. Unter anderem Überfälle auf den Eisenacher Leon Ringl im Oktober und Dezember 2019 sowie ein Angriff am Bahnhof in Wurzen im Februar 2020, bei dem mehrere Teilnehmer des rechtsextremen Gedenkens an die Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg angegriffen worden waren.

Hinzu kommen weitere Taten, die die sieben Angeklagten in unterschiedlicher Besetzung begangen haben sollen. Darunter der Überfall auf Neonazis aus Sachsen-Anhalt, die im Januar 2019 nach ihrer Rückkehr vom rechtsextremen Gedenken an die Bombardierung Magdeburgs im Zweiten Weltkrieg am Bahnhof Rosslau, einer Gemeinde in der Stadt Dessau, schwer verletzt worden waren. Oder der Überfall auf zwei Personen aus dem Umfeld der rechtsextremen «Neue Stärke Partei», die im Januar 2023 in Erfurt auf dem Weg zur Arbeit angegriffen und ebenfalls schwer verletzt worden waren.

Die Bundesanwaltschaft wertet das Geschehene in den Fällen Leon Ringl und Wurzen als versuchten Mord und hat Johann G. sowie im Fall Dessau-Rosslau Tobias E. unter diesem Vorwurf angeklagt. Sie stützt sich dabei auf Indizien und Aussagen des Kronzeugen Johannes D. Dieser kommt ursprünglich aus dem Umfeld der Angeklagten und wurde ebenfalls beschuldigt, entschied sich aber im Mai 2022 in der Hoffnung auf Straferleichterung zur Zusammenarbeit mit den Behörden. Der Bundesverfassungsschutz hatte den Kronzeugen vor seiner Überstellung an das Landeskriminalamt Sachsen mutmasslich nach Basel gebracht, um dort mit den Behörden zu beraten, ob sich der gesuchte Johann G. womöglich in der Schweiz aufhalte. Ergebnislos, wie sich später zeigte.

Verfahren in Düsseldorf

Ein weiteres grosses Verfahren wird am Oberlandesgericht Düsseldorf stattfinden, wo sechs weitere Antifaschist:innen im Budapest-Komplex angeklagt sind, von denen vier zur Tatzeit zwischen achtzehn und zwanzig Jahre alt waren. Sie waren zunächst abgetaucht, hatten sich aber zu Jahresbeginn der Polizei gestellt und sitzen seitdem in Haft. Auch hier lautet der Vorwurf der Bundesanwaltschaft auf versuchten Mord. Eine Sprecherin des OLG Düsseldorf sagt, das Verfahren sei noch nicht eröffnet worden, zunächst würden die Termine mit der «Vielzahl von Verteidigern» abgestimmt.

Erkan Zünbül ist einer von ihnen. Er vertritt einen in Düsseldorf angeklagten Antifaschisten und hatte bereits Lina E. vertreten. Er kritisiert, dass der gewählte Gerichtsstand in Düsseldorf «jeder sachlichen Grundlage entbehrt und in keinem erkennbaren Zusammenhang mit dem Verfahren steht». Es sei insbesondere für so junge Angeklagte unzumutbar und rechtlich höchst fragwürdig, sie Hunderte Kilometer von ihrem Wohnort und ihrem sozialen Umfeld zu entfernen. Diese Entkopplung erschwere nicht nur die Verteidigung erheblich, sagt Zünbül, sondern verletze in ihrer Wirkung auch das Prinzip eines fairen Verfahrens.

Das OLG Düsseldorf begründet den Verhandlungsort damit, dass sich die Bundesanwaltschaft bei der Anklageerhebung am «Ergreifungsort» der Beschuldigten orientiert habe: Zwei von ihnen hatten sich in Nordrhein-Westfalen den Behörden gestellt.

Fallen gelassener Vorwurf

Damit erschöpft sich die Kritik des Strafverteidigers an der Bundesanwaltschaft allerdings nicht. Deren Vorgehensweise offenbare «ein alarmierendes Mass an politischer Härte gegenüber jungen Antifaschistinnen und Antifaschisten». Die gebotene rechtsstaatliche Verhältnismässigkeit werde durch eine unverhältnismässig harte Strafverfolgung ersetzt, die vor allem auf Einschüchterung ziele, erklärt der Leipziger Anwalt weiter.

«Dass bereits drei Gerichte – darunter sogar eines in Budapest – den Vorwurf des versuchten Mordes verworfen haben und die Bundesanwaltschaft dennoch unbeirrt an dieser Anklage festhält, zeugt von einer gefährlichen Missachtung rechtsstaatlicher Grenzen und einer erschreckenden Unbelehrbarkeit», sagt Zünbül.

Unterdessen soll auch das Schicksal zweier weiterer Beschuldigter im Budapest-Komplex nicht vergessen werden: Zaid A. hatte sich im Januar in Frankreich den Behörden gestellt, wo ein Richter entschied, dass er nicht nach Ungarn ausgeliefert werden soll. Da sich die deutschen Behörden aber nicht für den 21-Jährigen zuständig fühlen, weil er keinen deutschen Pass hat, droht ihm weiterhin die Auslieferung. Und Maja T. befindet sich noch immer in Untersuchungshaft (siehe WOZ Nr. 45/24). Die lange Isolationshaft sei «schwer zu ertragen», sagt Maja T.s Vater Wolfram Jarosch. Die Haft sei bis zum Urteil verlängert worden. Dieses soll den Angaben Jaroschs zufolge am 22. Januar fallen.