Moskau: Vogelfrei in der Stadt der Milliardäre

Nr. 26 –

Viele Menschen sind aus der russischen Provinz und den ehemaligen Sowjetstaaten in die boomende Hauptstadt gezogen. Doch meistens platzt der Traum vom besseren Leben – die neuen KapitalistInnen lassen nicht mit sich spassen.

Die Tür steht immer offen. Doch einladend ist der Blick in das zweistöckige alte Backsteinhaus nicht. Wer das Wohnheim der Textilfabrik Trojochgornaja Manufaktura betritt, steigt zunächst über ein Starkstromkabel, das direkt vom Verteilerkasten im Hauseingang ins Treppenhaus führt. Das Haus mit dem spitzen Giebel in der Samorenowa-Strasse Nr. 15 stammt noch aus dem 19. Jahrhundert. Im ersten Stock gehen von einem langen Flur die Zimmer der Familien ab, die hier eng an eng wohnen. Von den Wänden bröckelt der Putz; die Decken haben Wasserflecken; am Ende des Ganges ist alles schwarz. «Dort hat es mal gebrannt», sagt eine der Bewohnerinnen.

In der Gemeinschaftsküche stehen drei Textilarbeiterinnen – die Baschkirin Minisa Karamursina, die Tscherkessin Madina Kentscheschaowa, die Tatarin Rosa Chamsina und die russische Studentin Natascha Musika. Sie ist die Jüngste in der Gruppe und im neunten Monat schwanger. Für die vier Frauen gibt es in diesen Tagen nur ein Thema: Sie sollen in ein anderes Wohnheim umgesiedelt werden. Dort seien die Bedingungen noch schlimmer, schimpfen sie – für vier Etagen nur ein Bad, hier gibt es wenigstens auf jeder eins. Von den siebzig BewohnerInnen haben schon zehn ihre Koffer gepackt, erzählen die Frauen. Doch der Rest will bleiben. Man hofft auf ein Wunder.

Die Fabrik will das Wohnheim verkaufen. Es werde saniert, heisst es – aber nicht für die ArbeiterInnen. Die Immobilie steht auf goldenem Boden. Zum Weissen Haus, dem Sitz der russischen Regierung, sind es nur zweihundert Meter. Da lassen sich Luxusappartements für gut und gern 6000 Dollar pro Quadratmeter verkaufen. Zu der traditionsreichen Fabrik sind es nur ein paar Schritte. Der Betrieb soll ins Moskauer Umland verlegt werden. Oleg Deripaska – Russlands reichster Milliardär – hat die Manufaktura gekauft und plant an der Stelle des riesigen roten Backsteingebäudes Büros, Einkaufszentren und Hotels. So geht es vielen alten Gebäuden in Moskau. Besonders gefährdet sind die 2000 Wohnheime in der Stadt. Die FabrikbesitzerInnen wollen sie loswerden, und die Stadt will die Verantwortung für die BewohnerInnen nicht übernehmen.

Angst um den Stempel

Die Frauen sorgen sich nicht nur wegen der schlechteren Wohnbedingungen. Sie befürchten, dass sie mit dem Umzug ihre «Propiska», ihre Aufenthaltsgenehmigung für Moskau, verlieren könnten und zurück in die Provinz müssen, die sie vor über zwanzig Jahren verlassen haben. Damals waren sie mit einem Versprechen nach Moskau gelockt worden: Wenn sie zehn Jahre in der Tuchproduktion arbeiteten, dann würden sie eine eigene Wohnung bekommen. In der Sowjetzeit war das eine übliche Praxis.

Auf eine eigene Wohnung hoffen die Frauen nicht mehr; sie sind so gut wie rechtlos. Im Pass haben sie zwar eine «Propiska», einen Stempel mit der Wohnadresse. Doch im Pass steht «Samorenowa-Strasse Nr. 15». Die Zimmernummer fehlt. Sie haben also nur das Recht auf einen Schlafplatz irgendwo in diesem einen Wohnheim. «Wir sind vogelfrei», sagt eine der Frauen. Die Abteilungsleiter in der Fabrik machen täglich Druck: Die Frauen sollen endlich umziehen – oder dort hingehen, wo sie herkamen. «Geht zurück nach Hause, hat uns ein Abteilungsleiter gesagt», erzählt eine der Frauen. «Aber wohin soll ich zurück? Meine Eltern leben nicht mehr.»

