Tanz: «Pause ist auch eine Form der Bewegung»

Nr. 44 –

Die schottische Choreografin Claire Cunningham, die mit Krücken tanzt, hat eine eigene Sprache entwickelt – körperlich, politisch, poetisch. Ein Gespräch über Behinderung als Kraftraum und die Kunst, während der Vorstellung auszuruhen.

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Claire Cunningham in ihrer jüngsten Produktion­ «Songs of the Wayfarer»
«Mein Körper ist der Ausgangspunkt für alles»: Claire Cunningham in ihrer jüngsten Produktion­ «Songs of the Wayfarer».  Foto: Tale Hendnes, Dansens Hus

WOZ: Claire Cunningham, Sie haben zu einem Zeitpunkt mit Tanz begonnen, an dem andere gefühlt schon in Rente gehen – als Erwachsene. Und auch: als jemand mit einer körperlichen Behinderung.

Claire Cunningham: Ja, ich war Ende zwanzig. Ich war schon länger im Kunst- und Kulturmilieu verwurzelt und fragte mich damals: Ich will tanzen, aber muss ich das jetzt wirklich alles noch so lernen, wie es alle anderen schon gelernt haben? All diese Techniken, die alle anderen um mich herum bereits in jungen Jahren studiert haben. Ich habe mit vielen Menschen gearbeitet, die Tanz an Universitäten studiert hatten, die hatten alle eine gemeinsame Sprache. Ich dachte: Soll ich das auch tun, um dazuzugehören? Ich habe es kurz versucht – aber schnell gemerkt: Diese Tanztechniken wurden alle für nichtbehinderte Körper entwickelt. Sie sind codiert. Und sie sind nicht für mich gemacht.

WOZ: Sie haben es dann trotzdem zuerst auf konventionellem Weg versucht.

Claire Cunningham: Ja. Und es war extrem anstrengend herauszufinden, was ich da eigentlich tun sollte. Links, rechts, drehen, springen – all das war mit enormem Kraftaufwand verbunden. Schon für Körper ohne Behinderung ist das ein Kraftakt, für mich war das nochmals eine andere Welt. Ich musste die Intention hinter der Bewegung entschlüsseln, nicht nur die Abfolge imitieren. Dann kam die Erkenntnis: Vielleicht wäre es besser herauszufinden, wie sich mein eigener Körper bewegt. Ich hatte bereits mein eigenes Bewegungsrepertoire. Ich musste es nur ernst nehmen.

WOZ: Was hat Ihnen geholfen, auf Ihren eigenen Stil zu vertrauen?

Claire Cunningham: Ich hatte Glück, mit Menschen wie Jess Curtis oder Bill Shannon zu arbeiten. Sie haben mich ermutigt, auf meinen Körper zu hören. Ich erinnere mich, wie ich in einer Probenpause einfach so auf meinen Krücken balancierte – nicht als Teil der Choreografie, sondern beiläufig. Jess sah das und sagte: «Mach das noch mal.» Es war das erste Mal, dass mir jemand zeigte, dass mein Körper bereits etwas kann. Dass meine Bewegungen Bedeutung haben.

WOZ: Gab es noch weitere ähnliche Momente?

Claire Cunningham: Ich erinnere mich an einen Workshop mit professionellen, nichtbehinderten Tänzer:innen, das ist schon Jahre her. Ich zeigte ihnen damals ein paar Bewegungen mit Krücken, und sie hatten am nächsten Tag alle schrecklichen Muskelkater. Und ich weiss noch, wie ich dachte: Wow, echt? Das, was für mich normal ist, ist für andere ein Kraftakt? Ich begriff: Mein Körper ist stark. Ich habe Koordination, Kraft, Balance – und eine tiefe Vertrautheit mit den Krücken als Erweiterung meines Körpers. Ich hatte nur nie gelernt, das als Wissen oder Virtuosität zu sehen.

WOZ: Gab es auch eine emotionale Kehrtwende?

