«Book bans» in den USA: Der Auslöschung trotzen
Der Roots Bookstore in Miami ist ein Ort des Widerstands: gegen Trumps Angriffe auf Schwarze Kultur und Geschichte – und gegen die durchs Klima angetriebene Gentrifizierung der Stadt.
Ein tropisch warmer Oktoberabend in Miami im Süden des US-Bundesstaats Florida. Aus einer Garage im Stadtteil Liberty City schallt ein Song von Snoop Dogg: «Who Got Some Gangsta Shit?». Auf der Betonwand einer verlassenen Bushaltestelle ist das Konterfei des Schwarzen Bürgerrechtlers Martin Luther King aufgepinselt. Die Häuser sind flach, die Palmen hoch. Dazwischen liegt das Herzensprojekt von Isaiah Thomas: der Roots Bookstore.
«Die Regierung versucht, unsere Geschichte auszulöschen», sagt Thomas. «Aber das ist unmöglich – unser Buchladen ist eine ständige Erinnerung daran.» Er ist einer der Gründer des Ladens, arbeitet ausserdem als stellvertretender Schulleiter einer Primarschule im Norden von Miami. Manchmal kommt er noch spät am Abend mit seinen Kindern hierher. Inmitten all der Bücher komme er mit seiner Familie zur Ruhe. «In einer Zeit, in der alles einer immer stärkeren Kontrolle unterliegt, ermöglichen Bücher die Flucht in andere Welten», sagt Thomas. Florida wird seit 2019 vom republikanischen Gouverneur Ron DeSantis regiert. Er ist streng konservativ und verfolgt eine Bildungspolitik, die Inhalte zu Rassismus einschränkt.
Während des Interviews stellt eine Gruppe junger Musiker:innen ihre Verstärker vor den deckenhohen Bücherregalen auf. Sie spielen an der anschliessenden Veranstaltung eines Kollektivs, das kostenlose medizinische Hilfe auf den Strassen Miamis anbietet. «Lass uns das im Tiny-Desk-Stil aufbauen», sagt Thomas strahlend zu den Musiker:innen, in Anlehnung an ein bekanntes Videoformat des Radionetzwerks NPR.
Dannys Traum
Schwarze Geschichte und Initiativen für Diversität stehen in den USA unter Beschuss. Unter US-Präsident Donald Trump wurden Werke Schwarzer Autor:innen aus Schulbibliotheken entfernt; auch Bücher mit queeren Protagonist:innen werden zur Zielscheibe. Trump griff die Smithsonian Institution an, ein Forschungs- und Bildungsinstitut mit Sitz in Washington D. C., das mehr als zwanzig Museen betreibt, darunter das National Museum of African American History and Culture. Militärbasen sollen nach weissen Soldaten benannt werden, die für den Erhalt der Sklaverei kämpften. Am 19. Juni, Juneteenth, dem Tag, an dem die USA das 1865 proklamierte Ende der Sklaverei feiern, war es dieses Jahr still im Weissen Haus. Erst am Abend schrieb Trump auf seiner Plattform Truth Social, die USA hätten «zu viele arbeitsfreie Feiertage», die das Land «Milliarden von Dollar kosten».
Am selben Tag erfüllte sich Isaiah Thomas den Traum eines eigenen Buchladens. Vor dem Laden versammelten sich Dutzende Nachbar:innen und Unterstützer:innen, um die Eröffnung zu feiern. Als Thomas davon erzählt, sitzt er auf einer Couch im Buchladen, die vor einer bemalten Wand steht. Darauf zu sehen ist das Porträt eines jungen Mannes, voll tätowiert, mit einem T-Shirt, das an die Soledad Brothers erinnert. Die drei Afroamerikaner und Mitglieder der Black Panther Party wurden 1970 beschuldigt, einen Gefängniswärter getötet zu haben. Der Roots Bookstore ist nicht nur Thomas’ Herzensprojekt, er ist auch der posthum erfüllte Traum seines besten Freundes. Danny, dessen Porträt an der Wand des Ladens prangt, starb 2023 bei einem Autounfall.
