Das Schengener Informationssystem (SIS): Elektronische Mauer

Das SIS ist ein Fahndungssystem, aber die Fahndung nach gesuchten Kriminellen spielt im SIS keine zentrale Rolle.

Damit Europa nicht zum Mekka der Kriminellen würde, brauche es eine Fahndungsunion. Das war die Parole der Polizei- und Sicherheitsexperten der EU, als Ende der achtziger Jahre das Schengener Informationssystem (SIS) geplant wurde. Beim Versuch, der Stimmbevölkerung den Schengen-Beitritt schmackhaft zu machen, präsentieren die Schweizer Behörden das SIS auch heute noch als Instrument der Fahndung nach Kriminellen. Das ist ein Verkaufstrick. Er verstellt nicht nur den Blick auf die gegenwärtige Realität dieses Systems, sondern schweigt auch über die Ausbaupläne für das «SIS der zweiten Generation» und das neue Visumsinformationssystem.
Gefahndet wird mit dem SIS nach Sachen und Personen. Zum Jahresbeginn 2003 enthielt das SIS neben 10 Millionen Sachfahndungsdaten (Autos, verlorene Personalpapiere, Banknoten usw.) etwa 1,2 Millionen Datensätze über 874 032 Personen (ein Teil der ausgeschriebenen Personen ist unter mehreren Namen oder Schreibweisen erfasst).

Nur 1,6 Prozent dieser Personen wurden mit einem internationalen Haftbefehl gesucht und sollten bei einer Festnahme an den ausschreibenden Staat ausgeliefert werden. Die unter dieser Kategorie (Artikel 95 des Schengener Abkommens) Registrierten werden eines Delikts beschuldigt, auf das eine Strafe von über einem Jahr Haft steht. Nur diese Daten sind Fahndungsdaten im herkömmlichen Sinn. Weiter werden im SIS Vermisste, Zeugen und wegen kleinerer Delikte gesuchte Personen gespeichert.
89 Prozent der im SIS gespeicherten Personen haben aber mit Kriminalität überhaupt nichts zu tun: Es sind Menschen aus Nicht-EU-Staaten, die im SIS zur Zurückweisung an der Grenze oder zur Verweigerung eines Visums ausgeschrieben sind. In der Mehrzahl handelt es sich dabei um abgewiesene und ausgeschaffte Asylsuchende. Die Personendaten im SIS unterstützen damit in ers­ter Linie eine repressive Migrations- und Asylpolitik.

Ausbaupläne

Ursprünglich war das SIS auf acht Staaten ausgelegt, heute sind 15 Staaten daran angeschlossen. Schon als 1996 Italien und Österreich aufgeschaltet wurden, zeigten sich Kapazitätsschwierigkeiten. Deshalb beschloss der Schengener Exekutivausschuss den Aufbau eines «SIS der zweiten Generation». Die eigentliche Planungsphase begann im Jahre 2001, sie wurde massgeblich geprägt von der Sicherheitshysterie nach den Anschlägen des 11. Septembers. Dis­kutiert wurde nun nicht mehr nur über grössere technische Kapazitäten, sondern über ein ganz neues System:

•  Neue Datenkategorien: Zur Debatte steht unter anderem eine Kategorie «gewalttätige Randalierer». Darunter werden Personen verstanden, deren Teilnahme an Demonstrationen oder anderen Veranstaltungen verhindert werden soll.

•  Zusätzliche Informationen in den einzelnen Personendatensätzen: Konkret geht es hier um biometrische Daten – Fingerabdrücke, die digitalisierte Formel der Augeniris oder die Vermessung des Gesichts.

• Erweiterte Zugriffsberechtigungen: Bisher können Polizei- und Zollbehörden (für Kontrollen an den Grenzen und im Inland) sowie Konsulate (zur Verweigerung von Visa) auf das SIS zugreifen. Neu werden sich Europol und Eurojust, die Untersuchungsbehörden der EU-Mitgliedstaaten, die Fremdenpolizeien, die Fahrzeugzulassungsstellen sowie gegebenenfalls auch die Geheimdienste und weitere Behörden aus den SIS-Daten bedienen.

Das Visuminformationssystem

Bisher ist nur ein Teil dieser Änderungen beschlossen. Gemäss dem Konzept für das SIS 2, das die Innen- und ­Justizminister im Juni letzten Jahres beschlossen haben, soll es jederzeit möglich sein, neue Datenkategorien einzuführen und zusätzliche Stellen anzuschliessen.

Geeinigt hat sich der Ministerrat auch auf den Aufbau eines Visumsinformationssystems (VIS), das ursprünglich Teil des SIS sein sollte. Das VIS wird zwar ein eigenständiges Datensystem, das jedoch auf einer gemeinsamen technischen Basis mit dem SIS geführt werden soll.

Auch hier geht es um Personalien und biometrische Daten – und zwar all derjenigen Leute, die für einen EU-Staat ein Visum oder eine Aufenthaltsbewilligung beantragen. Unabhängig davon, ob das Visum dann gewährt oder verweigert wird, bleiben die Daten für fünf Jahre im VIS gespeichert und damit zugänglich für Polizeien, Fremdenpolizeien und Geheimdienste. Visumspflichtige «DrittausländerInnen» müssen bei einem Visumsgesuch also eine erkennungsdienstliche Behandlung über sich ergehen lassen. Die neue EU begrüsst ihre Gäste, indem sie sie wie Verbrecher behandelt.