Gefährliche Bücher: Einfallstore ins Bewusstsein
Seit es Bücher gibt, sind sie bedroht von Verboten. Heutige Attacken gegen unliebsame Werke ähneln den alten Feldzügen. Gedanken aus Anlass einer Ausstellung im Zürcher Literaturmuseum Strauhof.
Auf Johannes Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks folgte auch gleich die Zensur. In den Jahrzehnten nach 1440 verlor die katholische Kirche ihre Hoheit und Kontrolle über die in der christlichen Welt kursierenden Buchstaben langsam an die neuen Buchdruckmaschinen. Der erste offizielle «Index librorum prohibitorum» erschien dann 1559. Seither hat der Vatikan seine berüchtigte Cancelliste mit gefährlichen Büchern immer wieder neu angepasst und aufgelegt, mit Nachträgen bis ins Jahr 1962. Sie liest sich wie eine lange Lektüreempfehlung. Verboten wurden etwa die Bücher von Galileo Galilei, Heinrich Heine, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre.
Ein frühes Druckwerk war die deutsche Bibelübersetzung des Reformators Martin Luther von 1522. Auch das hatten die Päpste lange verhindern wollen: nicht nur die Vermehrung der Bücher und ihre Verbreitung ausserhalb der Klöster, sondern ihre unkontrollierte Auslegung ohne Aufsicht und Übersetzung durch das christliche Expertenpersonal. Schon vor dem Buchdruck hatte die Kirche nach Kräften verdrängt und zerstört, was sie als ketzerisch, abergläubisch, verdächtig oder schlicht bedrohlich für ihre Machtstellung befand – darunter den jüdischen Talmud. Ohne dieses über Jahrhunderte propagierte christliche Zensursystem ist das bis heute anhaltende Phänomen der als gemeingefährlich verdammten Bücher kaum zu verstehen. Es ist also kein Zufall, dass der «Index librorum prohibitorum» in der sehenswerten Ausstellung zur Geschichte der verbotenen, verbrannten und anderweitig bekämpften Bücher im Zürcher Literaturmuseum Strauhof eine Art Scharnier darstellt.
Die Schautafel hängt am Übergang zwischen einer beispielreichen einleitenden historischen Auslegeordnung und einem Schlaglicht auf die nationalsozialistischen Bücherverbrennungen von 1933. Das Bild zum christlichen Index zeigt eine weitere Bücherverbrennung, die Illustration einer Szene aus der Apostelgeschichte. Juden und Griechen werfen nach einer offenbar sehr wirkungsvollen Predigt des Apostels Paulus ihre Bücher eigenhändig auf den Scheiterhaufen. Die christliche Deutung: Die Ungläubigen haben ihren Irrtum wunderbarerweise gleich selber eingesehen.
Dekadenz und Verhunzung
Man attackiert die Bücher, doch eigentlich will man in die Köpfe einbrechen. Die Menschen sollen ihre Haltung am Ende «freiwillig» anpassen. Nebenbei wird klar: Bücher sind wirkmächtige, direkte Einfallstore ins Bewusstsein. Das wussten selbstverständlich schon diejenigen freien Geister, die mit der Kirche nichts an der Mütze hatten, zum Beispiel Bertolt Brecht. Einer der ersten Merksätze in der Ausstellung stammt von ihm: «Hungriger, greif nach dem Buch: es ist eine Waffe.» Eine gute Zeile aus einem ansonsten nicht mehr ganz taufrischen Gedicht: «Lob des Lernens», publiziert im Jahr 1932.
Nur ein Jahr später landeten dann auch Brechts Werke in den Flammen. SA, Hitlerjugend, Studentenschaften veranstalteten teils unter direkter Anleitung des NS-Propagandaministers Goebbels 1933 während mehrerer Monate Bücherverbrennungen auf öffentlichen Plätzen. Begleitet wurden diese von rituellen Handlungen und Sprüchen: «Gegen seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele! Ich übergebe der Flamme die Schriften des Sigmund Freud.» Nach der Machtübernahme Hitlers waren diese symbolmächtig inszenierten Bücherverbrennungen eine entscheidende weitere Grenzüberschreitung in der alle Lebensbereiche durchdringenden Nazifizierung der Gesellschaft.
