Bücher und ihre Zeiten: Kinderängste

Károly Paps Roman «Azarel» erschien wenige Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg in Ungarn und sorgte damals für Schlagzeilen der Entrüstung.

«Azarel» ist die Geschichte von Kinderängsten – so könnte man den Roman mit einem Stichwort zusammenfassen, denn Károly Pap erzählt von den ersten zehn Jahren eines Knaben, der sich von der gesamten Umgebung bedroht fühlt und daher fürchtet, den Boden unter den Füssen zu verlieren.

Ganz so allgemeingültig wird das Leben in Paps Roman allerdings nicht geschildert. Der junge Azarel wächst als Sohn eines Rabbiners auf, seine Umgebung sind die Synagoge, dunkle Häuser und die gestrengen Eltern in einer westungarischen Stadt. Zeit des Geschehens: Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Damals war der Autor, 1897 geboren, selbst zehn Jahre alt, und er war wirklich Sohn eines angesehenen, aufgeklärten Rabbiners. Solche Parallelen und dass Pap die katastrophale Jugendzeit seiner Romanfigur dem strengen Elternhaus anlastete, wurden 1937, als das Buch erschien, von jüdischen Kreisen aufs Schärfste verurteilt. Und erstaunlich bleibt es auch aus heutiger Sicht, dass ein Schriftsteller ausgerechnet gegen Ende der dreissiger Jahre Kritik (Selbstkritik!) am jüdischen Leben übt.

Als Paps Roman mit dem Negativbild einer Rabbinerfamilie erschien, war Stefan Zweig bereits drei Jahre im Exil, dort entstand später sein «Die Welt von gestern», ebenfalls ein Bild jüdischen Lebens, eine grosse, wertfreie Darstellung. Interessant ist noch ein weiterer Zeitvergleich: In seiner «Ungarischen Literaturgeschichte», die bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren hat, schrieb Antal Szerb («Reise im Mondlicht») 1934, dass sich die Literatur in Ungarn seit Ende des 19.Jahrhunderts in eine aufgeklärte Richtung entwickelt habe. Dieser neuen Richtung war es gleichgültig, ob die Autoren aus christlichen oder jüdischen Familien stammten, entscheidend seien die neuen Denkweisen gewesen. Durch die Vermischung verschiedener Gesellschaftsschichten war die Literatur im anbrechenden 20.Jahrhundert auffallend produktiv, so Szerb weiter. In dieser allgemein freien Atmosphäre hatte Károly Pap wohl gemeint, sein von Traditionen, aber auch von der Aufklärung bestimmtes Elternhaus unter die Lupe nehmen zu können. Nur war es für derartige Untersuchungen damals schon zu spät.

Solche Zeitvergleiche sind angesichts der gegenwärtigen Situation in Ungarn wichtig. Der Antisemitismus war in der Vorkriegszeit vielleicht im Alltagsleben bemerkbar, innerhalb der Literatur aber kaum.

Aber zurück zu Paps Roman, der mehr als nur ein persönliches Schicksal beleuchtet: Azarels Grossvater, ein strenggläubiger Jude, ist entrüstet über das oberflächliche Leben seiner Söhne. Daher verlangt er, ein Enkelkind nach seinen eigenen alten Prinzipien aufziehen zu dürfen. Man wagt ihm nicht zu widersprechen, und so wird Azarel schon bald nach seiner Geburt dem Greis übergeben. Er wächst in einem einfachen Zelt auf, seine Spielsachen werden verbrannt, Tag und Nacht wird gebetet, und es gibt nur das Thema Gott.

Dann stirbt der Grossvater. Azarel kehrt zu den Eltern und den älteren Geschwistern zurück und kommt mit dem ungewohnten Leben nicht zurecht. Für seine Begriffe sind alle Personen um ihn herum zu berechnend, zu kompliziert und unglaubwürdig. Um das für ihn unverständliche Verhalten zu klären, stellt der Junge ständig Fragen, mit dieser Fragerei stört er aber, sodass er entweder verlacht oder bestraft wird, der Vater schlägt ihn wiederholt, einmal würgt er ihn sogar. Da verlässt Azarel, zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt, die elterliche Wohnung. Er zieht durch die Stadt, geht betteln, will Juden und Christen mit all ihren Unehrlichkeiten blossstellen, schliesslich bricht er zusammen, und schwer krank gelangt er wieder zu den Eltern, die, zutiefst erschrocken, ihn mit aller Vorsicht gesund pflegen. Während er sich allmählich erholt, versucht er, auf die eigenen Fragen eigene Antworten zu geben, und sagt sich schliesslich: «Sieh alles als Krankheit an und vergiss es.» Für ihn sind nun Familie, Religion, Gesellschaft und das Leben schlechthin eine Krankheit.

Károly Pap ist 1945 in einem Konzentrationslager umgekommen, Antal Szerb starb im selben Jahr, ebenfalls in einem KZ. Stefan Zweig hatte sich drei Jahre zuvor im brasilianischen Exil das Leben genommen.

Und noch etwas, was mit den Zeiten zu tun hat: «Azarel» war das erste Mal 1999 auf Deutsch erschienen, der Corvina Verlag in Budapest hatte den Übersetzungsauftrag einer erfahrenen deutschen Übersetzerin erteilt. An der sprachlichen Qualität konnte es nicht gelegen haben, dass der Roman damals übersehen wurde. Folglich lag es wohl an der Zeit.

Károly Pap: Azarel. Verlag Luchterhand, München. 2004. 304 Seiten. Fr. 33.80

Zur Autorin

Zsuzsanna Gahse lebt und arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin in Müllheim/Thur, zuletzt erschien von ihr «durch und durch» (Edition Korrespondenzen, Wien 2004).