Bauwahn in Moskau: Immer höher, immer teurer

Noch Anfang der neunziger Jahre wollte die Hälfte der RussInnen auswandern. Jetzt möchten alle in Moskau Wohnungen kaufen. Hunderte von Wolkenkratzern sollen hochgezogen werden – auf brüchigem Untergrund.

Ein riesiges Glasfenster, das von der Decke bis zum Boden reicht, ein grosses Bett mit flauschiger Decke und eine für Moskau untypische himmlische Ruhe: Wir befinden uns in einer Wohnung im Westturm des Federation Tower. Der Wolkenkratzer mit seinen beiden verglasten Türmen soll im nächsten Jahr fertig werden und wird dann das höchste Gebäude Europas sein. Im Badezimmer hängen sorgsam gefaltete weisse Handtücher. Blickt man aus dem Fenster nach unten, sieht man eine riesige Baugrube, Bagger wühlen im Lehm.

Der Westturm, der bereits steht, misst 243 Meter. Der Ostturm soll 360 Meter hoch werden. Es ist ein Gebäude der Superlative. Zwischen beiden Türmen soll eine 506 Meter hohe Spindel mit Liften und einer Aussichtsplattform stehen. Der Lift für die BesucherInnen fährt mit einer Geschwindigkeit von vier Metern pro Sekunde bis über die Wolken.

Der Federation Tower ist nur eine der vielen Baustellen im neuen Viertel Mos­cow City, vier Kilometer westlich des Kremls. Zurzeit werden dort zwanzig Wolkenkratzer gebaut. Auch der Grundstein für den von Architekt Norman Fos­ter entworfenen Wolkenkratzer Rossija mit der sich nach oben verjüngenden Form eines Dreikants (Höhe 612 Meter) ist schon gelegt. 20000 Menschen sollen in Moscow City arbeiten. International bekannte Firmen werden hier ihren Sitz haben.

Nachts leuchten die schon fertigen Türme aus Glas und Beton mit ihren weissen und hellblauen Lichtern. Die MoskauerInnen haben sich schnell an den neuen Anblick gewöhnt. Selbst David Sarkisjan, Direktor des Moskauer Architekturmuseums, der andere Neubauten wegen «schlechten Geschmacks» kritisierte und zu den GegnerInnen des Projekts Gasprom City in St. Petersburg gehört, hat Moscow City seine Absolution erteilt. Das sei eine «ganz gute Sache», zumindest schade sie der Stadt nicht, sagte er gegenüber der Zeitung «RBK Daily».

Der Blick aus dem Wellnesszentrum im 61. Stockwerk des Federation Tower nach unten ist eindrucksvoll. In sanften Bögen schlängelt sich die Moskwa durch die dicht bebaute Stadt. Die Autos sind kaum noch erkennbar, nur die sogenannten Stalin-Hochhäuser rund um das Stadtzentrum ragen heraus. Ohne den Moskauer Dauernebel wäre die Aussicht fantastisch. Die Vierzehn-Millionen-Metropole ist immer noch eine Stadt mit vielen Gesichtern. Das macht sie interessant.

Lärm, Staub, Asthma

Von oben fällt der Blick auch auf die riesigen Quartiere aus heruntergekommenen Plattenbauten, die sogenannten Chruschtschowkas. Diese vier- bis fünfstöckigen Wohnhäuser mit ihren 46-Quadratmeter-Wohnungen wurden ab den späten fünfziger Jahren noch unter dem damaligen Regierungschef Nikita Chruschtschow gebaut. Damals wurden diese Einheitskästen gefeiert, denn viele MoskauerInnen lebten noch in alten Holzhäusern.

Nun sind die Tage der Chruschtschowkas gezählt. Im Kamuschki-Viertel in der unmittelbaren Nachbarschaft von Moscow City will die Stadt jetzt 24 Plattenbauten abbrechen. Man braucht Platz für weitere Bürogebäude. Die 3000 BewohnerInnen protestieren immer wieder gegen den Bau von Hochhäusern in Wohngebieten und befürchten, dass sie an den Stadtrand umgesiedelt werden.

