Brasilianische Lebenskunst: Hauptsache ein Stadion

Alex Bellos’ Buch über den brasilianischen Fussball ist eine Kollektion von Reisereportagen und Porträts, oft recherchiert in Gegenden, von denen viele nicht einmal wissen, dass es sie gibt.

Nirgendwo ist das Reservoir an Top-Fussballern so gross wie im 170-Millionen-Einwohner-Staat Brasilien, und falls es noch eines weiteren Belegs bedurfte, lieferte ihn in diesem Sommer die Copa América, die Kontinentalmeisterschaft der südamerikanischen Auswahlteams: Die Brasilianer traten dort mit einer B-Elf an, ohne Ronaldo, ohne Ronaldinho, ohne Kaká und ohne Roberto Carlos – und entschieden den Wettbewerb trotzdem für sich.

Sind das nicht paradiesische Zustände? Mitnichten. Das wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, wie viele Spieler die in jüngerer Vergangenheit amtierenden Nationaltrainer Brasiliens eingesetzt haben: Wanderley Luxemburgo griff in zwei Jahren auf 92 Akteure zurück und Emerson Leão auf 62 in sechs Monaten. Ebenfalls 62 setzte Brasilien in den insgesamt 18 Qualifikationsspielen für die WM 2002 ein, Argentinien, auch nicht gerade mit einer geringen Spitzenspielerdichte gesegnet, dagegen nur die Hälfte.

Der Druck der Spielerberater

Der Autor Alex Bellos greift diese Zahlen in seinem Buch «Futebol» auf, um eine Gesetzmässigkeit zu veranschaulichen: Kaum ist man auf ein Beispiel gestossen, das vom Glanz des brasilianischen Fussballs kündet, wird man schon wenige Momente später mit einer dunklen Seite des Spiels konfrontiert. Die hohe Fluktuation in der Mannschaftsaufstellung der Seleção ist beispielsweise allein ökonomischen Interessen geschuldet: Weil das Nationalteam als Schaufenster für die europäischen Klubs dient, versuchen die Spielerberater mit allerlei Mitteln auf eine Nominierung ihrer Schützlinge hinzuwirken. Auch der Export der zahlreichen Talente hat einen wenig glamourösen Aspekt: 5000 brasilianische Fussballer sind im Ausland tätig – sie sind unter anderem in der ersten Liga der Faröer zu finden oder in manch europäischer Wald-und-Wiesen-Liga –, und die meisten von ihnen bieten ihre Arbeitskraft dort an, weil in ihrem Heimatland 90 Prozent der Spieler weniger als 140 Euro pro Monat verdienen.

«Futebol», 2002 im englischen Orginal und jetzt auf Deutsch erschienen, ist eine Kollektion von Reisereportagen und Porträts rund um den Fussball, oft recherchiert in Gegenden, von denen die meisten EuropäerInnen, sogar solche, die sich als grosse FreundInnen der brasilianischen Kickkunst bezeichnen, gar nichts wissen. Entstanden sind die fünfzehn Kapitel über «die brasilianische Kunst des Lebens» (Untertitel) zu einer Zeit, als der Autor in Rio als Korrespondent für die britische Tageszeitung «Guardian» und die Sonntagszeitung «Observer» arbeitete. Innerhalb eines Jahres legte er bei Flügen quer durch Brasilien ungefähr die Strecke einer Erdumrundung zurück.

Der Fussball durchdringt in Brasilien die Politik und die Religion und sämtliche Bereiche des Alltags – und umgekehrt. Als grösste nationale Tragödie, anzusiedeln ungefähr zwischen einem verlorenen Krieg und dem Kennedy-Mord, gilt die WM-Endspiel-Niederlage 1950 – ausgerechnet im eigenen Land, im monumentalen Maracanã-Stadion, und dann auch noch gegen den kleinen Nachbarn, das drei Millionen Einwohner starke Uruguay. Die am meisten Aufsehen erregende private Tragödie in der Geschichte des brasilianischen Fussballs zeichnet Bellos ebenfalls nach: der tiefe Sturz des Stürmerstars Garrincha. Der Autor ist den Spuren des Volkshelden gefolgt, der zweimal Weltmeister wurde und sich 1983, im Alter von 49 Jahren, schliesslich ins Grab soff. Bellos hat dabei eine Tochter Garrinchas ausfindig gemacht, die heute in schockierend armseligen Verhältnissen lebt.

Was für eine enorme Bedeutung der Fussball in Brasilien hat, lässt sich auch an exzessivem Fan-Verhalten ablesen. Da ist die 75-jährige Anhängerin von Recife Club Sport, die seit 25 Jahren nur rote und schwarze Kleidungsstücke trägt, weil das halt die Vereinsfarben sind, und da sind die Fans von Corinthians, die, frustriert von einem Spiel, mittels Strassensperre den Mannschaftsbus stoppen, um diesen schliesslich mit Steinen und Brechstangen anzugreifen. Für sich genommen wirkt das exotisch oder durchgeknallt, aber je mehr man von Bellos’ Gesamtbild erfasst, desto normaler kommt einem diese Leidenschaftlichkeit vor.

