Gen-Z-Proteste in Marokko: «Wir konnten nicht länger schweigen»
Wochenlang ging Marokkos Jugend für bessere Schulen und Krankenhäuser auf die Strasse. Die Regierung versprach Investitionen – und reagierte mit Repression. Und jetzt?
Wenn Imad Zoukanni über die vergangenen Wochen spricht, ist die Enttäuschung schwer zu überhören. «Ich sehe keine Posts mehr, die zu Versammlungen aufrufen», sagt der 28-Jährige am Telefon, «die Proteste sind eingeschlafen.»
Zoukanni lebt in der marokkanischen Millionenstadt Marrakesch. Die Proteste, von denen er spricht, sind die der Jugendbewegung «Gen Z 212», die grössten, die Marokko in den vergangenen Jahren erlebt hat. Seit Ende September gingen Tausende vorwiegend junge Marokkaner:innen immer wieder auf die Strasse, forderten eine bessere Gesundheitsversorgung und Bildung sowie den Rücktritt der Regierung.
Auslöser der «Gen Z 212»-Proteste – die Zahl bezieht sich auf die internationale Vorwahl für Marokko – war der Tod von acht Frauen gewesen, die alle innerhalb kurzer Zeit in einem öffentlichen Spital in der Küstenstadt Agadir per Kaiserschnitt entbunden hatten. Die Vorfälle warfen ein Schlaglicht auf die desolate öffentliche Gesundheitsversorgung – und riefen landesweit Entrüstung hervor.
«Wer kann, verlässt das Land»
Er habe über die Chat- und Gamingplattform Discord von den Protesten erfahren, sagt Zoukanni, und sich sofort angeschlossen. «Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich für etwas auf die Strasse ging.» Dazu bewogen habe ihn auch ein persönlicher Verlust: Seine Cousine sei an Brustkrebs gestorben, nachdem es bei ihrer Behandlung im überlasteten öffentlichen Gesundheitssystem wiederholt zu grossen Verzögerungen gekommen sei. «Die Regierung hat es nicht geschafft, sich der Bedürfnisse der Bevölkerung anzunehmen. Wir konnten nicht länger schweigen», sagt er.
Ähnlich sieht das Mouna Rahiani. Die 32-Jährige lebt mit ihrer sechsjährigen Tochter ebenfalls in Marrakesch – und engagiert sich als Aktivistin für Frauenrechte. An den Demonstrationen habe sie vom ersten Tag an teilgenommen, sich gegen Ende aber zurückgezogen. Zu Beginn sei die Stimmung in den Chats sehr offen gewesen, nach und nach habe sich das verändert. Viele seien den Foren beigetreten, ohne ihr Profil preiszugeben. Sie habe nicht mehr gewusst, mit wem sie sich dort unterhalten habe, sagt Rahiani. Dennoch betont sie, es sei wichtig, an den Forderungen festzuhalten. «Die Lage in Spitälern und Schulen ist katastrophal.» Wer die Mittel habe, lasse sich bei gesundheitlichen Problemen im Ausland behandeln und schicke seine Kinder auf eine Privatschule.
Neben dem maroden Gesundheits- und Bildungssystem beklagten die Demonstrierenden die Korruption im Land, die hohe Jugendarbeitslosigkeit sowie fehlende Perspektiven. «Viele müssen nach dem Studium einen schlecht bezahlten Job annehmen», sagt Imad Zoukanni, «wer kann, verlässt das Land.» Er selbst ist ausgebildeter Grafikdesigner, seine Leidenschaft ist die Malerei. Über Wasser halte er sich aber durch den Verkauf von Waren in der Medina. Dass die marokkanische Regierung, während es im Alltag an vielem fehlt, Milliarden von Euro in den Bau von Infrastruktur, Trainingszentren und Stadien für die Fussball-WM 2030 pumpt, die das Land gemeinsam mit Spanien und Portugal ausrichten wird, hatte den Ärger der Demonstrant:innen weiter befeuert.