Dass die Plattenbauten abgerissen werden sollen, ist seit Langem bekannt. Doch die AnwohnerInnen von Kamuschki wissen noch immer nicht, wo die versprochenen neuen Wohnhäuser stehen. «Das alarmiert uns», sagt Lena Nowikowa. Die 42-jährige Hebamme ist Mitglied des AnwohnerInnenkomitees. Bei einem Treffen erzählt sie, dass das Komitee sogar an Premierminister Wladimir Putin und Präsident Dimitri Medwedjew geschrieben habe: «Aber bisher haben wir keine Garantie, dass man uns nicht doch irgendwann an den Stadtrand umsiedelt.» Die menschlichen Beziehungen dürfe man nicht einfach auseinanderreissen. «Wer soll denn für die Oma den Einkauf machen, wenn sie in einen Aussenbezirk umgesiedelt wird?»

Nicht nur in Moscow City, überall in der Hauptstadt entstehen Wolkenkratzer, meist mitten in Wohnvierteln. Seit Jahren arbeiten Bagger und Kräne direkt vor den Fenstern der alteingesessenen AnwohnerInnen. «Wir leben seit zwölf Jahren im Baulärm. Es gibt Unmengen von Staub», schimpft Lena Nowikowa. Ihre ganze Familie leidet deswegen an Asthma. «Ohne Medikament kann ich nicht auf die Strasse», sagt sie und holt ein kleines Asthmaspray aus ihrer Handtasche.

Eine Stadt der Reichen

Der Federation Tower ist eine Stadt in der Stadt. Im unteren Teil der Türme gibt es Büros, im oberen Teil Wohnungen, ein Luxushotel, ein Restaurant und einen Wellnessklub. «Viele Appartements sind schon verkauft», sagt Projektleiter Matthias Lassen. «Die Eigentümer werden in erste Linie Firmen sein, die Wohnungen zeitlich begrenzt - zum Beispiel an Geschäftspartner - vergeben. Oder es werden reiche Russen sein, die in Moskau einen repräsentablen Wohnsitz benötigen, aber in Monaco oder sonstwo auf der Welt weitere Wohnsitze unterhalten.» Eines der Appartements mit eigenem Aufzug, Swimmingpool und Fitnessraum ist für den Direktor der Wneschtorg-Bank reserviert. Die Bank belegt ausserdem 33 Etagen mit ihren Büros.

Zusammen mit dem Projektleiter geht es im Aufzug in die 59. Etage des Westturms. Die letzten Meter steigen wir über eine Feuertreppe. Kalkstaub liegt in der Luft, Schneidbrenner kreischen. «Achtung, Kopf einziehen», ruft Projektleiter Lassen. Die Decke über der Treppe hat einen Knick nach unten. Ein Baufehler, erklärt der Hamburger und rümpft die Nase.

Direkt unter der Glaskuppel des Westturms entsteht jetzt ein Wellnesszentrum mit Saunas, russischen Badehäusern, einem Swimmingpool und einem Schönheitssalon. Wenn es warm und windstill ist, werden Teile der Glasfassade zur Seite gefahren und die BesucherInnen können unter freiem Himmel ein Sonnenbad nehmen. Aber wegen des Wetters in Moskau sei «das nur an zwanzig Tagen im Jahr möglich», fügt Lassen hinzu.

Der grosse Swimmingpool wurde bereits eingeweiht. «Hier feierte der Bauherr Sergej Polonski seinen 35. Geburtstag», schwärmt Lassen. Während der Party hätten junge Badenixen ein Wasserballett gezeigt.

Polonskis Visionen für Moskau haben einiges Aufsehen erregt. Gegenüber der Moskauer Zeitung «Nowija Iswestija» erklärte er, dass es in der Hauptstadt keinen billigen Wohnraum geben dürfe, sonst würden alle Russen in Moskau eine Wohnung kaufen und die Stadt würde zu einer Art New Mexico. Dass die Wohnungspreise in Moskau heute bei 5000 US-Dollar pro Quadratmeter liegen und man heute selbst am Stadtrand für eine Dreizimmerwohnung in einem Plattenbau 250 000 US-Dollar bezahlen muss, findet Polonski völlig normal.

