Atomkraft: Pläne einer reichen Sekte
Warum die Schweiz den Bau eines neuen AKW diskutiert. Wie sie den Boom erneuerbarer Energien verschläft. Und wie ihre Atomlobby gestoppt werden kann.
Die Atomlobby will ein neues Atomkraftwerk. Zum ersten Mal seit dem Unfall von Tschernobyl wird dies offen ausgesprochen. Atel-Boss Alessandro Sala und Hans Rudolf Gubser, der Oldie von den Nordostschweizerischen Kraftwerken (NOK), ernten dafür Lob. Ein «undemokratisches Tabu» werde endlich gebrochen, schreibt die NZZ.
Das Infame an dieser Forderung ist die «Alles-im-Griff»-Rhetorik: nicht hinsehen, verharmlosen, verdrängen, verschweigen der realen Folgen der Atomwirtschaft, zum Beispiel der Millionen Tschernobyl-Opfer. Die Atomlobby stellt ihr «Recht auf Kernspaltung» über das Menschenrecht auf Unversehrtheit von Leib und Leben.
«Die Schweiz steht vor einem Energieengpass», schreibt ein oberschlauer «SonntagsZeitung»-Journalist. Die Folgerung der Atomlobby: Beznau 1 und 2 und Mühleberg sollen durch ein neues AKW ersetzt werden, das anderthalb Mal so viel leistet wie die drei alten zusammen.
Der angebliche Engpass ist im Moment nicht da: Die Schweiz ist Stromexporteurin. Sie könnte die Atomenergie schon heute sauber ersetzen, wenn sie wollte. Und wenn sich der Engpass eines Tages doch einstellt, so wäre er zu hundert Prozent selber gemacht: weil die Elektrizitätswirtschaft die erneuerbaren Energien sabotiert und den Stromverbrauch anheizt.
Gekaufte PolitikerInnen
Die EU-Länder steigern den Anteil an erneuerbaren Energien alle zehn Jahre um zehn Prozent. In der Schweiz hingegen schwimmen die Atomvögte dank überhöhten Netztarifen und wilder Liberalisierung im Geld, das sie zur Manipulation von Politik und Medien einsetzen.
Die Stromer kaufen Abstimmungskämpfe, Parteien und PolitikerInnen im Dutzend. Zum Beispiel Nationalrat Rudolf Steiner (FDP), Christian Speck (SVP), Hans Hofmann (SVP) und CVP-Interimspräsidentin Doris Leuthard. Sie alle kassieren als Verwaltungsräte von Stromgesellschaften um die 100000 Franken pro Jahr für eine Hand voll Sitzungen und sorgen für die rechten Mehrheiten in den Fraktionen.
Warum hängt die Stromlobby so sehr an ihren AKW-Plänen? Weil sie die Kontrolle über die ganze Wertschöpfungskette – vom Kraftwerk bis zur Steckdose – nicht verlieren will. Darum gilt: eigene Werke hui, Einspeisungen Dritter pfui! Darum wehrt sie sich gegen erneuerbare Energien, soweit sie sie nicht selber betreibt. Darum verhindert sie, dass faire Preise für grünen Strom bezahlt werden. Und darum haben Wärmekraftkopplung, Windenergie, Geothermie, Biogas usw. in der Schweiz bis heute das Nachsehen, selbst dann, wenn sie billiger Strom produzieren als AKWs.
Die Stromlobby bestreitet dies natürlich. Atomenergie komme «wirtschaftlich sehr gut weg», erzählt NOK-Mann Gubser. Dabei weiss er es besser: Am AKW Leibstadt haben sich alle Beteiligten die Finger verbrannt.
Die Wirtschaftlichkeitslüge
Leibstadt kostete 1984 über 4,8 Milliarden Franken (entspricht heute 7 Milliarden Franken). Nur mit jahrzehntelang übersetzten Stromtarifen konnte Leibstadt entschuldet werden. Und das, während Kantone wie Basel-Stadt, weil ohne AKWs, bei tieferen Tarifen pro Jahr fünfzig Millionen Franken Gewinne aus der Wasserkraft als Ökobonus an Haushalte und Wirtschaft und vierzig Millionen an den Staat abliefern konnten.