Doch nachdem es vor allem in den grossen Städten zunächst jeden Tag Versammlungen gab, sind die Aufstände seit Mitte Oktober nach und nach zum Erliegen gekommen. Das mag zum Teil daran liegen, dass die Forderungen der Jugend nicht ganz ungehört blieben: Am 10. Oktober hatte König Mohammed VI. die Regierung aufgefordert, den Ausbau des Bildungs- und Gesundheitsbereichs sowie Massnahmen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit voranzutreiben. Diese versprach im Anschluss Investitionen in der Höhe von knapp dreizehn Milliarden Euro.
Verhaftungen und Anklagen
Eine Rolle dürfte aber auch die Repression gespielt haben, der Mitglieder der Protestbewegung bis heute ausgesetzt sind. Seit den ersten Tagen berichteten Teilnehmer:innen von Schikanen und Gewalt durch die Polizei. Auch die Justiz geht hart gegen Protestierende vor. Ende Oktober waren bereits 411 Demonstrant:innen zu teils langjährigen Haftstrafen verurteilt worden – unter anderem wegen «Vandalismus und Plünderung» oder «Brandstiftung». Unter ihnen waren 76 Minderjährige. In manchen Fällen konnte schon ein Aufruf zum Protest auf Facebook den Verfasser:innen eine Verurteilung einbringen.
2480 weitere Personen waren wegen «Aufruhr», «Beleidigung und Gewalt gegenüber Ordnungskräften» oder «Anstiftung zu Straftaten» angeklagt. Besonders zu Beginn war es am Rand der Proteste in manchen Städten zu gewaltsamen Zusammenstössen mit der Polizei gekommen, obwohl die Initiant:innen stets zu friedlichen Kundgebungen aufgerufen hatten. In Lqliâa nahe Agadir, wo mehrere Leute versucht hatten, eine Polizeiwache zu stürmen, wurden drei Personen von der Polizei erschossen. Der marokkanische Verband für Menschenrechte beklagte über die letzten Wochen hinweg willkürliche Verhaftungen, ungerechtfertigte Strafen und polizeilich erzwungene Aussagen.
Er selbst sei am dritten Protesttag von der Polizei kontrolliert worden, sagt Imad Zoukanni, dabei aber glimpflich davongekommen. Die Kundgebung, die auf dem bei Tourist:innen beliebten Platz Dschema el-Fna hätte stattfinden sollen, war von der Polizei sofort aufgelöst worden. Auf dem Heimweg sei er mit einem Freund anderthalb Stunden lang von Beamt:innen festgehalten worden, während diese sein Smartphone nach Indizien für seine Beteiligung an den Protesten durchsucht hätten. «Zum Glück konnten sie nichts finden und liessen uns gehen.» Seiner Familie habe er seine Teilnahme an den Protesten stets verschwiegen, sagt Zoukanni. «Sie hätten sich zu grosse Sorgen gemacht.» Heute pocht er darauf, dass seine inhaftierten Mitstreiter:innen nicht vergessen werden: «Wir dürfen nicht aufhören, ihre Freilassung zu fordern.»
Auch Mouna Rahiani ist davon überzeugt, dass die Repression die Protestbewegung zum Erliegen gebracht hat. «Wenn selbst Minderjährige zu Haftstrafen verurteilt werden, überlegt man sich die Teilnahme zweimal», sagt die 32-Jährige. Und fügt hinzu: «Der Protest ist erloschen, aber die Probleme bleiben.» Besonders wichtig sei daher, nun darauf zu achten, dass die von der Regierung versprochenen Gelder auch dort ankämen, wo sie gebraucht würden, betont die Aktivistin. «Sonst wird es nicht viel brauchen, bis sich die Wut wieder auf der Strasse entlädt.»
Korrigenda vom 20. November 2025: Die Schreibweise der Namen wurde im Vergleich zu einer früheren Version dieses Artikels angepasst.