Proteste in Nepal: Schwerer Rauch über Kathmandu

Nr. 38 –

Dutzende Tote und leise Hoffnung auf eine Verbesserung: Wie ein junger Journalist die Proteste erlebt hat.

Diesen Artikel hören (7:56)
-15
+15
-15
/
+15
Sushila Karki, Interimspremierministerin von Nepal
Verfechterin der Menschenrechte: Sushila Karki ist die neue Interimspremierministerin von Nepal.   
 
Foto: Narendra Shrestha, Keystone

Irgendwann kommen Polizisten auf mich zu. Sie fordern mich dazu auf, die Strasse sofort zu verlassen. Und mein Presseausweis? Interessiert sie nicht: «Patronen unterscheiden nicht zwischen Demonstrant:innen und der Presse», sagen sie. «Rennen Sie um Ihr Leben.»

Wenige Stunden zuvor: Alles fängt friedlich an. Tausende junge Nepales:innen stürmen am Montag, dem 8. September, auf die Strassen Kathmandus, um sich Gehör zu verschaffen. Sie demonstrieren gegen Korruption, Nepotismus, Ungleichheit, und sie tanzen, während sie sich in Richtung des Parlamentsgebäudes im Baneshwor-Viertel bewegen, am Gebäude des Obersten Gerichts vorbei, das nur wenig später in Feuer aufgehen sollte.

Es ist die Generation Z, die sogenannten Zoomer, die den Aufstand anführen. «Ich demonstriere im Namen einer ganzen Generation», sagt Asthanju Basnet, eine 22-jährige Demonstrantin. «Diese Nepotistenbabys haben sich in den letzten Jahren ein Luxusleben auf Kosten unserer Eltern geleistet.»

Die Leute skandieren: «Gebt uns unser Steuergeld zurück!» und «Stopp Korruption!». Ein Schüler, Teil einer grösseren Gruppe junger Leute, alle in Schuluniform, sagt, sie hätten eigentlich Auslandsaufenthalte geplant gehabt. Alle abgesagt aus finanziellen Gründen. «Unsere Zukunft wurde von diesen korrupten Politiker:innen gestohlen.» Auch das Verbot der sozialen Medien, das die Regierung Anfang September verhängt hat und das viele internationale Medien als Hauptursache der Proteste bezeichnen, sei ein Problem. «Aber wir haben Programme, um die Sperren zu umgehen.»

Bruder, rette uns

Es ist das erste Mal, dass sich diese Generation in Nepal organisiert. Aber die ausgelassene Stimmung währt nur kurz, nur wenige Stunden, bis die Polizei später am Nachmittag damit beginnt, unerbittlich zurückzuschlagen. Mit Gummischrot, Tränengas und teils sogar mit scharfer Munition. Ich sehe, wie Demonstrant:innen aus nächster Nähe angeschossen werden. Jemand wird in die Brust getroffen und sinkt zusammen, Entsetzen, und ich weiss nicht, ob ich diese Bilder je wieder vergessen werde, diese Brutalität, mit der sich die Polizei an diesem Montag gegen Nepals Jugend wendet.

Offiziell haben die Behörden zu diesem Zeitpunkt schon eine Ausgangssperre verhängt. Das sagen mir die Beamten, die mich verjagen. Die Demonstrant:innen wurden aber nicht darüber informiert. Die Sperre soll wohl bloss die Offensive der Polizist:innen legitimieren, die noch stundenlang durchgreifen – barbarisch, grausam, unmenschlich, als hätten sie nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dass das auch ihre Kinder sein könnten, die ihnen hier gegenüberstehen.

Drei Schüler:innen flehen mich an, ich solle ihnen helfen. Sie suchen einen Freund, haben aber inmitten des Chaos ihre Handys verloren. «Bruder, rette uns», sagen sie mir. Es gelingt ihnen schliesslich, ihren Freund zu finden und zu fliehen. Sie haben Glück: Siebzehn Demonstrant:innen verlieren allein in Kathmandu ihr Leben. Zwei weitere sterben in der Provinz Sunsari im Osten Nepals.

Alles neu

Schwerer Rauch liegt am nächsten Tag über der Hauptstadt. Mehrere wichtige Regierungsgebäude stehen in Flammen: der 117 Jahre alte Palast Singha Durbar, in dem das Parlament tagt, diverse Polizeistationen, die Büros der wichtigen Parteien. Die Demonstrant:innen stürmen die Häuser von Abgeordneten.