Backsteine im Zimmer

Die Werksleitung verfolgt die Taktik der Nadelstiche. Im November liess die Direktion um zehn Uhr morgens, als alle bei der Arbeit waren, Wasser und Strom abstellen. Abends mussten die Frauen Kerzen anzünden und Backsteine auf den Gasherd legen, mit denen sie dann die Zimmer zu wärmen versuchten. Anschliessend nahmen sie mit anderen Wohnheimen Kontakt auf und organisierten mit «Dom», der Bewegung der Wohnheime in Moskau und Umgebung, auf einer nahe gelegenen Hauptverkehrsstrasse eine Blockade. Die Öffentlichkeit reagierte verständnisvoll, die regionalen Fernsehsender berichteten wohlwollend.

Als auch das nichts half, besetzten die Frauen das Büro des zuständigen Staatsanwalts. Der Staatsanwalt liess Wasser und Strom wieder anstellen. Mittlerweile beziehen die BewohnerInnen den Strom nicht mehr von der Fabrik, sondern aus einem Nachbarhaus, das dem Staat gehört. Daher das gefährliche Provisorium im Treppenhaus: Das Starkstromkabel läuft vom Verteilerkasten über die Stufen direkt in die Wohnungen.

Seither haben im Werk die Drohungen noch zugenommen: «Euer Haus kann auch mal abbrennen», habe ein Abteilungsleiter gesagt. Die Frauen berichten, dass ihnen auch schon mit der Omon, der Sonderpolizei, gedroht wurde. Und der Leiter des Werkschutzes sei vorbeigekommen und habe angekündigt, dass man künftig nachts die Männer nicht mehr einlassen werde. Die Ehemänner der Arbeiterinnen sind nicht im Wohnheim registriert und haben daher streng genommen kein Wohnrecht, eine Tatsache, die in den letzten 23 Jahren keine Rolle spielte. «Einmal hat uns ein Staatsanwalt besucht und gesagt: Was wollt ihr? Gegen die Textilfabrik könnt ihr ohnehin nichts erreichen.»

Natascha Musika studiert an einem College für Kleinbetriebe. Wie steht sie den Stress durch? «Am Anfang war das schwer. Jetzt hoffe ich, dass alles gut wird.» Doch nicht alle sind so ruhig wie die Studentin. Eine Achtzehnjährige wurde vor kurzem mit Unterzucker ins Krankenhaus eingeliefert, berichtet eine der Frauen. «Sie hat in drei Tagen sieben Kilogramm Gewicht verloren. Das war der Stress», sind sich die Frauen sicher. Doch die Vorgesetzten in der Fabrik wollen von all dem nichts wissen; da sei doch nichts erwiesen.

Ein Drittel für die Miete

«Wir produzieren hochwertigen Baumwollstoff», erzählt eine der Frauen. «Auf einer Ausstellung in Dresden haben wir eine Goldmedaille bekommen.» In der Stoffproduktion kennen sie sich aus. Sie stellen Bettwäsche, Kleider, Unterwäsche und Uniformen her. Sie sind stolz auf ihr Können, auf die vielen internationalen Auszeichnungen, die das Werk schon bekommen hat – und auch auf ihre Maschinen, die grossteils aus Deutschland kommen. Nur der Lohn ist kümmerlich – und das, obwohl die Frauen im Dreischichtbetrieb arbeiten.

Eine Maschinenarbeiterin verdient 10000 Rubel im Monat, das sind rund 440 Franken. Das einzige Privileg, das sie haben, ist das frühe Pensionsalter; sie können mit fünfzig in Rente gehen. Viel länger könnten sie jedoch ohnehin nicht arbeiten: Die chemischen Dämpfe, denen sie bei der Stofffabrikation ausgesetzt sind, beinträchtigen die Gesundheit. Das Geld reicht gerade zum Leben. Für das Zimmer im Wohnheim zahlen die Frauen 3000 Rubel, etwa 130 Franken.