Leibstadt-Strom war mit dreizehn Rappen pro Kilowattstunde in den neunziger Jahren dreihundert Prozent teurer als Elektrizität von der Strombörse. Der Bundesrat eilte den Betreibern zu Hilfe und stundete die Entsorgungsgebühren während 25 Jahren. Und die SBB zahlten im Jahr 2000 hundert Millionen Franken, um fünf Prozent der Leibstadt-Aktien zu verkaufen(!).
Eine ehrliche Wirtschaftlichkeitsrechnung für Atomstrom gibt es nicht, denn die Entsorgungskosten laufen zeitlich unbegrenzt, und Brennstoffe und neue Reaktoren sind staatlich verbilligt. Das letzte in Europa realisierte AKW mit transparenter Rechnung ist Sizewell B in Grossbritannien. Der Bau kostete fünf Milliarden Euro – zehnmal mehr als ein vergleichbares Gas-Kombikraftwerk und sechsmal mehr als Windkraft mit gleicher Kapazität.
Die Kosten sind kein Trumpf für die Atomindustrie. Darum heisst es, ein neues AKW könne man «nur gemeinsam» bauen. Sprich: Die Defizite sollen einmal mehr verteilt werden. Und wer investiert, riskiert: Ein neuer Grossunfall in einem westlichen Industrieland dürfte die Branche definitiv lahm legen. Darum ist es zweifelhaft, ob sich private Investoren finden lassen.
Staat verdeckt Defizite
Nicht umsonst wird der AKW-Bau in Finnland mehrheitlich von staatlichen Geldgebern finanziert. Den Euro-Reaktor liefert die französische Staatsfirma Areva zum Schleuderpreis. Sie würde ihn notfalls verschenken, um die Auftragsflaute seit Tschernobyl zu brechen. Solange der französische Staat im Hintergrund Geld verteilt, stinken alle Behauptungen angeblicher Wirtschaftlichkeit zum Himmel.
Ein Schweizer AKW ist auch versorgungstechnisch ein Unsinn: Wir brauchen nicht Bandenergie – davon haben wir im Sommer schon jetzt zu viel. Effizienter wären Mittellastkapazitäten mit flexibler Tages- und Winterspitze, zum Beispiel Holz- oder Gas-Kraftwerke mit Wärmekraftkopplung, deren Wärme nicht durch Kühltürme verpufft.
Der grüne Erfolg
Noch gehen solche Techniken den Monopolisten gegen den Strich. Aber sie haben ein Problem: Die Öffnung der Stromnetze sorgt erstmals für Transparenz, und davon profitieren die neuen Technologien. Im Ausland verzeichnen Windenergie und Solarzellen dank kostendeckenden Einspeisetarifen Wachstumsraten von zwanzig bis vierzig Prozent im Jahr.
In Spanien, Dänemark, England, Italien und Holland ist der Atomausstieg faktisch im Gang, am dynamischsten derzeit im rot-grünen Deutschland. Seit dem Einspeisegesetz von 1991 hat sich der Marktanteil von Windstrom von 0,1 Prozent auf 6 Prozent bereits versechzigfacht. Und er dürfte sich nochmals verfünffachen – mindestens. In der deutschen Nord- und Ostsee werden Anlagen mit einer Kapazität von total 60000 Megawatt gebaut – was einer Leistung von 60 AKW vom Typ Gösgen entspricht. Auch zu Lande ist die Entwicklung rasant: Schleswig-Holstein wird im Jahr 2010 rund fünfzig Prozent des Stromverbrauchs mit Windkraft decken, und die dafür vorgesehenen Bauzonen betragen weniger als ein Prozent der Landfläche.
Mit Kosten von einem Dollar pro Watt erweist sich die Windenergie als billigste Möglichkeit der Stromerzeugung weltweit. Entscheidend dabei: Der «Brennstoff» – Wind – ist gratis! Das macht Windenergie kostensicher und attraktiv, selbst wenn die Nennleistung der Turbinen übers Jahr nur während 2000 Stunden erreicht wird, im Vergleich zu knapp 7000 Stunden pro Jahr bei der Atomkraft.
Windenergie ist eine Sensation. Und erst der Anfang: Dank dem Erneuerbare-Energien-Gesetz boomt in Deutschland auch die Fotovoltaik, die Biomasse und die Geothermie. Über hundert Kraftwerke mit Tiefenwärme («Deep Heat Mining») sind geplant – jedes für sich mit der Kapazität, ein ganzes Dorf oder Quartier mit Strom und Wärme zu versorgen. Neue Berechnungen zeigen auf, dass die erneuerbaren Energien nicht nur die Atomkraft, sondern auch Kohle und Erdgas kostengünstig ersetzen können.