Begleitend zu den pompösen Aufläufen rund um die Scheiterhaufen publizierte das «Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel» Listen mit verfemten Autoren und ein paar wenigen Autorinnen. Deren Werke wurden aus den öffentlichen Leihbibliotheken entfernt, aus dem Buchhandel gezogen, und die Menschen waren auch angehalten, ihre Privatbibliotheken zu «säubern». «Reinigt Euere Büchereien», schreit ein Flugblatt. Geächtet, entfernt und verbrannt wurden vor allem jüdische, kommunistische, linke Autor:innen; und schlicht alle, die man bezichtigte, wider den «deutschen Geist» zu sein, die deutsche Sprache zu «verhunzen», «Dekadenz» oder «Geschichtsverfälschung» zu fördern.
Im Strauhof sehen wir Anette Kelms fotografische Arbeit mit Covern von Büchern, die damals verbrannt wurden. Hier sticht etwa der Originalumschlag von Walter Benjamins Aphorismensammlung «Einbahnstrasse» ins Auge. Fast scheint es, als wäre das grelle Schwarz-Weiss-Rot des Hakenkreuzsymbols zu mehreren warnenden Einbahnstrassenschildern umgeformt worden, die – mit ultimativ bedrohlicher Wirkung – alle in dieselbe Richtung weisen. Dazu gibts viele weitere Dokumente in Vitrinen, und über Kopfhörer kann man einem Büchersammler zuhören, der Geschichten über verfolgte Autoren und verbrannte Bücher erzählt.
Kopfgeld auf den Autor
Eine weitere unheimliche Vorwegnahme von dem, was danach kam, stammt von einem anderen Verfemten, der 1933 allerdings schon lange tot war. Der jüdische Schriftsteller Heinrich Heine, dessen Werk sowohl auf dem Index der Kirche als auch auf dem Scheiterhaufen der Nazis landete, schreibt 1821 in seiner Tragödie «Almansor»: «Dies war ein Vorspiel nur, dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.» Gemünzt war der Satz auf Koranverbrennungen der Inquisition in Spanien – was den Bogen zum nächsten Kapitel der Ausstellung am Strauhof schlägt: Salman Rushdies Roman «Die satanischen Verse», der in mehreren mehrheitlich muslimischen Ländern auf den Index gesetzt wurde, und die 1989 vom iranischen Mullahregime gegen ihn verhängte Fatwa – inklusive Kopfgeld.
Die Begründung der Islamisten ähnelt derjenigen der christlichen Zensoren: Rushdies Buch bediene antimuslimische Ressentiments, sei gotteslästerlich, beleidige den Koran und den Propheten. Der Roman selber wurde auf wütenden Demonstrationen in aller Welt immer wieder verbrannt. Kurz nachdem Rushdie letztes Jahr in einem Interview erzählt hatte, sein Leben sei nun wieder einigermassen im Lot, holte ihn der alte, nie widerrufene Mordaufruf ein. Bei einem Vortrag in einem kleinen Ort im US-Bundesstaat New York wurde Rushdie auf offener Bühne mit einem Messer angegriffen und fast getötet. Woran die Ausstellung ebenfalls erinnert: Der Autor selber hat zwar knapp überlebt, doch Rushdies japanischer Übersetzer wurde 1991 ermordet, der türkische überlebte einen Anschlag nur mit Glück wie auch der norwegische Verleger der «Satanischen Verse».
