Das Putin-Regime: Die innere Logik des Krieges
Verteidiger:innen Wladimir Putins argumentieren meist geopolitisch. Dabei lässt sich der gegenwärtige Krieg viel besser mit Blick auf das russische Regime erklären – auf dessen aussenpolitischen Revanchismus, vermischt mit nationalem Einheitskult.
Rund zwei Wochen lang war es ziemlich still im Lager der Wladimir-Putin-Versteher:innen im Westen. Zu offensichtlich war es, dass der russische Diktator in der Ukraine einen grausamen Angriffskrieg gegen einen Nachbarstaat und dessen friedliche Bevölkerung begonnen hatte. Doch kaum ist der erste Schock vorbei, melden sich wieder Stimmen zu Wort, die Verständnis für die russische Politik zeigen. Der verschwörungstheorieaffine Historiker Daniele Ganser etwa schreibt, die Wurzeln des Krieges lägen in der Nato-Osterweiterung der neunziger Jahre und in der westlichen Unterstützung der Euromaidan-Proteste von 2014, die er in Kremlmanier als von den USA inszenierten «Putsch» beschreibt.
Wenn nicht zur offenen Rechtfertigung, so wird das Nato-Argument doch häufig zur Relativierung herbeigezogen. Konservative «Realist:innen» wie der Politologe John Mearsheimer erklären: Die Osterweiterung der Nato und die Annäherung der Ukraine hätten Russlands ureigene Interessensphäre verletzt; eine Grossmacht könne dies nicht zulassen. Erstaunlicherweise übernehmen auch Teile der Linken diese zynische Weltsicht oder fügen eine moralische Komponente bei: Der Westen sei mit seiner Gier nach immer weiterer Ausdehnung zumindest mitschuldig am Leid der Ukrainer:innen. Ukrainische Linke haben diese Position hart kritisiert. Der Historiker Taras Bilous sprach etwa vom «Antiimperialismus der Idiot:innen», die anarchistische Autorin Zosia Brom von unerträglichem linkem «westsplaining».
Es gibt genügend Gründe, das Nato-zentrierte Narrativ zu kritisieren, das sich alleine auf die Grossmachtsinteressen bezieht und den politischen Willen der betroffenen Bevölkerungen übergeht. Die Staaten Ostmitteleuropas sind der Nato nicht beigetreten, weil jene darauf bestand, sondern weil die Regierungen dieser Länder nach jahrzehntelanger Zwangsmitgliedschaft im Warschauer Pakt den Bündniswechsel anstrebten. Nun sehen sie sich bestätigt. In der Ukraine wiederum gab es erst Umfragemehrheiten für eine Nato-Mitgliedschaft, nachdem Putin 2014 im Land intervenierte, die Krim annektierte und die Separatist:innen im Donbass unterstützte. Trotzdem blieb die Ukraine bis anhin neutral. Kein klarer Weg zur Nato-Mitgliedschaft war vorgezeichnet. 2008 war sie diskutiert, aber letztlich auf Eis gelegt worden.
Interesse an der Gegenwart verloren
Obwohl die westliche Politik längst nicht immer klug und zielführend war, ist es doch eine unzulässige Verzerrung, zu behaupten, Putin sei vom Westen zum Krieg gedrängt worden. Wichtiger aber ist: Dieser Krieg lässt sich aus einer inneren Logik des Putin-Regimes heraus erklären, die von der geopolitischen Konkurrenz völlig unabhängig ist. In erster Linie sind es drei Gründe, die aus Sicht des Kreml dafür sprachen, das Nachbarland anzugreifen: Putins Obsession mit der gemeinsamen Geschichte beider Länder, die politische Kultur der Ukraine und die (erwartete) einigende Wirkung des Krieges innerhalb Russlands.