Neulich hielt Polonski vor Student­Innen einen Vortrag zum Thema Erfolg: «Wenn du etwas im Leben erreichen willst, musst du hingehen und es nehmen. Anders geht es nicht.» Polonski hat selber klein angefangen. 1994 gründete der damals 22-Jährige in St. Petersburg die Baufirma Strojmontasch. Sein erstes Geld - so erzählte er in einem Zeitungsinterview - habe er mit Gastarbeiterinnen aus der Ukraine gemacht, die er für den Innenausbau von Wohnungen nach St. Petersburg holte. Er habe Frauen geholt, weil die nicht trinken und härter arbeiten würden.

Der verhinderte Kosmonaut

Vor acht Jahren machte Polonski am St. Petersburger Bauinstitut einen Abschluss als Ökonom. Im gleichen Jahr begann in Moskau der Bauboom. Polonski wechselte in die russische Hauptstadt und gründete 2004 die Mirax Group. Mit einem Umsatz von 1,3 Milliarden US-Dollar ist das Unternehmen heute eine der grössten russischen Baufirmen. Inzwischen laufen auch Mirax-Projekte im Ausland: Hotels und Villen in Montenegro, ­Antalya, Miami und der Schweiz (vgl. Kas­ten).

Für Polonski gibt es nur eine Richtung: nach oben. Selbst in seiner Freizeit zieht es ihn in den Himmel. Erst machte er den Flugschein für den MIG-Kampfbomber, dann wollte er gar Weltraumtourist werden. Die zwanzig Millionen US-Dollar für den Flug hatte er schon beisammen, im Oktober 2004 sollte es losgehen. Doch dann sagten die Ärzt­Innen, er dürfe doch nicht. Angeblich war der Mirax-Chef mit einer Körpergrösse von 194 Zentimetern zu gross.

Doch wer den Nervenkitzel sucht, fin­det ihn, auch im Federation Tower. Einige der Lifte werden auf Anweisung­ des Bauherrn mit verglasten Böden ausgestattet. Man soll tief in den Schacht blicken können. Andere Dinge in Polonskis Bauprojekten sind weniger durchsichtig. Im Dezember 2006 behauptete der Duma-Abgeordnete Ale­xan­­der Lebedew, im Fundament des Federa­tion Tower gebe es Risse. Polonski trom­melte sofort die Presse zusammen und erklärte, solche Risse könne es gar nicht geben. Messgeräte würden das Fundament ständig kontrollieren. Wer Beweise vorlegen könne, dem versprach er sogar eine Million US-Dollar Belohnung

Inzwischen ist es um die Vorwürfe gegen Polonski still geworden. Doch nicht um die Bedenken, die sich um die vielen Grossbaustellen drehen. Der Moskauer Baugrund sei verkarstet, meint der Architekt Alexsei Klimenko. «Er ist zu schwach für die neue Wolkenkratzermode.» Schon jetzt kommt es vor, dass Strassen plötzlich einbrechen oder Häuser Risse bekommen, weil unterirdische Bäche Höhlen auswaschen.

Doch allen Warnungen zum Trotz will der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow in den nächsten Jahren insgesamt 200 Wolkenkratzer bauen lassen. KritikerInnen meinen, er sei der Gehilfe mächtiger Immobilienfirmen, die mit den Hochhäusern das grosse Geld machen wollen. Klimenko glaubt zudem, dass den Bürgermeister familiäre Interessen antreiben würden. Lusch­kows Ehefrau Jelena Baturina habe mit ihrem Bauunternehmen Inteko bereits Milliarden verdient. «Alle Hochhausaufträge laufen über den Tisch des Bürgermeisters.»

