Die Terrorismusabwehr dient dem schnellen Aufbau eines EU-Staatswesens, das auf dem Misstrauen gegenüber den BürgerInnen fusst und Migrations- mit Sicherheitspolitik verquirlt. Die Schweiz mischt kräftig mit.
Von Heiner Busch (Text) und Marcel Bamert (Illustrationen)
Frankreich bleibt nach dem Attentat von Nizza im Ausnahmezustand. In Belgien herrscht weiterhin «Alarmstufe rot». Und die deutsche Regierung brauchte im Juni gerade einmal drei Wochen, um ein «Antiterrorpaket» durchs Parlament zu bringen. Das war noch vor dem (nichtislamistischen) Amoklauf in München, vor der Attacke eines jungen afghanischen Flüchtlings mit einem Beil in Würzburg und vor dem Selbstmordattentat eines syrischen Asylsuchenden in Ansbach. Weitere Gesetze sind in der Pipeline – nicht nur in Deutschland.
Die politische Maschine Terrorismusbekämpfung läuft derweil auch auf der europäischen Ebene auf Volldampf. Seit 2001 stand sie eigentlich nie wirklich still. Neben der Abschottung der EU-Aussengrenzen gegen MigrantInnen und Flüchtlinge ist die Terrorismusbekämpfung mittlerweile zum wichtigsten Treibriemen der EU-Innenpolitik geworden.
Vieles, was die «Sicherheitsarchitektur» der EU heute kennzeichnet, wäre ohne den Terrorismusbeschleuniger nicht oder jedenfalls nicht so schnell denkbar gewesen: der schnelle Ausbau des EU-Polizeiamts Europol, der Aufstieg der Biometrie zur führenden Identifikationstechnik nicht nur in Pässen, neue grosse Datenbanken wie das Schengener Informationssystem der zweiten Generation (SIS II) und das Visa-Informationssystem (VIS), vereinfachte Verfahren der Auslieferung und eine Angleichung des Terrorismusstrafrechts.
Für den nötigen Druck hat dabei der EU-Ministerrat gesorgt, indem er nach den grossen Anschlägen des letzten Jahrzehnts jeweils in kürzester Zeit umfangreiche Massnahmenkataloge aus dem Hut zauberte: Der einen Monat nach den Angriffen vom 11. September 2001 erstellte «Anti-Terror-Fahrplan» enthielt 64 Vorhaben mit Angaben von Zuständigkeiten und Umsetzungsfristen. Nach dem Anschlag in Madrid im Jahr 2004 folgte nach dem gleichen Muster ein neuer Aktionsplan, der im Jahr darauf nach den Londoner Attentaten erweitert wurde.
Seitdem berichtet Gilles de Kerchove, der vom damaligen Generalsekretär des Rats eingesetzte Antiterrorkoordinator, mindestens halbjährlich über die Fortschritte und mahnt die Gremien und Agenturen der EU, aber vor allem die Mitgliedstaaten, ihren Verpflichtungen zügig nachzukommen. Wie die Londoner Bürgerrechtsorganisation Statewatch dokumentiert hat, beschloss die EU von September 2001 bis Anfang 2013 insgesamt 239 Massnahmen, die – zumindest zum Teil – mit der Terrorismusbekämpfung gerechtfertigt wurden.
Informationssammlung und Überwachung
Seit März 2013 beschäftigt die EU-Gremien ein neues Thema: die «ausländischen Kämpfer», EinwohnerInnen europäischer Staaten, die nach Syrien oder in den Irak reisen, um sich an der Seite des sogenannten Islamischen Staats oder anderer fundamentalistischer Gruppen am Krieg zu beteiligen – und die dann möglicherweise in die EU zurückkehren. Schon 2013 hatte der Antiterrorkoordinator mehrere Papiere dazu vorgelegt. Im Mai 2014 beschlossen die EU-InnenministerInnen «Schlussfolgerungen zu Terrorismus und Grenzsicherheit», in denen das Programm für die nächsten Jahre absehbar wurde: eine verstärkte Informationssammlung und Überwachung des Internets durch Europol, eine bessere Nutzung des Schengener Informationssystems, eine Intensivierung der Grenzkontrollen – auch gegenüber den EU- und Efta-BürgerInnen, die Bearbeitung von Personendaten durch die Grenzschutzagentur Frontex, eine EU-eigene Auswertung von Flugpassagierdaten, gegen die sich das Europäische Parlament bisher sträubte, und vieles mehr.
