Ein Traum der Welt: Schiller für Ansprachen

Nr. 44 –

Annette Hug sitzt im Publikum

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Dass José Rizal 1886 den «Wilhelm Tell» von Friedrich Schiller ins Tagalog übersetzte, war für offizielle Redner:innen an der Frankfurter Buchmesse ein gefundenes Fressen. Bei der Eröffnung sagte der Direktor: «Worte, die in Europa entstanden, gaben in Asien Hoffnung und Richtung.» Na ja. Das Publikum stand noch unter dem Eindruck des ersten musikalischen Beitrags. Sänger:innen eines Chors bildeten einen Halbkreis um eine runde, kleine Matte. In der kompletten Stille stieg eine kleine alte Frau grazil auf die Bühne und setzte sich. Ein erster Ruf ging in beschwörenden Gesang über, das Publikum war gebannt. Rosie Godwino Sula gehört zu den Ältesten der T’boli auf der Insel Mindanao und wird vom Staat dafür gefördert, den traditionellen Gesang des Tudbulul-Epos weiterzugeben.

Der hessische Minister für Kultus, Bildung und Chancen, Armin Schwarz, erzählte die Geschichte eines afghanischen Mädchens, das dank der hessischen Volksschule ihre eigene Stimme entdeckt habe. Er feierte die «Freiheit, jemand zu werden» als Errungenschaft von achtzig Jahren Hessen. Im Hintergrund blendete die Regie ein Bild der hessischen Verfassung von 1946 ein. Darauf war zu sehen, dass die US-amerikanische Verfassung Teil des Dokuments war. Ging es auch hier um die stolzen Errungenschaften der damaligen Besatzungsmacht?

Auf den Auftritt des Staatsministers für Kultur und Medien, Wolfram Weimer, freuten sich wenige. Er ist mit einem konservativen Programm (Kampf dem Gendern) und einem interventionistischen Stil angetreten. Kurz zuvor hatte er mit scharfer Kritik an einem T-Shirt des Rappers Chefket Schlagzeilen gemacht. Auf dem Shirt war eine Landfläche für Palästina eingezeichnet, auf der kein Israel mehr erkennbar war. Jan Böhmermann lud den Rapper daraufhin aus einer Show aus. Solche Interventionen befürchtete ich für den philippinischen Stand, zum Glück wurde aber nichts gestoppt.

Medial gab es kaum Aufmerksamkeit dafür, dass sich philippinische und palästinensische Autor:innen im philippinischen Pavillon darüber unterhielten, wie ein Land, aus dem man vertrieben wurde, in Literatur weiterlebt, wie es angerufen und beschworen wird. Als die Journalistin Patricia Evangelista, Autorin einer Reportage über Rodrigo Dutertes Krieg gegen Drogen («Some People Just Need Killing», 2025), auf einer prominenten Bühne statt ihren eigenen Text die letzten Nachrichten getöteter Journalist:innen aus Gaza vorlas, gab es heftigen Applaus. Da schien etwas in Bewegung.

Bei der Messeeröffnung kam auch Senatorin Loren Legarda kurz auf Schiller zurück. Erholsam uneitel und rätselhaft war zwei Wochen später die Rede der Stadtpräsidentin von Zofingen. Zur Eröffnung von Literaturtagen, die philippinischer Literatur eine Bühne boten, erinnerte sich Christiane Guyer an ein Kinderspiel. Wer in einer Mandel nicht eine, sondern zwei Nüsse findet, ruft: ­«Philippines!»

Hélène Cixous hat 2009 ein Buch mit diesem Titel geschrieben, es geht vom selben Spiel aus. Das beginnt mit deutschen Wörtern: «Viel Lieb» – zwei kuscheln in einer Höhle. Französisch ausgesprochen wird das «Phil-lip», die Liebenden sind also «Philippines». Wäre das ein Weg, um den Politiker im Namen des Landes – den spanischen König Philipp II. – loszuwerden?

Annette Hug ist Übersetzerin und Autorin in Zürich. Der Auftritt von Rosie Godwino Sulo sowie diejenigen der Lyrikerinnen Merlie Alunan, Marjorie Evasco und Mookie Katigbak Lacuesta sind auf einer Videoaufnahme der Eröffnungsfeier der Frankfurter Buchmesse 2025 auf Youtube zu sehen.