Claire Cunningham: Definitiv. In meiner Jugend war ich voller Ablehnung gegenüber Behinderungen – und auch mir selbst gegenüber. Ich wollte nichts damit zu tun haben. Ich kannte keine anderen behinderten Kinder. Und die Gesellschaft brachte mir bei, dass es nicht erstrebenswert ist, behinderte Menschen zu kennen. Ich war genauso ableistisch wie mein Umfeld. Erst viel später, in meinen Dreissigern, habe ich andere behinderte Menschen kennengelernt und diese tiefe Gemeinschaft gespürt. Mit ihr kam eine späte Befreiung.

WOZ: Wie beeinflusst Ihr Körper Ihre Kunst heute?

Claire Cunningham: Er ist der Ausgangspunkt für alles. Ich arbeite viel mit der Frage: Wo geht unsere Aufmerksamkeit hin? Was sehen wir? Was nehmen wir wahr? In einem frühen Stück sagte ein Probenleiter zu mir: «Du musst den Kopf heben. Das Publikum muss dein Gesicht sehen.» Aber für mich war klar: Das ist nicht sicher. Ich muss den Boden sehen. Diese Aufmerksamkeit nach unten, dieses permanente Scannen, ist choreografisch geworden. Es wurde zu einer ästhetischen Qualität.

WOZ: Gibt es auch eine spirituelle Dimension in Ihrer Arbeit?

Claire Cunningham: Ja, vielleicht. Ich würde es nicht unbedingt religiös nennen, aber es gibt Momente, in denen mein Körper zu etwas Grösserem wird. Wenn ich tanze, verliere ich manchmal das Gefühl für meine Grenzen – nicht im Sinne von Erschöpfung, sondern im Sinne von Auflösung. Dann bin ich ganz da, ganz in der Bewegung, ganz im Moment. Das ist eine Art Präsenz, die sehr tief geht.

WOZ: Sie sagen, Behinderung hat ihre eigene Weisheit. Wie muss man das verstehen?

Claire Cunningham: Nehmen wir das Thema Energie als Beispiel: Ich muss haushalten, rationieren, priorisieren. Mein Körper hat nicht für alles Kraft und Energie. Das betrifft den Alltag, aber auch die Kunst. Wie viel kann ich heute leisten? Wie viel morgen? Ich habe Stücke entwickelt, in denen das Sounddesign offen ist, damit ich flexibel mit meiner Energie umgehen kann. Und ich habe gelernt: Man darf auch mitten in der Vorstellung ausruhen.

WOZ: Sie ruhen sich mitten in der Vorstellung aus? Das ist ungewöhnlich.

Claire Cunningham: Ja. Ich tanze doch, ich verausgabe mich. Das ist erschöpfend. Früher ging ich für die Pausen immer hinter die Bühne, doch irgendwann dachte ich: Das Ruhen gehört doch genauso zum Tanz dazu. Also mache ich das Ausruhen zu einem Teil der Inszenierung. Dann sitze ich auf der Bühne und atme ruhig, ruhe mich aus. Und gebe damit auch dem Publikum die Erlaubnis, auszuruhen.
 

Claire Cunningham

Die Choreografin und Performerin Claire Cunningham wurde mit Osteoporose (Knochenschwund) geboren, sie tanzt daher mit Krücken. Die in Glasgow lebende Künstlerin hat sich sowohl mit Solo- also auch Ensembleproduktionen international einen Namen gemacht, die Arbeiten der 1977 geborenen Schottin beruhen nicht zuletzt auf der gelebten Erfahrung von Behinderung.

Vergangenes Jahr feierte Cunninghams jüngste Soloproduktion «Songs of the Wayfarer» Premiere. Mit ihr ist sie derzeit international auf Tour und am 31. Oktober und 1. November in Bern (Dampfzentrale, 20 Uhr) sowie am 7. und 8. November in Zürich (Gessnerallee, 20 Uhr) zu sehen.

Claire Cunningham
Foto: Sven Hagolani

WOZ: Warum ist das wichtig?

Claire Cunningham: Theater ist Arbeit für beide Seiten. Ich will ein anderes Tempo ermöglichen, eine andere Art des Daseins. Mein Körper diktiert mir das. Ich kann es nicht ignorieren. Und ich will es auch nicht. Kann das Publikum ruhen, hat es auch mehr Raum, zuzuhören, zu empfinden, zu reflektieren. Warum sollten wir nicht gemeinsam Atem holen? In einigen Stücken lade ich die Menschen bewusst dazu ein anzuhalten, durchzuatmen, einfach zu sein. Es geht nicht nur ums Sehen, sondern auch ums Spüren.

