Amerikas Tschetschenien

Die gegenwärtige Moskauer Reisediplomatie trägt befremdend behäbige Züge. Präsident Jelzins Sonderbeauftragter, der frühere Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin reist von Belgrad nach Moskau, von Moskau nach New York; der Aussenminister Russlands, Igor Iwanow, versichert der russischen Bevölkerung im Fernsehen, er sei mit allem einverstanden, es gehe voran. US-Präsident Bill Clinton beharrt nach dem Gespräch mit Tschernomyrdin darauf, Milosevic durch die Nato kontrollieren zu wollen. Tschernomyrdin seinerseits, nach Moskau zurückgekehrt, erklärt, «die Arbeit» gehe weiter. Am Ende hat man doch nur geredet.
Dem westlichen Blick müssen diese Aktivitäten rätselhaft erscheinen. Welchen Sinn sie aus russsischer Sicht haben, eröffnet ein Blick auf die russische Presse. Die letzte Ausgabe von «Argumenti i Fakti», mit hoher Auflage und populärer Aufmachung gewissermassen der «Spiegel» fürs gebildete russische Gemüt, bringt die Gründe unter der Überschrift «Für Amerika ist Jugoslawien, was Tschetschenien für Russland ist» auf den Punkt.
Die Parallelen bestehen nach Ansicht des Blattes:
• in dem Irrtum der politischen Führungen, die sich von ihren Militärs weismachen liessen, den Krieg in ein paar Stunden erledigen zu können;
• in dem Irrtum, den einmal begonnenen Krieg durch Ausweitung der Angriffe und des Waffenarsenals gewinnen zu können.
• Früher oder später werde es grosse Antikriegs-Demonstrationen geben wie zu Zeiten Vietnams, wie im Fall des tschetschenischen Krieges. Auf solche Bewegungen müssten die USA sich jetzt gefasst machen.
• Obwohl er anfangs umstritten gewesen sei, werde Slobodan Milosevic durch die Bombardierung zum Helden wie in Tschetschenien seinerzeit Präsident Tschochar Dudajew. Selbst wenn Milosevic getötet werde, könne das seinen Mythos nur steigern.
• Auch wenn der «offizielle» Krieg einmal beendet sei, würde Europa und Amerika der Terrorismus, der aus diesem Krieg folge, noch lange zu schaffen machen.
Einen Grund, militärische Hilfe an Jugoslawien zu leisten, resümiert das Blatt, gebe es für Russland nicht, und was Amerika betreffe, so müsse es selbst mit seinem Problem fertig werden. «Jetzt ist die Reihe an uns, die Ruhe zu bewahren», konstatiert die Zeitung trocken und zitiert zur Illustration einen nicht genannten, «hoch gestellten» Diplomaten mit den Worten: «Mögen sich die Amerikaner an Jugoslawien die Zähne ausbeissen, man darf sie keineswegs dabei stören; dann werden sie endlich begreifen, dass nicht alles in der Welt nach ihrem Diktat abläuft.»
Nato - das ist für die Redaktoren von «Argumenti i Fakti» bisher gleichbedeutend mit den USA. In dieser Sicht spiegelt sich das allgemeine Verständnis wieder, das gegenwärtig in dieser Frage in Russland herrscht. Europa wird dagegen eher als Opfer denn als Partner der Nato wahrgenommen: die USA wollten Europa von Russland trennen. Am Ende dieses Krieges aber werde - so die Prognose von «Argumenti i Fakti» - eine mächtige antiamerikanische Bewegung in Europa stehen, die zu einer ernsthaften Schwächung der USA und der Nato insgesamt führen werde.
Die Aussenpolitik der russischen Regierung, weit entfernt davon, rätselhaft zu sein, ist adäquater Ausdruck dieser Stimmungslage des Landes, die wiederum die objektive Lage Russlands zwischen den Fronten widerspiegelt: Premier Jewgenij Primakow und Aussenminister Iwanow betonen vor dem Hintergrund einer multipolaren Weltsicht Russlands Eigenständigkeit gegenüber dem Westen; Boris Jelzins Sonderbeauftragter Viktor Tschernomyrdin andererseits möchte als Sprachrohr wirtschaftlicher Interessen, insbesondere der Erdöl-, Gas- und Energieclans, die westlichen Bedingungen lieber heute als morgen erfüllen.
Der Nato-Führung, insbesondere den US-Amerikanern mag diese Haltung als Schwäche erscheinen, die sie zu immer neuen Demütigungen des kranken Riesen Russland ermutigt. Im Ergebnis drückt sich in der Doppelbesetzung Iwanow/Tschernomyrdin aber vor allem die Tatsache aus, dass Moskau zur Lösung des Problems, in das sich die Nato auf dem Balkan manövriert hat, nicht mehr als das zur Stabilisierung der eigenen innenpolitischen Lage Notwendige tun will. Der Westen kann diesen Krieg nicht gewinnen, das ist Grundkonsens auch in der russischen Regierung; alles Übrige wird die Zeit zeigen.