Richtig in Fahrt kam das antiterroristische Karussell jedoch erst nach den Pariser Anschlägen im Januar und November 2015, nach denen der EU-Ministerrat konkrete Forderungskataloge verabschiedete. Statt «Diskussionspapieren» liefert der Antiterrorkoordinator nun lange «Berichte über Umsetzungsmassnahmen». Die EU-Kommission schreibt ihre «Strategie der inneren Sicherheit» fort und sorgt dafür, dass die Gesetzgebungsorgane der Union über Jahre beschäftigt sind.
Wie bereits im letzten Jahrzehnt verquirlt die EU Migrationspolitik und Grenzabschottung mit Terrorabwehr. Frontex und Europol arbeiten in den «Hotspots» in Griechenland und Italien zusammen, wo Flüchtlinge registriert werden und die Sicherheitsüberprüfung erfolgt. Europol und die Staatsschutzdienste der Mitgliedstaaten sollen so schnell und so umfassend wie möglich an die bestehenden Datenbanken im Migrations- und Asylbereich – am Visa-Informationssystem und an Eurodac – angedockt werden. Und das neue Einreise- und Ausreisekontrollsystem, mit dem die EU ursprünglich gegen Personen vorgehen wollte, die die Visumsfrist überziehen, wird nun gleich als Vorratsdatenlager für Polizei und Geheimdienste geplant: Drittstaatsangehörige sollen demnach bei jedem Überschreiten der Aussengrenzen biometrisch registriert werden.
Über 21 000 Personen hatte Europol im April im Auswertungsschwerpunkt «Travellers» erfasst – Tendenz steigend. Das neue Counter Terrorism Center des EU-Polizeiamts brüstet sich nicht mit abgeschlossenen Ermittlungen, sondern mit der Zahl der verfassten Berichte. Europol ist eine Informationspolizei, die mit der neuen, noch geheimeren Plattform der im Berner Club und seiner Counter Terrorism Group versammelten Geheimdienste eng zusammenarbeiten will.
Die Tatsache, dass bisher fast alle Attentäter der letzten Jahre polizeilich oder geheimdienstlich bekannt waren, kümmert offensichtlich kaum jemanden – auch nicht die Politiker und Bürokratinnen des Ministerrats und der Kommission. Denn die Terrorismusbekämpfung ist eine Gelegenheit mehr, den Aufbau eines Staatswesens voranzutreiben, das auf dem Misstrauen gegen seine BürgerInnen gründet.
Und die Schweiz?
Die Schweiz ist zwar nicht Teil der EU, muss aber wegen ihrer Schengen-Assoziation sämtliche Vertragsänderungen übernehmen – also auch jene betreffend Frontex, das SIS II oder das geplante Ein- und Ausreisekontrollsystem. Seit 2004 hat die Schweiz auch ein «operatives» Kooperationsabkommen mit Europol. Das Bundesamt für Polizei (Fedpol) hat derzeit zwei Verbindungsbeamte beim EU-Polizeiamt stationiert, ein dritter wird ab dem 1. September im Europol Counter Terrorism Center mitarbeiten. Auch werden Daten an die «Travellers»-Datei geliefert, wie das Fedpol auf Anfrage bestätigt.
«Über Einzelheiten der Zusammenarbeitsformen gibt der Nachrichtendienst des Bundes keine Auskunft», antwortet das NDB derweil auf die Frage, ob und wie der schweizerische Geheimdienst an der neuen Plattform der Counter Terrorism Group mitmischt. Für eine Beteiligung an gemeinsamen Datenbanken gibt es noch keine rechtlichen Grundlagen. Aber: Das Nachrichtendienstgesetz (NDG), das am 25. September zur Abstimmung kommt, «enthält eine Bestimmung, auf Grund derer eine solche Beteiligung möglich würde». Ein Grund mehr, Nein zu stimmen.
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