Putin-Versteher:in werden
Der Wahnsinn hat Methode: Wer Wladimir Putin etwas entgegnen will, muss sich vertieft mit ihm beschäftigen.
«Hitler war doch echt blöd!», rief meine Mitschülerin einmal aus, nachdem unser Geschichtslehrer uns Neuntklässler:innen mit den Schrecken des «Dritten Reiches» konfrontiert hatte. Heute lese ich auf allen sozialen Medien: «Putin ist böse», «Putin ist irre», «Putin ist dämlich». Vermutlich habe ich noch mehr persönliche Gründe als die meisten westeuropäischen Mitbürger:innen, in dieses Gezeter einzustimmen. Doch moralische Entrüstung sollte Ergebnis von Einsicht sein und nicht ihr ritualisierter Ersatz.
Deshalb möchte ich alle einladen, zu Putin-Versteher:innen zu werden, bevor sie zu vollgültigen Putin-Hasser:innen avancieren. Dass wiederum Putin-Freund:innen, die auch Putin-Versteher:innen genannt werden, Putin gerade nicht verstehen, ist eine offensichtliche sprachliche Ironie. Doch auch unter den Putin-Gegner:innen finden sich hierzulande nicht wenige, die eine zwar äusserst negative, gleichwohl sehr krude Vorstellung von Putin haben.
Vom Strassenschläger zum Geheimagent
Ist Putin also böse? Wenn der Nachbarsjunge auch manchmal böse ist, dann kann dieser Begriff der Monstrosität eines Putin schwerlich gerecht werden. Eher schon liesse er sich mit einem hinterhältigen Strassenschläger vergleichen. So viel man auch mit dem Boxsack trainiert hat – der Schläger wird immer entscheidend im Vorteil sein: Er hat meist nichts zu verlieren. Er ist enthemmt. Und er ist in Strassenschlachten erfahren.
Europa hat Selbstverteidigungskurse absolviert, aber Putin ist ein Schlägertyp. Er ist dem einigermassen humanistischen Westen in gewisser Weise überlegen, weil er keine Skrupel kennt, selbst gegenüber den eigenen Leuten nicht. Nach alter russischer Sitte sind diese für ihn nichts als Kanonenfutter – was man heute daran erkennt, dass unausgebildete, ahnungslose Militärdienstleistende unter dem Vorwand angeblicher Schulungen in die Ukraine und damit in den Tod geschickt werden.
Aber Putin ist nicht nur ein Schläger, der auf St. Petersburgs Strassen aufgewachsen ist. Er ist auch durch die Schule der sowjetischen Geheimdienste gegangen. Deren Handlanger, die sogenannten Silowiki, haben das Land seit vielen Jahren fest im Griff. Wir haben es insofern nicht bloss mit einem Schurken-, sondern mehr noch mit einem Schergenstaat zu tun. Wenn diese Menschen etwas wissen, dann wie man manipuliert, zermürbt, einschüchtert und demoralisiert. Ihre Pläne halten sie tunlichst geheim, das Weltgeschehen und sich selbst inszenieren sie im jeweils nötigen Licht, in ihrem Denken lassen sie sich stets von stragischer Perfidie leiten.
Die Reputation ist ihm egal
Putins Handlungen freilich erscheinen irrational. Ist Putin also irre? Fraglos – in dem Sinne, dass er soziopathisch und also vollkommen gewissenslos genannt werden muss. Doch innerhalb seines pervertierten Wertesystems bleibt sein Vorgehen durchaus kohärent: Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode. Spätestens mit dem Kaukasuskrieg im Jahre 2008 zeichnete sich die aggressive imperiale Expansionspolitik Putins ab, deren Zuspitzung wir in der jetzigen Invasion erleben.
«Der Verrückte ruiniert damit doch aber seine Reputation!», höre ich nun die westlichen Demokraten staunen. So können sich nur Menschen wundern, die weder von Russland noch von sonstigen autoritären Systemen eine Vorstellung haben. Ein um seine Reputation besorgter Diktator wäre ein wunderliches Novum. Fürchtete Stalin vielleicht den Gesichtsverlust?
Kalkuliert unberechenbar
Nun verhält sich Putin aber auch sonst widersinnig und unvorhersehbar und abstrus. Meist erklärt man dann, er existiere in einer eigenen Realität. Das mag teilweise stimmen. Doch handelt es sich vielfach auch um die Anwendung einer Art Madman-Theorie: Putin produziert kalkulierte Unberechenbarkeit. Damit schürt er Angst – und es bleibt in der Tat unklar, wozu er letztlich fähig ist. Wir sollten jedenfalls lieber nicht darauf spekulieren, dass Putin zu einem strategielosen Irrgänger wird, und für alle Fälle damit rechnen, dass seine Aktionen irgendeinem Plan folgen.
Gegen Strategie jedoch hilft nur Strategie. Im Umgang mit Putin muss – selbst im Fall militärischer Antworten – vorsichtige und vorausschauende Reflektiertheit walten. Daher wäre unter anderem dringend angeraten, dass die Schweiz russische, ukrainische und belarusische Oppositionsgruppen in Europa unterstützt. So könnten auf Grundlage einheimischer Expertise längerfristige Widerstandsformen und tragfähige Modelle einer innerstaatlichen Transformation entstehen.
* Alexander Estis, 1986 in Moskau geboren, lebt als freier Autor in Aarau. Letztes Jahr erschien von ihm das «Handwörterbuch der russischen Seele». Mehr Infos auf www.estis.ch.