Es ist einer der gewalttätigsten Tage in der jüngeren Geschichte Nepals. Die Proteste sind jetzt noch heftiger als am Vortag, angeheizt vom Tod der neunzehn Getöteten. Doch innert weniger als 24 Stunden gelingt den Demonstrant:innen die grundlegende Veränderung der politischen Landschaft.

Der Premierminister Khadga Prasad Oli von der Kommunistischen Partei legt sein Amt nieder; am Abend kündigt das Militär an, die Kontrolle über das Land zu übernehmen und «Recht und Ordnung» wiederherzustellen. Die Bilder der Gewalt, des Vandalismus, der Wut der Demonstrant:innen, die sich der Ausgangssperre widersetzen, erinnern an die Aufstände, die 2024 Bangladesch und 2022 Sri Lanka erschütterten.

Nach zwei weiteren Tagen der Unruhen wird am 11. September mit Sushila Karki erstmals eine Frau zur Premierministerin Nepals ernannt. In einem Chatraum der Gamingplattform Discord mit dem Namen «Das Parlament von Nepal» und über 100 000 User:innen hatte sich in einer Umfrage eine Mehrheit für Karki als Interimspremier ausgesprochen. Sie war bis 2017, ebenfalls schon als erste Frau, die oberste Richterin Nepals gewesen.

Karki gilt als Verfechterin der Menschenrechte, und als eine ihrer erster Amtshandlungen besucht sie am Folgetag in den Spitälern verletzte Demonstrant:innen. Sie beantragt ausserdem die Auflösung des Parlaments. Neuwahlen sollen im kommenden März stattfinden.

Die Herausforderungen, die die Übergangsregierung erwarten, sind enorm. Die Wirtschaft wächst langsam, die traditionellen politischen Parteien liegen sich schon wieder mit Schuldzuweisungen in den Haaren, bevor die jugendlichen Opfer der Proteste überhaupt beerdigt werden konnten.

Aber trotzdem ist da ein Hoffnungsschimmer. «Wir sollten jetzt nicht mehr viel reden», sagt Sudan Gurung bei der Vereidigungszeremonie von Sushila Karki. Der 36-Jährige war eine der führenden Stimmen der Proteste und ist zu einer Art Volksheld avanciert. «Wir müssen jetzt an die Arbeit.»

Bal Krishna Sah (27) ist ein nepalesischer Journalist. Er schreibt vor allem für die «Himalayan Times», die grösste englischsprachige Zeitung Nepals.

Aus dem Englischen von Lukas Tobler.

Fahne der Stunde: Ein Cartoonschädel verunsichert die Macht

Gekreuzte Knochen auf schwarzem Grund, darüber ein grinsender Totenschädel mit Strohhut: Die Piratenfahne aus dem Anime «One Piece» ist das Protestsymbol der Stunde. Zunächst war sie zum nationalen Politikum in Indonesien geworden, bevor sie den Jugendaufstand in Nepal begleitete – um dann letzte Woche anlässlich des Generalstreiks auch in verschiedenen französischen Städten im Tränengas zu flattern.

In der Serie «One Piece», die auf dem gleichnamigen Manga beruht und inzwischen über 1100 Folgen zählt, jagen die wild zusammengewürfelten Strohhutpirat:innen einen Schatz und versuchen, die Welt von einer tyrannischen Regierung zu befreien. Oder wie Techphilosophin Natalie Pang gegenüber der Singapurer «Straits Times» analysiert: «Historisch gesehen sollten Piratenfahnen einschüchtern und Angst auslösen. ‹One Piece› hat sie als Symbol für Freiheit, Freundschaft und die Verwirklichung von Träumen neu gedacht.»

In Indonesien war die Fahne aus der populären japanischen Serie zunächst bei Jugendunruhen und Protesten unzufriedener Lastwagenfahrer:innen aufgetaucht, bevor fragile Politiker in Jakarta das Ihrige zur Verbreitung des Symbols beitrugen: Sie sprachen von Verrat und einer Gefährdung der nationalen Einheit, im Kampf gegen das bedruckte Stück Stoff erörterten sie in aller Öffentlichkeit ein nationales Verbot und sogar mögliche Gefängnisstrafen. In manchen Regionen des Landes machte sich die Polizei lächerlich, indem sie Strohhutflaggen von Dächern und Fassaden holte. Zwischenzeitlich waren diese der hohen Nachfrage wegen nicht lieferbar.