Bei dem Tempo des Moskauer Baubooms leidet die Qualität. Kaum noch jemand wundert sich heute, wenn irgendwo ein Dach einstürzt, wie etwa im Februar 2004, als die Kuppel eines Erlebnisbades zusammenbrach und 28 Menschen starben. Im Februar 2006 stürzte dann die Kuppel des Baumannskaja-Marktes ein und tötete sechzig Menschen. Der letzte Vorfall ereignete sich im neu gebauten Krylatskoje-Eisschnelllaufstadion mit 10 000 Sitzplätzen. Ende November waren Teile der Kuppelkonstruktion abgebrochen. Das Gebäude wurde stillgelegt. Die Untersuchungen laufen. Angeblich war das Metall der tragenden Konstruktion von schlechter Qualität.

Nur ein bisschen höher

Trotzdem wächst Moskau weiter und weiter. Doch die meisten Bauarbeiter­Innen kommen nicht aus der Hauptstadt oder der russischen Provinz, sondern aus China, Tadschikistan oder Moldawien. Und Murat aus Istanbul erzählt, dass er mit seiner Arbeit am Federation Tower 1000 US-Dollar im Monat verdient. «In Istanbul wären es nur 700 Dollar», sagt er. Sozialleistungen gibt es nicht. Es ist auch kein Geheimnis, dass viele ArbeiterInnen sich illegal in Russland aufhalten. Wenn die KontrolleurInnen kommen, ist plötzlich die Hälfte der Baubelegschaft weg.

Wird der Federation Tower stabil stehen? Immerhin haben die Architekten Sergei Tchoban und Peter Schweger bisher nur Hochhäuser mit 25 und 50 Etagen gebaut. «Ein Gebäude funktioniert immer nach den gleichen Prinzipien», meint Projektleiter Lassen. «Dass man jetzt ein bisschen höher baut, ist in ers­ter Linie eine tragwerkplanerische Aufgabe, die auf Berechnungen beruht, die nicht wir Architekten machen.» Das Tragwerk sei vom Büro Thornton Tomasetti in New York entwickelt und der Turm in Toronto bei der Firma RWDI im Windkanal getestet worden.

Unter dem Glasdach des 61. Stockwerks des Federation Tower wölben sich dicke Stahlträger. Zumindest die chinesischen ArbeiterInnen scheinen keine Angst zu haben. Sie stehen auf der Glaskuppel und versuchen gerade mit ­kräftigen Hammerschlägen den ­Aufzug für die Fassadenreinigung zu instal­lieren.

Russische Luxusanlage im Wallis

Zuerst schien alles einfach: Ende letzten Jahres gab die russische Baufirma Mirax bekannt, dass sie in Aminona im Walliser Bergdorf Mollens unterhalb des Skigebiets von Crans-Montana eine Ferienanlage mit fünf neuen Hochhäusern, einem Luxushotel sowie teuren Chalets und Ferienwohnungen erstellen möchte. Das geplante Investitionsvolumen solle rund 350 Millionen Franken betragen, Baubeginn sollte bereits diesen Juni sein. Anfang März wurde das Projekt unter dem Namen «Le Village Royal» dann der Öffentlichkeit vorgestellt. Zuvor hatten bereits längere Diskussionen bei den Behörden und in den Medien stattgefunden, ob für das Riesenprojekt eine Ausnahme von der Lex Koller zulässig sei, von jenem Bundesgesetz, das den Kauf von Schweizer Liegenschaften durch AusländerInnen beschränkt. Nun trifft der Hauptinhaber von Mirax, der russische Millionär Sergej Polonski, auf ein weiteres Hindernis: Der WWF hat gegen das Bauprojekt Einsprache erhoben und die Regelung der Bauzone infrage gestellt. Catherine Martinson vom WWF Romandie sagt gegenüber der WOZ, dass die Ferienwohnungen nicht nur das Problem der bereits bestehenden 7000 «kalten Betten» verschärfen würden, sondern auch im Bereich der Wasserversorgung und der Strasseninfrastruktur eine zusätzliche Belastung für die Gemeinde und die Umwelt bedeuteten. Nun gehe es darum, dass die Behörden das Projekt Aminona nochmals überdenken und auf den Bau der Hochhäuser reduzieren würden.
Sonja Wenger