WOZ: Ein anderes Tempo, das Sie leben und mit dem Sie arbeiten.

Claire Cunningham: Ja, absolut. Und Tempo ist politisch. Wer sich langsamer bewegt, gilt in unserer Gesellschaft oft als schwach oder störend. Aber was ist, wenn dieses langsame Tempo mehr Wahrnehmung, mehr Tiefe, mehr Präsenz ermöglicht? Ich glaube, wir haben verlernt, auf die Geschwindigkeit unseres Körpers zu hören. In meiner Arbeit versuche ich, das zurückzuholen.

WOZ: Nicht ganz einfach in unserer Kultur, die besessen ist von Produktivität.

Claire Cunningham: Ja, wir wollen Kontrolle und Leistung. In diesem Kontext wird Behinderung schnell zum Störfaktor. So müsste es aber nicht sein. Wir framen es bloss so. Wir könnten lernen, anders zu denken: menschlicher, weicher. Vieles von dem, was ich in der Community erlebt habe, ist geprägt von Mitgefühl, Flexibilität, Empathie. Wenn eine Freundin absagt, weil ihr Körper nicht mitmacht, dann ist das eben so. Niemand muss sich entschuldigen. Es ist ein anderer Umgang mit Unplanbarkeit.

WOZ: Hat diese Unplanbarkeit Ihre Freundschaften verändert?

Claire Cunningham: Sie macht sie ehrlicher. Ich muss nicht performen. Ich muss nicht irgendwo auftauchen, wenn es mir nicht gut geht. Wir akzeptieren, dass Verlässlichkeit auch bedeuten kann, sich selbst ernst zu nehmen. Ich glaube, das schafft eine tiefere Verbindung. Es ist ein anderes Verständnis von Nähe.

WOZ: Was können wir als Gesellschaft von dieser anderen Art, zu leben, lernen?

Claire Cunningham: Dass Begrenzung nicht das Ende bedeutet, sondern der Anfang einer anderen Sprache sein kann. Dass Nichtmitmachen ein Wissen birgt. Dass Menschen mit Behinderung viel über Zeit, Raum, Energie und Kommunikation wissen. Dass Veränderung normal ist.

WOZ: Wenn wir von Veränderung sprechen, denken wir oft an grosse Verschiebungen.

Claire Cunningham: Ja, dabei findet Veränderung jeden Tag statt. Im Alltag. Ständig. Nehmen wir das Reisen als Beispiel. Für viele ist es selbstverständlich, spontan den Bus zu nehmen oder umzusteigen. Für mich bedeutet das: Wo ist der Einstieg? Gibt es Rampen? Muss ich weiter laufen als gedacht? Jede kleine Veränderung kann Auswirkungen haben. Ich habe gelernt, flexibel zu bleiben – aber auch, dass ich Dinge absagen darf. Dass mein Körper mir manchmal sagt: Heute nicht.

WOZ: Ist Behinderung für Sie heute ein Identitätskern?

Claire Cunningham: Ja. Aber nicht als Label, sondern als Erfahrungsraum. Es ist etwas, das mich geformt hat, in allem. In meinem Blick auf die Welt, meiner Kunst, meinen Beziehungen. Und auch in meinem Humor. Es ist ein Raum, in dem Verletzlichkeit und Stärke gleichzeitig existieren. Und aus dem heraus ich lebe.

WOZ: Was sollen die Besuchenden nach Ihrem aktuellen Stück «Songs of the Wayfarer» in die Welt mitnehmen?

Claire Cunningham: Ich hoffe, sie nehmen mit, dass Verletzlichkeit nicht Schwäche bedeutet. Dass es okay ist, langsamer zu sein, sich auszuruhen, sich umzusehen. Ich wünsche mir, dass sie anders durch die Stadt gehen – wacher vielleicht, aufmerksamer für das, was ihnen sonst entgeht. Und dass sie sich vielleicht selbst ein bisschen mehr erlauben, einfach zu sein.