Putins historische Obsession nimmt bisweilen groteske Züge an. Er habe jedes Interesse an den Problemen der Gegenwart verloren, schrieb kürzlich der russische Journalist Michail Sygar. Vergangenen Juli publizierte der Kreml unter dem Namen des Präsidenten den langen Essay «Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern». Darin greift Putin direkt auf die Ideen russischer Nationalisten aus dem 19. Jahrhundert zurück. Diese propagierten damals die These einer «dreieinigen russischen Nation», der nebst den Russ:innen auch Belaruss:innen und «Kleinruss:innen» (so der damals übliche Terminus für die Ukrainer:innen) angehörten. In dieser Erzählung bilden die beiden Länder eine historische Einheit, die jeweils nur durch die Intrigen ausländischer Mächte zwischenzeitlich auseinandergerissen wurde. Während die Unterstützer des Zarenreichs Polen, Österreich oder Deutschland am Werk sahen, beschreibt Putin die ukrainische Unabhängigkeit als das Werk der Bolschewiki, die der Ukraine ein eigenes Territorium und kulturelle Autonomie zugestanden, und als jenes der USA.
Die Wirklichkeit ist natürlich komplizierter: In der Geschichte der russisch-ukrainischen Beziehungen gab es sowohl Phasen der Annäherung als auch des Konflikts. Während die kulturelle und die politische Selbstständigkeit der Ukraine im 19. Jahrhundert unter den örtlichen Eliten umstritten waren, herrscht heute im Land ein überwältigender Konsens über die Eigenstaatlichkeit. Für Putin ist dies unvorstellbar: Mit Informationen nach seinem Gusto gefüttert, glaubte er wohl tatsächlich, viele Ukrainer:innen würden seine Truppen mit offenen Armen empfangen. Den Krieg scheint er als Gelegenheit zu sehen, die «dreieinige russische Nation» wieder zu vereinen und die «geopolitische Katastrophe» des sowjetischen Zusammenbruchs rückgängig zu machen.
Die politische Kultur
Auch für den zweiten Grund findet sich in Putins Essay ein Hinweis. Der Westen habe die postsowjetische Ukraine als «Antirussland» konzipiert, schrieb Putin dort. Etwas Wahres ist an diesem Begriff durchaus: Tatsächlich haben die Ukrainer:innen über die letzten dreissig Jahre ein Gegenmodell zu Putins Russland geschaffen. Sie haben gezeigt, wie sich postsowjetische Staaten in Richtung einer pluralistischen Demokratie mit aktiver Zivilgesellschaft bewegen können. Zwar nicht frei von Korruption und extremem Nationalismus, aber doch sehr viel partizipativer als die Diktatur im Nachbarland.
Trotz einiger Sprachgesetze zugunsten des Ukrainischen sprechen Millionen von Ukrainer:innen im Alltag nach wie vor Russisch. So hat sich in der Ukraine eine pluralistische, demokratische Öffentlichkeit gebildet, die in zwei Sprachen debattiert und streitet. Die Bevölkerung ist politisch relativ mobilisiert – anders als in Russland, wo das Regime alles daran setzt, die Leute gleichgültig und passiv zu machen. Die Proteste von 2020 in Belarus und jene in Kasachstan Anfang dieses Jahres dürften Putins Wahrnehmung verstärkt haben, dass die Ukraine ein politischer Unruheherd in der Region ist, der auch auf vermeintlich stabil-autoritäre Nachbarländer ausstrahlen kann.
Gerade die fortbestehende kulturelle Verwandtschaft Russlands und der Ukraine macht die divergierende politische Kultur zum Problem für Putins Regime. Mehr denn je zeigt sich dies in den Bildern, die uns aktuell aus den belagerten Städten erreichen: Im besetzten Cherson etwa beschimpfen Protestierende Russlands Soldaten als «Faschisten und Okkupanten» und greifen damit auf den sowjetischen Diskurs zurück, der mit dem Begriff «Faschist» die Angreifer der Heimat markiert. In Odessa singen Mitglieder der Oper Verdi und stellen so, ebenso in Anlehnung an einen sowjetischen Topos, die Zivilisiertheit der Angegriffenen der Barbarei der Invasoren gegenüber. Die Menschen in der Ost- und der Südukraine sprechen auch im übertragenen Sinn dieselbe Sprache wie Putins Soldaten. Doch politisch verorten sie sich nicht in dessen Russland, erst recht nicht, seitdem es ihre Städte bombardieren lässt.
