Der WOZ-Blog zum Ukrainekrieg

Friedensdiplomat in eigener Sache

Heute setzten sich in der Türkei erstmals seit Kriegsbeginn die Aussenminister der Konfliktparteien an einen Verhandlungstisch. Präsident Erdogan als Vermittler verfolgt dabei ganz eigene Interessen.

Die Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine wird für die Türkei immer mehr zu einem Drahtseilakt: Als einziges Nato-Mitglied hat die Regierung von Recep Tayyip Erdogan den eigenen Luftraum für russische Flugzeuge nicht gesperrt. Zwar verurteilt sie Russlands Vorgehen, beteiligt sich aber nicht an Sanktionen gegen das Land. Denn die Türkei unterhält enge Beziehungen sowohl zu Russland als auch zur Ukraine. Deswegen wiederholt die Regierung regelmässig, die Kontakte zu keinem der beiden Partner aufgeben zu wollen, und bemüht sich in diesem Konfliktum eine neutrale Haltung und eine Deeskalation.

In den vergangenen Monaten haben sich Erdogan und sein Aussenminister Mevlüt Cavusoglu mehrfach als Vermittler zwischen den Parteien angeboten. Auf Initiative Ankaras redeten heute im türkischen Badeort Antalya erstmals der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba und sein russischer Amtskollege Sergei Lawrow miteinander. Allerdings sind die Gespräche ergebnislos geblieben – immerhin wollen die beiden Aussenminister weiterverhandeln.

Drohnen für die Ukraine

Erdogan will die Tür weder zur Ukraine noch nach Russland zuschlagen: Denn Kiew und Ankara sind während seiner Amtszeiten zu wichtigen Handelspartnern geworden und haben Handelsabkommen und Waffenverkäufe in Milliardenhöhe unterzeichnet. So setzt die Ukraine aktuell Kampfdrohnen ein, die von der Türkei noch vor dem Ausbruch des Kriegs geliefert worden sind. Noch vor wenigen Tagen sollen erneut türkische Drohnen in die Ukraine geliefert worden sein.

Um Zurückhaltung bemüht, hat Ankara nach langem Lavieren erst vergangene Woche den Zugang von russischen Kriegsschiffen zum Schwarzen Meer eingeschränkt. Damit setzte es das Montreux-Abkommen von 1936 durch, das den Seeverkehr in den türkischen Meerengen regelt. Doch Aussenminister Cavusoglu war es wichtig zu betonen, dass diese Massnahme nicht gegen Russland gerichtet sei, sondern dass lediglich internationales Recht angewendet werde.

Rohstoffe aus Russland

Denn noch engere Beziehungen pflegt Erdogan zu Wladimir Putin – beide haben sich schon mehrfach «Freunde» genannt. Vor allem aber ist die Türkei abhängig von russischen Rohstoffen: Im Jahr 2020 stammten fast 34 Prozent der Gasimporte und rund 65 Prozent der Weizenimporte vom Schwarzmeernachbarn. Der russische Staatskonzern Rosatom ist federführend beim Bau des ersten Atomkraftwerks in der Türkei, das 2023 in der Provinz Mersin seinen Betrieb aufnehmen soll. Das AKW soll mehr als zehn Prozent des türkischen Energiebedarfs abdecken.

Steigende Energie- oder Lebensmittelkosten sind das Letzte, was Erdogan jetzt noch gebrauchen kann. Im Februar sind die Konsument:innenpreise so hoch geklettert wie seit über zwanzig Jahren nicht mehr, teilte vergangene Woche das türkische Statistikamt mit. Wenn die Preise jetzt noch weiter nach oben gehen, könnte das den Unmut gegen die AKP-Regierung und Präsident Erdogan weiter befeuern – und im Sommer 2023 sind in der Türkei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen geplant.

Die Gespräche in Antalya geben Erdogan auch die Gelegenheit, sich als verlässlicher Partner der Nato zu beweisen. Mit dem Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400 und der Ankündigung, die militärische Zusammenarbeit mit Moskau noch weiter auszubauen, hat die Türkei ihre Verbündeten verärgert. Wenn sich Erdogan jetzt als Friedensdiplomat inszeniert, dann geht es ihm um sein eigenes politisches Überleben – und sein Image in der internationalen Gemeinschaft.