Nach Schätzung der Stadtverwaltung leben in Moskau 800 000 FabrikarbeiterInnen und StudentInnen in Wohnheimen. Seit die Immobilienpreise in unermessliche Höhen schiessen, ist ihr Schicksal ungewiss. Die Immobilienfirmen suchen nach immer neuen Flächen, und so werfen Firmen und Universitäten ihre eigentlich für Angestellte beziehungsweise StudentInnen gedachten Wohnheime oft mit fadenscheinigen Gründen auf den Markt, obwohl das eigentlich verboten ist.

Doch es gibt Widerstand, der manchmal sogar Erfolg hat. Als im März das Gnesin-Musikinstitut 500 StudentInnen auf die Strasse setzen wollte, schlugen diese Krach und veranstalteten in der Innenstadt eine Kakofonie. Ihre Vertreibung wurde zumindest bis Sommer ausgesetzt.

Die ArbeiterInnen aus der Provinz und die Studierenden haben keine Lobby. Unterstützung erfahren die WohnheimbewohnerInnen nur von kleinen oppositionellen Gruppierungen – den TrotzkistInnen von der Revolutionären Arbeiterpartei, dem Institut für kollektive Aktion, das die Französin Carine Clément leitet, und von der Bürgerfront des früheren Schachweltmeisters Garri Kasparow.

Stadtflagge gegen Rassisten

Ortswechsel. «Darf ich aufs Gelände?», fragt Omar die Wache am Eingang eines Containerdorfs im Nordwesten von Moskau, «ich suche eine Unterkunft.» Omar [er bittet um die Verwendung eines Pseudonyms] will zeigen, wie die ArbeiterInnen aus Tadschikistan, Kirgisistan und Moldawien leben, und sucht einen Vorwand, um aufs Gelände zu kommen.

Der kleine Containerkomplex im Bezirk Schukinskaja, wo die Moskauer Baufirma Don Stroj Hochhäuser baut, ist von einer hohen Mauer und Stacheldraht umgeben. Ausser den Containern steht auf dem Gelände noch ein mehrgeschossiger weisser Fertigbau mit kleinen Fenstern. So in etwa sehen auch die russischen Gefängnisse aus.

Die kleine Stahltür in der Mauer – der einzige Zugang – wird vom Werkschutz bewacht. Neben dem Wachhäuschen hängt eine rote Fahne mit dem Stadtwappen von Moskau, das den Drachentöter Sankt Georg zeigt. Die Flagge ist wohl ein Fingerzeig für die Neonazis: Das Gelände, wird damit gesagt, gehört trotz der vielen AusländerInnen zur Russischen Föderation. Fast wöchentlich kommt es in Moskau zu rassistischen Überfällen auf Arbeiter und Studentinnen aus Afrika und Asien.

Der Wachmann, ein junger Bursche mit Bürstenhaarschnitt und einem Funkgerät am Gürtel, mustert uns misstrauisch. «Kommt morgen wieder. Dann ist der Chef da.» Währenddessen schlendern kirgisische Arbeiter mit ihren Freundinnen über den Hof. «Hier in Moskau erlauben sich die Männer das. Keiner achtet darauf», meint Omar. «Bei Don Stroj findest du Menschen aus fast allen Ländern. 95 Prozent der Beschäftigten sind Ausländer.» Und die vertragen sich? «Hier leben Aserbaidschaner und Armenier zusammen. Früher haben sie aufeinander geschossen. Im Container vertragen sie sich.»

Omar ist ein kräftiger Mann. Im Sommer arbeitet er in seinem Dorf in Dagestan, im Winter arbeitet er in Moskau. Seine Gesundheit hat er bei Don Stroj gelassen, wie er sagt. Die Baufirma hat in Moskau schon dreissig Hochhäuser hingeklotzt – schöner ist die Stadt dadurch nicht geworden. Don Stroj beschäftigt mit Vorliebe Arbeiter aus dem Kaukasus und aus Zentralasien. Das sind Moslems, sie sind diszipliniert, sie trinken nicht, sie müssen ihre Familien zu Hause ernähren und kennen in Moskau niemanden, der ihnen hilft, wenn ihnen der Lohn nicht ausbezahlt wird oder wenn es zu einem Arbeitsunfall kommt. Entschädigungen leistet die Firma nicht.