Zwei Jahre später, im Sommer 2025, wühlte sich Dannys über siebzig Jahre alter Vater durch Kartons voller Literatur. In Chicago war er einst als «bookman» bekannt, verkaufte Bücher auf Festivals, war leidenschaftlicher Sammler. Danny wuchs in einem Kosmos voller Bücher auf. Mehr als die Hälfte der rund 4000 Bücher, mit denen der Roots Bookstore startete, gehörten Danny oder seinem Vater.
Verbannte Bücher zum Mitnehmen
Wenn Thomas an die Bücher denkt, die in seiner eigenen Jugend wichtig waren, erzählt er etwa von John Henrik Clarke, einem 1905 in Alabama geborenen Schwarzen Historiker, für Thomas’ Vater ein wichtiger Autor. Für Clarke war das Wissen über Schwarze Geschichte ein Weg, sich von weiss geprägtem Denken zu lösen. Mit achtzehn Jahren reiste er mit einem Güterzug nach New York City, um Schriftsteller zu werden und sich der Erforschung Schwarzer Kultur zu widmen. Er zog in den Stadtteil Harlem. An die Blütezeit afroamerikanischer Kunst und Literatur, die Bürgerrechtler wie W. E. B. Du Bois und Künstler:innen wie die Jazzsängerin Billie Holiday hervorbrachte und die bis in die dreissiger Jahre dauerte, wird bis heute als «Harlem Renaissance» erinnert.
«Mein Vater ist Rastafari», sagt Thomas, der in Miami geboren ist und hier sein gesamtes Leben verbracht hat. «Ich bin mit Büchern über Schwarze Kultur und Spiritualität aufgewachsen.» Rastafari ist als Schwarze Befreiungsbewegung entstanden, die die afrikanische Identität in den Mittelpunkt stellt.
Der Roots Bookstore, im Nordwesten der Stadt gelegen, soll das Schwarze Miami konservieren. Zum Anfang jeder Woche stellt Thomas eine Auswahl an rund dreissig gebrauchten Büchern gratis zum Mitnehmen auf die Strasse vor dem Laden – Literatur von Autor:innen, die im republikanisch regierten Florida aus Bibliotheken und Schulen verbannt worden sind. Zu den am häufigsten verbannten Werken gehört laut dem US-Autor:innenverband PEN America etwa «All Boys Aren’t Blue». Darin beschreibt George M. Johnson, Journalist:in und queere:r Aktivist:in, das Aufwachsen und die Zeit am College in New Jersey. Auch der Roman «The Bluest Eye» («Sehr blaue Augen») von Toni Morrison wurde im Schuljahr 2024/25 besonders häufig aus den Bibliotheken entfernt. Darin geht es um ein Mädchen, das sich blaue Augen wünscht, um ihrer Welt aus Gewalt und Rassismus zu entfliehen.
«Florida ist der Ort, an dem die Wokeness stirbt», mit diesem Satz machte Gouverneur DeSantis 2024 Schlagzeilen. Der Bundesstaat verzeichnet in den USA die höchste Anzahl an «book bans». Damit ist nicht nur die vollständige Entfernung von Büchern aus Bibliotheken gemeint, PEN America spricht auch von «book bans», wenn Bücher plötzlich nur noch mit Zustimmung der Eltern ausgeliehen werden dürfen oder für eine Überprüfung wochen- oder monatelang aus der Bibliothek genommen werden. Für die gesamten USA hat PEN America seit 2021 fast 23 000 «book bans» in öffentlichen Schulen dokumentiert.
Hinter den Verboten stehen meist konservative und rechtsextreme Elternorganisationen, etwa die Moms for Liberty oder die Parents Defending Education. Sie reichen Beschwerde ein gegen Werke, die sie etwa als «antiamerikanisch» oder «pornografisch» erachten. Erlassen werden die Verbote dann von Schulbehörden, Schulleiter:innen oder Bibliotheksleitungen. Inzwischen weisen zahlreiche Buchhandlungen in den USA «banned books» in eigenen Regalen aus.