In anderen Teilen wirkt die Auseinandersetzung der Ausstellungsmacher:innen mit der Gegenwart etwas unentschlossen – vor allem im Raum, wo die Kakofonie der herrschenden Onlinediskurse greifbar werden soll. Über Kopfhörer kann man dort vorgelesenen Tweets lauschen, schablonenartiges Gezeter gegen «Wokeness», «Cancel Culture» und «Genderpflicht». Daneben Tweets von Leuten, die analysieren und die verbreiteten Unwahrheiten zu widerlegen suchen. Über einen weiteren Kanal versucht der Chatbot GPT zu erklären, was Cancel Culture ist. Interessanter wäre es gewesen, die Bot-Förmigkeit der omnipräsenten Cancel-Culture-Verdammungen blosszulegen.
Wer nicht mehr zuhören mag, kann sich einen Lärm unterdrückenden Kopfhörer aufsetzen, der das Geschnatter zum unverständlichen weissen Rauschen verwischt. Wobei: Die Ohren zu verschliessen, scheint irgendwie nicht die passende Lösung zu sein in einer Zeit, in der viele Leute glauben, die gefährlichste Form der Buchzensur sei heute eine allmächtige woke Tugendpolizei, die Bücher aufgrund unstatthafter Wörter umschreiben oder gleich ganz aus dem Verkehr ziehen wolle.
Mit Prüderie gegen den «Schund»
Aufschlussreicher ist die Station, wo Schriftsteller:innen aus dem Irak, dem Iran, aus China und der Tschechoslowakei während des Kalten Krieges über Zensur in ihren Heimatländern berichten, aber auch findige Umgehungsmöglichkeiten aufzählen, etwa illegale, billige Nachdrucke verbotener Bücher, die dann im Geheimen zirkulierten. Regelrecht bizarr erscheint eine Aktion im aargauischen Brugg aus dem Jahr 1965. Der Lehrer Hans Keller hielt Jugendliche an, sogenannte Schundliteratur einzusammeln, öffentlich zu verbrennen und gegen «gute Bücher» einzutauschen. Beworben wurde das Ansinnen ironischerweise mit einem hippiemässigen VW-Bus. Bundesrat Philipp Etter unterstützte die Aktion, Migros und Ex Libris sponserten sie. Erst ein medialer Proteststurm stoppte den geschichtsvergessenen Wahnsinn.
Der von unterschiedlichen Akteur:innen geführte Feldzug gegen das, was man aus moralischen Gründen als Schund deklassiert, zieht sich bis in die Gegenwart. Vor allem in den USA wird heute mit dem von Prüderie und politischen Ressentiments befeuerten Schmutzvorwurf («dirty words», «filthy books») in grossem Umfang gegen Bücher vorgegangen. Das Ziel: die unliebsamen Werke aus Bibliotheken, Klassenzimmern und Buchhandlungen zu entfernen (vgl. «Warum nicht gleich die Bibel verbieten?» im Anschluss an diesen Text). In der Ausstellung zu sehen ist etwa das von der US-Bibliotheksgesellschaft als das «meistverbotene Buch Amerikas» bezeichnete autobiografische Erinnerungsstück «Gender Queer» von Maia Kobabe.
Auch Art Spiegelmans preisgekrönter Holocaustcomic «Maus» wurde in einzelnen Schulen verboten, absurderweise wegen Fluchwörtern. Fluch und Zauberei: Harry Potter sollte es ebenfalls an den Kragen gehen. «Hinter diesem Buch verstecken sich die Zeichen des Königs der Finsternis, des Teufels», befand der Exorzist der Erzdiözese von Rom. Überhaupt fällt auf, wie präsent die christliche Matrix weiterhin ist. Dazu kommen die anhaltenden Versuche einer Auslöschung dessen, was man zuvor selber als «feindliches Anderes» konstruiert hat: das historische Erbe der Nazis.
Die Ausstellung «Satanische Verse und verbotene Bücher» ist noch bis am 21. Mai 2023 im Zürcher Literaturmuseum Strauhof zu sehen. www.strauhof.ch
«Book bans» : Warum nicht gleich die Bibel verbieten?