Omar hat sich für den Aufbau einer Gewerkschaft engagiert. «Don Stroj hat mich und andere um viel Geld betrogen», erzählt er. Sechs Monate habe man ihm keinen Lohn bezahlt. Berührungsängste gegenüber Linken kennt Omar nicht. «Mein Vater war Kommunist», sagt er und macht ein stolzes Gesicht. «Er war Kassierer in einer Kolchose. Später hat er Felder bewacht.» Kommunismus, dieses Wort ist für ihn gleichbedeutend mit sozialer Gerechtigkeit, mehr sagt es ihm nicht. Seiner Familie in Dagestan hat Omar trotzdem lieber nichts von seinen Aktivitäten erzählt. «Wozu die Leute ängstigen?»

Im März 2003 war Omar erstmals nach Moskau gekommen; «bei uns in Dagestan gab es keine Arbeit». Er lebte in einem Wohnheim. Das war zwar besser als in einem Container. Aber die Bewachung war streng. Zwischen morgens um neun Uhr bis abends um sechs Uhr darf sich niemand im Wohnheim aufhalten. «Man soll schliesslich arbeiten.» Ohne Ausweis wird keiner reingelassen. Und die Freundin? «Das ist dein Problem. Du kannst mit ihr zusammensein, wo du willst, bloss nicht im Heim.»

Ein Bauarbeiter bei Don Stroj verdient 18 000 Rubel, rund 780 Franken. «Ein Bauarbeiter, der auf eigene Rechnung arbeitet, kann sogar dreimal mehr verdienen», sagt Omar. Doch daran haben die Firmen, die die ArbeiterInnen aus Zentralasien nach Moskau schleusen, natürlich kein Interesse. Von ihrem Lohn bekommen die Beschäftigten nur einen Bruchteil ausbezahlt:. «Alle verdienen an dir – die Vermittlerfirma, der Abteilungsleiter, der Aufseher. Alle nehmen sich ein Stück. Und dir bleiben dann nur die 18 000 Rubel.»

Die ArbeiterInnen von Don Stroj wagen sich nirgendwohin. Sie haben Angst, dass sie von der Polizei aufgegriffen werden. Es ist schon vorgekommen, dass ein Polizist die Aufenthaltsgenehmigung für Moskau einfach zerrissen hat. Dann steht man da und ist ein Illegaler. «Natürlich wollen alle eine bessere Arbeit. Aber wie sollen sie die finden, wenn sie sich nicht in der Stadt bewegen können?» Viele ArbeiterInnen aus Tadschikistan können nicht einmal Russisch.

«Oft sind die Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen auch noch gefälscht», sagt Omar. Wären die ArbeiterInnen ordentlich angemeldet, müsste Don Stroj Sozialabgaben entrichten. «Selbst wenn die Firma nur für die Hälfte ihrer 40 000 Beschäftigten die Abgaben bezahlen würde, käme ein Haufen Geld zusammen.» Don Stroj, erläutert er dann, sei ein gut organisiertes Unternehmen; die illegalen Papiere besorgt die betriebseigene Rechtsabteilung.

Der gekaufte Film

Omar hat zuerst Beton gegossen. Dann hat er Wände verputzt. Danach gemauert. «Die Arbeit ist gefährlich.» Vor vier Jahren fiel eine Arbeiterin an einer dunklen Stelle in der dritten Etage in einen Liftschacht. Seither ist sie querschnittsgelähmt. «Sie bekam keine Entschädigung. Nur mit Mühe hat sie überhaupt ihren Lohn bekommen.»

2004 wurde Omar krank. Im Wohnheim hatte er sich Tuberkulose eingefangen. Acht Monate lag er im Krankenhaus. «Ich habe nicht mehr so viel Energie wie früher, manchmal bekomme ich kaum Luft.» Die Behandlung hat der Staat bezahlt, weil Omar aus einer russischen Teilrepublik stammt. «Alles, was ich jetzt erzähle, habe ich den Journalisten von Ren-TV auch gesagt. Doch der Bericht wurde nie ausgestrahlt. Don Stroj hat den Film gekauft, haben sie mir später erklärt.»