Funktionäre als Feudalherren

Das gilt auch für die Geschichte aus Brejinho, gelegen im Nordosten des Landes. Bellos ist in dieses verarmte, trostlose 3000-Seelen-Dorf gereist, das 500 Kilometer von der Küste entfernt liegt. Die Einwohner ernähren sich hier von Kaktus, wenn die Dürre gross ist, und trotzdem ist, weil den Menschen nichts wichtiger war als das, dort vor wenigen Jahren ein Stadion für 10 000 ZuschauerInnen gebaut wurden. Mit allem Schnickschnack: Eine Kabine für Radioreporter gibt es und gleich vier Kassenhäuschen, obwohl der Klub, der dort spielt, zu unbedeutend ist, als dass jemals ein Radiomann käme oder man überhaupt Eintritt verlangen könnte. Bellos schreibt, das Stadion wirke auf ihn «wie ein Kreuzfahrtschiff, das in einem ausgetrockneten See gestrandet» sei.

Aus ihrem überdimensionierten Stadion beziehen die BewohnerInnen Stolz und Selbstbewusstsein. Dass die Menschen so ticken, wusste schon die einstige Militärregierung. Um ihre Herrschaft zu stabilisieren, liess sie in den siebziger Jahren ausgiebig riesige Stadien bauen, so dass es 1978 27 Stadien mit einer Mindestkapazität von 45 000 Plätzen gab, darunter sogar fünf mit mehr als 100000.

Der Totalitarismus ist im brasilianischen Fussball auch heute noch präsent, vielerorts fehlt es an demokratischen Strukturen, und manche Spitzenfunktionäre gerieren sich wie Feudalherren. Bellos war vor Ort, als bei einem Gedränge im Stadion von Vasco da Gama ein Zaun niedergerissen und rund 170 Fans verletzt wurden. Eurico Miranda, der rüpelhafte Präsident von Vasco und damals noch Kongressabgeordneter, stapfte indessen über den Platz – wütend darüber, dass Hilfskräfte im Einsatz waren, und einzig darum bemüht, die Dramatik des Ereignisses herunterzuspielen, damit das Spiel auf alle Fälle stattfinden könne. Als schliesslich der Gouverneur des Staates die Partie absagte, nannte Miranda ihn einen Schwulen und ein Weichei.

Kein Wunder, dass politische Mauscheleien einem Verein mal eben den Aufstieg in die nächsthöhere Spielklasse bescheren können, obwohl es sportlich dafür nicht gereicht hat. Wenig erstaunlich auch, dass Fernando Collor de Mello, 1989 der erste gewählte Staatschef nach dem Ende der Militärdiktatur, gleichzeitig der erste Präsident des Landes war, der in der Öffentlichkeit als Vereinsboss bekannt geworden war. Seine Zeit an der Spitze des CSA Maceió war für die politische Laufbahn, die der Spross einer Medienunternehmerfamilie einschlug, enorm wichtig, und es gibt zweifellos Ähnlichkeiten zu Berlusconi, auch wenn der korrupte Collor als Präsident des Landes schnell scheiterte.

Vergammelter kleiner Reichtum

Stets springt auf die LeserInnen über, was Alex Bellos empfunden hat bei seinen Trips durch die teilweise fremde Fussballwelt. «Futebol» ist letztlich ein romantisches Buch – obwohl in der heissen Recherchephase der grösste Skandal im brasilianischen Fussball aufgedeckt wurde. Erstmals beschäftigten sich gleich zwei parlamentarische Untersuchungskommissionen mit den Gepflogenheiten in diesem Gewerbe, und 2001 lag schliesslich ein 686 Seiten starker Bericht vor, in dem die kriminellen Vergehen von 33 Verbandsfunktionären aufgeführt wurden. Die hatten sich fürstliche Löhne genehmigt und ihre Organisation auch sonst als Selbstbedienungsladen betrachtet – weshalb man schon einmal 16 Millionen Dollar jährlich für Reisekosten veranschlagte.

Bei den Protagonisten des brasilianischen Fussballs hat die Beziehung zum Geld schon auf unterschiedlichste Weise bizarre Blüten getrieben. Garrincha etwa, die traurige Gestalt, gab die Prämie für einen der beiden WM-Titel-Gewinne seiner Gattin, die das Geld dann unter der Matratze eines Kinderbetts versteckte. Als sie sich Jahre später daran erinnerten, fanden sie nur noch wertloses Papier – weil das Kind das Bett immer wieder eingenässt hatte, war der kleine Reichtum vergammelt.

Alex Bellos: Futebol Fussball, die brasilianische Kunst des Lebens. Edition Tiamat. Berlin 2004. 400 Seiten. Fr. 31.90