Die Atomsekte vereinsamt
Das zentralistische Versorgungsmodell der Monopolisten ist ein Auslaufmodell. Um die grünen Erfolge medial und politisch zu vermiesen, unterhalten sie noch immer eine teure Propagandamaschine: Unzuverlässig, ungeeignet, zu teuer und mengenmässig bedeutungslos sei der grüne Strom, so die Botschaft. Grüne KundInnen sollen freiwillig für Wind- und Solarstrom Mehrpreise bezahlen, dafür gäbe es Solarstrombörsen. Als ob die Milliardendefizite der Atomenergie an einer «Atomstrombörse» aus Almosen gedeckt worden wären.
Je stärker die Gestehungskosten sinken, je mehr Menschen mit den neuen Technologien Einkommen und saubere Energie gewinnen, desto entrückter wirken die arroganten Atomtechnokraten. Kommt hinzu, dass all die alten, sattsam bekannten Probleme der AKW nicht aus der Welt zu schaffen sind: die Strahlenopfer; der Missbrauch als Massenvernichtungswaffen; die Abfälle, die zehntausende von Jahren Hitze und Radioaktivität abstrahlen.
Doch es wird einsam in der Atomsekte. Es herrscht Nachwuchsmangel. Firmen wie ABB haben ihre Atomabteilungen liquidiert und spezialisieren sich auf neue Technologien. Die fanatischen Atomagitatoren wie Michael Kohn sind zu alt, um den neuen Investitionszyklus selber aufzugleisen. Und die Jungen wollen mit dieser mörderischen Technik nichts mehr zu tun haben.
So lässt sich die atomare Arroganz zerschlagen
Dank dem 2003 verabschiedeten Kernenergiegesetz kann das Volk in der Schweiz über Rahmenbewilligungen für neue AKWs abstimmen. Aber es wäre falsch, wie das Mäuschen vor der Schlange auf diese Abstimmung zu warten.
Der Kampf gegen die atomare Arroganz muss sofort eröffnet werden: indem erstens der Sumpf öffentlicher Quersubventionen trocken gelegt wird und zweitens die Spielregeln so geändert werden, dass endlich auch in der Schweiz kostendeckend in erneuerbare Energien investiert werden kann.
Konkret heisst das:
· Die grossen öffentlich-rechtlichen Stromgesellschaften in der Hand der Kantone sollen neue Beteiligungen an Kraftwerken und Beschaffungsverträge ausschreiben. Dann kann man sehen, «wie billig» Atomstrom im Vergleich tatsächlich ist. · Sämtliche Verträge und Beteiligungen über Atomstrom müssen vors Volk.
· Erneuerbare Energien sollen – wie bisher die Atomkraft – eine kostendeckende Vergütung erhalten.
· Atommülllager müssen bekämpft werden: weil sie niemals sicher sind. Und weil jede Bewilligung missbraucht würde, um neue AKW zu rechtfertigen. Mit der Parole «Entsorgung gelöst» ist schon Finnland in die Falle marschiert. Neue Atommülllager darf es erst geben, wenn der Ausstieg gesetzlich besiegelt ist. Und sie müssen so dimensioniert sein, dass nichts Neues nachkommen kann.
· Volle Haftung: Die Atomlobby verbreitet die Mär von den «sicheren Reaktoren». Also soll sie die unbeschränkte Haftpflichtdeckung einführen.
· Effizienzpolitik: Neue Elektrogeräte sollen die Kriterien der A-Klasse erfüllen (fünfzehn Prozent Stromeinsparung); Umrüstungsprogramm für Elektroheizungen (fünfzehn Prozent weniger Winterverbrauch).
· Stromregulator und Stromnetze in öffentliche Hände: kein Verscherbeln der Infrastruktur, nicht diskriminierende Durchleitung für erneuerbaren Energien.
· Sanierung der rentablen Wasserkraftwerke und Verzicht auf unrentable AKW; Kantone und Gemeinden sollen die Riesengewinne an Bevölkerung, Unternehmen und Gemeinwesen weitergeben (Modell Ökobonus Basel).
Zum Autor
Ruedi Rechsteiner ist SP-Nationalrat und Autor des Buches «Grün gewinnt – die letzte Ölkrise und danach» (Orell Füssli).