Die Radikalisierung nach innen
Der dritte Grund hat schliesslich mit der Radikalisierung des Putin-Regimes nach innen zu tun. Gab es in den frühen nuller Jahren noch wirtschaftsliberale Minister im Regierungskabinett, wird der Staatsapparat schon lange von den Silowiki – autoritär gesinnten ehemaligen Geheimdienstlern – dominiert. Spätestens seit Putins Rückkehr ins Präsidentenamt 2012 ist seine Regierung gegen Kritiker:innen immer repressiver vorgegangen. Wie viele autoritäre Regierungen strebt auch das Putin-Regime die unkritische Einheit der Bevölkerung an. Nicht ohne Grund heisst die Regierungspartei «Einiges Russland».
Wer die Einheit stört, wird als fremd markiert und schikaniert. 2012 unterzeichnete der Präsident ein Gesetz, das dem Staat erlaubt, NGOs, die Gelder aus dem Ausland beziehen, in ein Register «ausländischer Agent:innen» einzutragen. Seit 2020 kann der Staat auch Einzelpersonen als Agent:innen stigmatisieren. Der prominenteste Kritiker der Regierung, Alexei Nawalny, wurde erst vergiftet und nach seiner Rückkehr ins Land mit lächerlichen Begründungen zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Seine Organisation wurde zerschlagen. Dazu kommt der Versuch der vollständigen Kontrolle über die Geschichte: So verbot die Regierung im vergangenen Dezember etwa die traditionsreiche Organisation Memorial, die sich für die Erinnerung an die Opfer des Stalinismus einsetzt.
Die proklamierte innere Einheit verlangt nach einem äusseren Feind. Seit Putin Russland regiert, hat er seine Macht im Inneren regelmässig durch Krieg gefestigt. Der äusserst brutale Zweite Tschetschenienkrieg, den Putin 1999 noch als Premierminister begann, half ihm, in der russischen Öffentlichkeit überhaupt als harter politischer Führer bekannt zu werden. Nach dem kurzen und erfolgreichen Krieg gegen Georgien um die beiden abtrünnigen Provinzen Abchasien und Südossetien 2008 erreichten seine Umfragewerte mit 88 Prozent ihren Höchstwert. Die unblutige Besetzung der Krim 2014 liess Putins Beliebtheitswerte in Russland erneut in die Höhe schnellen: von nur noch gut 60 wieder auf über 80 Prozent. Einen einigenden Effekt erwartete er nun wohl auch vom Angriff auf die Ukraine.
So erklärt sich auch Putins jüngster Krieg aus den Bedürfnissen seiner autoritären Herrschaft. Er ist eine logische Konsequenz eines Regimes, das sich über die Jahre radikalisiert hat und das aussenpolitischen Revanchismus mit harter Repression und nationalem Einheitskult verbindet. Die europäischen Staaten haben diesem Regime jahrelang zugedient, indem sie sich von seinen Rohstoffen abhängig gemacht haben, indem sie an seinen Oligarchen Geld verdient haben und indem sie die Beeinflussung ihrer eigenen Innenpolitik hingenommen haben. Auch Russlandbeobachter:innen – und ich nehme mich nicht davon aus – haben unterschätzt, wie destabilisierend das Putin-Regime auf Europa wirkt. Darin, und nicht im Versuch der Integration osteuropäischer Staaten in westliche Strukturen, liegt die Mitverantwortung des Westens für diesen Krieg.
Fabian Baumann ist Historiker und derzeit Postdoc an der University of Chicago.