Der Buchladen, den Thomas gemeinsam mit Freund:innen führt, ist der einzige in Liberty City, einem der ärmsten Viertel von Miami. In Sichtweite des Ladens liegt der Liberty Square, heute eine umzäunte Baustelle. «Coming soon», steht auf Postern, darunter sind weisse Wohnkomplexe mit säuberlich aufgereihten Palmen davor zu sehen. Auf dem neuen Platz, der über siebzig Millionen Dollar kosten wird, sollen auch ein Fussballfeld und ein Jugendzentrum entstehen.
Evolution des Schwarzen Miami
Dieser Ort im Norden der Stadt spielt in Thomas’ Familiengeschichte eine wichtige Rolle. Dort, wo sich jetzt die Bagger in die Erde graben, stand einst das erste öffentlich finanzierte Wohnprojekt für Afroamerikaner:innen im Süden der USA. 1937 wurde es gebaut und nach Protesten weisser Anwohner:innen von einer Mauer umrahmt. Damals herrschte noch strenge Segregation. Der Strand am unteren Ende der Stadt war für Weisse reserviert. Thomas’ Grossvater wuchs im Wohnkomplex in Liberty City auf. Bis heute erzählt man sich, dass die Anwohner:innen ihre Fenster und Türen aufliessen, weil man sich kannte und vertraute. In Liberty City lebte die Schwarze Mittelschicht, es gab Jazzclubs, Anwaltskanzleien und Gemeinschaftszentren. Auch die Redaktion der «Miami Times» arbeitete hier, die bis heute insbesondere für die Schwarze Community im südlichen Florida berichtet.
«Dieser Platz steht sinnbildlich für die Evolution des Schwarzen Miami», sagt Thomas. Er spricht von einem «Pre-Crack-Kokain-Miami» und einem «Post-Crack-Kokain-Miami». In den siebziger Jahren spielte sich hier ein blutiger Krieg zwischen Drogenkartellen und der US-Regierung ab. Drogenbaron Pablo Escobar hatte eine eigene Handelsroute nach Miami eingerichtet. Aufgrund der zahlreichen Schiessereien musste die Stadt zwischenzeitlich Kühlwagen anmieten. Es gab so viele Tote, dass die Leichenschauhäuser überfüllt waren.
Dem Roots Bookstore geht es auch darum, die Existenz des Schwarzen Miami zu bewahren. Anfang November startete vor dem Buchladen ein Spaziergang durch Liberty City. «Wir haben ein Recht darauf zu bleiben. Lasst uns darüber sprechen», stand in der Ankündigung. Denn längst wittern Immobilienmakler:innen hier ihre Chance. Das Viertel liegt mehrere Kilometer vom Atlantik entfernt und befindet sich etwa drei Meter über dem Meeresspiegel. Damit ist der Stadtteil Gold wert. Immer mehr Menschen wollen weg von der Küste und in Stadtteile ziehen, die selbst bei Starkregen nicht unter Wasser stehen. Während die Preise in Miami Beach stagnieren, wird Wohnen in Liberty City teurer. «Unser Stadtteil ist das beste Beispiel für Klimagentrifizierung», sagt Thomas. Eine Studie von 2023 geht von mehr als einer Million Menschen in Miami aus, die bis zum Ende des Jahrhunderts durch Klimagentrifizierung vertrieben werden.
Der Himmel über Liberty City hat sich orange verfärbt, regelmässig heben am Horizont Flugzeuge ab. Eine kleine Menge hat sich im Buchladen versammelt, die Musiker:innen testen den Sound. Auf der grossen Strasse vor der Buchhandlung begrüssen sich zwei Obdachlose und lassen sich vor einem Supermarkt nieder. «Ich wünsche mir, dass unser Buchladen für immer hier bleibt, um die Schwarze Community von Liberty City zu repräsentieren», sagt Thomas. «Er ist unser Protest gegen das politische Klima in Florida.»