Im Windschatten der Debatten um ein paar zeitgemäss angepasste Stellen in Romanen von Roald Dahl oder Agatha Christie wütet in den USA ein Krieg gegen Bücher von lange nicht mehr gesehenem Ausmass. Während viele deutschsprachige Feuilletons wegen eines entschärften N-Worts in «Pippi Langstrumpf» in Wallungen geraten, verschwinden in vielen US-Bundesstaaten und Schuldistrikten die Bücher gleich regalmeterweise aus Bibliotheken und Klassenzimmern – ohne viel Beachtung in der hiesigen Öffentlichkeit.
Wie PEN America in mehreren Berichten detailliert nachzeichnet, geht es auch bei den Bücherverboten in den USA oft um Rassismus. Attackiert werden hier allerdings vornehmlich Bücher, in denen Persons of Color vorkommen oder die Rassismus thematisieren. Etwa genauso oft sind Erzählungen mit LGBTQ-Figuren betroffen – oder man stösst sich an sexuellen Inhalten. Die Statistiken zeichnen ein deutliches Bild: Weit über neunzig Prozent der Angriffe gegen Bücher kommen von rechts, oft spielen christliche Motive eine Rolle. Und: Wir reden hier nicht einfach von Einzelaktionen «besorgter Eltern». Jeder zweite Vorstoss kommt von organisierten Gruppen, oft werden sie unterstützt von Politiker:innen, die auch auf Gesetzesebene intervenieren. Knapp die Hälfte der Verbote betrifft Jugendbücher, weitere neunzehn Prozent Bilderbücher. Auch Werke der ersten Schwarzen Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison sind auf den Listen, insgesamt finden sich dort knapp 2000 Titel.
PEN beschreibt die «book bans» als Klagen gegen Bücher, die dazu führten, dass Schüler:innen der Zugriff auf Werke ganz oder teilweise verwehrt bleibe. Konstatiert wird eine immense Zunahme seit 2021. Unter dem Schlachtruf «Cancel Culture» wittert die Rechte seit Jahren überall Sprechverbote. Gleichzeitig sind Teile von ihr offenbar selbst emsig damit beschäftigt, unliebsame Bücher zu canceln. Bekämpft wird jede Art von Diversität, gleich ob es um die Hautfarbe, die sexuelle Orientierung oder die geschlechtliche Identität geht. Im Visier sind insbesondere die Critical Race Theory und die Rechte für trans Menschen – auf dem Büchermarkt alles Nischenfelder, wie PEN betont.
Die Mischung aus vorgeschobenem Jugendschutz, puritanischem Furor und anderen ideologischen Argumenten erinnert nicht nur an die historischen Bücherverbote, sondern auch an totalitäre Staaten der Gegenwart. In Russland beispielsweise gibt es ein Gesetz, das «homosexuelle Propaganda» verbietet. Ähnlich funktioniert Floridas «Parental Rights in Education Act», der es Lehrer:innen untersagt, im Unterricht über sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität zu sprechen. Überhaupt ist Florida unter dem republikanischen Gouverneur und aspirierenden Präsidentschaftskandidaten Ron DeSantis ein Hotspot der «book bans». Und Bücherverbote sind oft nur der Anfang: In Florida folgten Gesetze gegen trans Menschen und Versuche, die Ehe für alle wieder zu verbieten, auf dem Fuss.
Umfragen haben ergeben, dass die überwiegende Mehrheit der Amerikaner:innen Bücherverbote ablehnt. Und auch der Kampf gegen die Verbote bleibt kreativ: In Utah stellten Eltern etwa den Antrag, die Bibel aus gleichen Gründen zu verbieten wie andere Bücher mit sexuellen Inhalten, enthält sie doch Schilderungen von Geschlechtsverkehr, Masturbation und Sodomie.