Immerhin: Im Februar 2005 kam es bei Don Stroj zum Streik. Die BaumaschinenfahrerInnen traten in den Ausstand, weil sie ein halbes Jahr lang keinen Lohn erhalten hatten. Die Geschäftsleitung reagierte hart. Sie drohte allen die Entlassung an und rief sogar die Sonderpolizei Omon. «Da haben wir dafür gesorgt, dass zwei Duma-Abgeordnete zu den Streikposten kamen», erzählt Sergej, ein Trotzkist, der sich am Aufbau einer Gewerkschaft beteiligte. Die beiden Parlamentarier – ein Abgeordneter der Kommunistischen Partei und der unabhängige Linke Oleg Schein – seien von Omon-Polizisten fast verprügelt worden, erinnert sich Sergej.

Der Streik war erfolgreich, die Firma zahlte schlussendlich die Löhne aus. Doch dann wurde die Gewerkschaftsarbeit immer schwieriger – und gefährlicher. Zwei Gewerkschaftsaktivisten verschwanden spurlos; später fand man zwei verkohlte Leichen. In der Duma kam der Fall zwar zur Sprache, aber «irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem alle aktiven Mitglieder entlassen waren». Auch Omar arbeitet heute nicht mehr bei Don Stroj.



Die Rückkehr der Leibeigenschaft

In Moskau gibt es drei Klassen von EinwohnerInnen, analysierte der britische Soziologe Brad K. Blitz in einer Studie. Erstens die alteingesessenen MoskauerInnen, die das Wahlrecht haben, Eigentum erwerben dürfen und die soziale Infrastruktur nutzen können. Zweitens MigrantInnen, die offiziell registriert sind, aber im Staatssektor keine Beschäftigung erhalten und deshalb in der Privatwirtschaft arbeiten. Ihr Bewegungsspielraum hängt von ihren Papieren und ihrem Geldbeutel ab. Drittens die MigrantInnen, denen die Registrierung in Moskau verweigert wird. Bürgerrechte haben sie nur an ihren Geburtsorten in Sibirien, Usbekistan, Kirgisistan oder im Kaukasus. Doch wer keine Papiere hat, bekommt keine legale Arbeit, kann die Kinder nicht zur Schule schicken und muss eine Behandlung im Krankenhaus selbst zahlen.

Zu Sowjetzeiten waren die Bewegungsmöglichkeiten strikt reglementiert. Die KolchosbäuerInnen durften zum Beispiel ihre Dörfer nicht verlassen. Für die StädterInnen gab es das System der «Propiska»: Ein Stempel im Pass dokumentierte das Aufenthaltsrecht an einem bestimmten Ort.

Einwanderquote: 1,8 Millionen

Anfang 2007 trat ein neues Migrationsgesetz in Kraft, das die Registrierung von ZuzügerInnen wesentlich vereinfachte. ArbeitsmigrantInnen bekommen jetzt auf der Post eine entsprechende Bescheinigung. Sie müssen nur ihren Pass, ihre Einreisebescheinigung von der Grenze und eine Genehmigung ihrer VermieterInnen vorlegen. Für das Jahr 2008 hat die russische Regierung eine Gastarbeiter-Einwanderquote von 1,8 Millionen Menschen festgelegt. «Das war ein Schritt in die richtige Richtung», sagt die Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina von der Organisation Bürgerbeistand, die sich seit Jahren um die Rechte der MigrantInnen kümmert. «Doch die Quote ist viel zu niedrig.»

Scheinexekution im Wald

Der Kreml hatte sich zu dieser Liberalisierung entschlossen, weil die Wirtschaft händeringend nach Arbeitskräften sucht. Ohne Zuwanderung geht in Russland nichts mehr, das hat man auch im Kreml eingesehen. Es herrscht vor allem Mangel an qualifizierten NachwuchsarbeiterInnen. Zudem sank die Bevölkerung in der Russischen Föderation seit 1989 um 5 Millionen auf 142 Millionen. Bis 2030 wird sie weiter abnehmen – auf 135 Millionen, wie ExpertInnen schätzen.

«Die Reform kommt zu spät», sagt die Menschenrechtlerin Gannuschkina. Inzwischen haben sich illegale Netze herausgebildet, die an den zugewanderten ArbeiterInnen verdienen. NutzniesserInnen sind PolizistInnen, illegale Vermittlungsbüros, BeamtInnen und Unternehmen. «Die Baufirmen haben kein Interesse an offiziell registrierten Beschäftigten», sagt sie. Und so geht die Ausbeutung der Sans-Papiers weiter. «Eine übliche Methode ist, den Arbeitern am Anfang eines Bauprojekts den Lohn zu bezahlen, um Vertrauen herzustellen. Dann stoppt die Bezahlung, und schliesslich wird der Arbeiter entlassen», berichtet Gannuschkina. Wer das Geld einfordert, wird eingeschüchtert.

Die angesehene Journalistin Soja Swetowa berichtete in der «Nowyje Iswestija» von einem nicht untypischen Fall. Aleksej Prygunow, der mehrere Autowaschanlagen in der südlich von Moskau gelegenen Stadt Orjol betreibt, warb über einen Polizisten in Usbekistan als Mittelsmann vierzig Usbeken für die Arbeit in den Waschanlagen an. Nach deren Ankunft nahm Prygunow ihnen Pässe und Handys ab und verkündete, dass sie jetzt erst einmal die Kosten für ihre Anwerbung und Registrierung abarbeiten müssten. Die Usbeken schufteten täglich vierzehn Stunden; freie Tage gab es nicht; zwanzig Leute mussten in einem Zimmer hausen. Wer sich beschwerte, wurde mit Baseballschlägern verprügelt. Ein protestierender Arbeiter wurde sogar zu einer Scheinerschiessung in einen Wald geführt, wo man ihm befahl, ein Grab auszuheben.

Schulterzucken und Zynismus

Aleksej Prygunow konnte sich sicher fühlen, denn er gehört der ehrenwerten Gesellschaft an – er ist Mitglied im städtischen Komitee zur Bekämpfung der Korruption. Jetzt steht der Unternehmer vor Gericht. Irgendwie hatten es seine usbekischen Arbeiter doch noch geschafft, den Geheimdienst FSB zu informieren.

Und die MoskauerInnen? Der wilde Kapitalismus und der Tschetschenienkrieg haben Mitgefühl und Solidarität schwinden lassen. Heute dominieren in der Stadt Schulterzucken, Zynismus und Kälte; Hilfe gibt es nur im Freundes- oder KollegInnenkreis. Um das Schicksal der MigrantInnen kümmern sich nur eine Handvoll Menschenrechtler und Journalistinnen.

Magnet Moskau

Moskau hat heute [2008] offiziell 10,5 Millionen EinwohnerInnen, tatsächlich sind es jedoch mehr. ExpertInnen schätzen, dass ein bis zwei Millionen ArbeiterInnen nicht registriert sind. Die Russische Migrationsbehörde geht davon aus, dass im gesamten Land rund zehn Millionen ArbeitsmigrantInnen leben, davon fünf bis sieben Millionen Illegale.

Die alteingesessenen MoskauerInnen, deren Vorväter einst ebenfalls zugewandert waren, stöhnen über die MigrantInnen aus der russischen Provinz, aus Zentralasien und dem Kaukasus. Der Wohnungsmarkt und die Verkehrsbetriebe können den Ansturm kaum verkraften.

Zu Sowjetzeiten schätzte sich glücklich, wer den Sprung nach Moskau geschafft hatte. Hier hatten die Geschäfte Waren, hier gab es die bessere Wurst, die besseren Wohnungen. Und man konnte AusländerInnen treffen und Beziehungen knüpfen. In den neunziger Jahren kollabierte jedoch die Industrie, viele Fabriken schlossen die Tore. Und an den Rändern des ehemaligen Sowjetreichs brachen Kriege aus, die viele nach Moskau flüchten liessen.

Die Banlieue-Serie

Dies ist der vierzehnte Teil unserer Serie über die Banlieues, die Ghettos, die Slums und die Arbeiterquartiere der Welt. Bisher erschienen Reportagen aus Marseille, Bombay, Buenos Aires, Istanbul, Nairobi, Berlin, Beijing, Sevilla, Manila, Rio de Janeiro, Lagos, San Francisco und Mexiko-Stadt.

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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