Das Zürcher Projekt KraftWerk 1: Ansätze zu neuen Wohn- und Lebensformen: Karma im Industriequartier
Die einen beten oben auf dem Dach, während die anderen im Keller bis zum Hals im warmen Sand baden. Die eine betreibt eine Velowerkstatt für 700 Leute, während der andere als Art-director gutes Geld verdient, von dem er dafür mehr abliefern muss. Bereits 300 ZürcherInnen, ein repräsentativer Querschnitt der «Szene», sind daran, sich ein Lebensprojekt zu schaffen: KraftWerk 1.
Ich komme also heute um ein Uhr nach Hause und setze mich zuerst einmal ins Café du Midi, den halböffentlichen Treffpunkt von KraftWerk 1 B, wo vor allem Singles, Paare, lockere Wohngemeinschaften und unser «Dorf» (eine eng verwobene Grosssippe) wohnen. Das Café du Midi ist Eingangshalle, Postdepot, Frühstücks- und Aufenthaltsraum, Besucherraum. Es gibt hier alle Zeitungen, ein paar TVs, eine Videothek, eine chaotische Anschlagwand (mein Job!) und dazu jede Menge Fauteuils, Sofas, Tischchen, Nischen.*
Der Zürcher Kreis 5, bekanntgeworden durch die Drogenszene beim ehemaligen Bahnhof Letten, zieht sich vom Hauptbahnhof Richtung Nordwesten bis zur Autobahn nach Basel/Bern. Der Kreis 5, auch Industriequartier genannt, ist das urbanste Quartier der Stadt, ein Abbild der industriellen Entwicklung Zürichs. Zweigeteilt durch die Westtangente, befinden sich im zentrumsnahen Gebiet klassische ArbeiterInnenwohnungen, durchmischt mit Läden, Restaurants, Kleingewerbe, Imbissständen und Fast-food-Schuppen. Längst wohnen nicht mehr nur ArbeiterInnen im Quartier, die Bevölkerung ist äusserst vielfältig zusammengesetzt, rund die Hälfte der Menschen, die hier wohnen, sind AusländerInnen. Jenseits der Hardbrücke befinden sich die grossen Industriebrachen, ihrer zukünftigen Nutzung harrend - zu bewilligen durch kommunale Sonderbauvorschriften, Gestaltungspläne.
Der Kreis 5 befindet sich im Zangengriff der Stadtentwicklung: auf der einen Seite vom Zentrum her Citydruck (das Projekt HB-Südwest ist noch nicht definitiv gestorben), andererseits die ehemaligen Industriegelände, auf denen neue Dienstleistungszentren, spärlich durchmischt mit Wohnungen, entstehen sollen (hier befindet sich nicht zufälligerweise bereits der Technopark). Im Niemandsland zwischen Wohn- und Industriezone keimen neue oder Übergangsnutzungen: Ateliers, Galerien, Tanz- und Theaterstudios, ein Multiplex-Kino, Discos, Bars, kleine Dienstleistungsbetriebe. Ein neues Quartier entsteht.
Kleiner Schritt vorwärts
Ich betrete schliesslich das kleine Foyer, wo sich Limbo eingenistet hat. Ich gehöre zu diesem lockeren Konglomerat von gut 20 Leuten, alles Singles oder Paare ohne Kinder (wir sind selbst «gebrannte Kinder»). Halb sind wir beim Zuteilen der Wohnräume übriggeblieben, halb hatten wir uns vorher zusammengefunden, weil wir nichts «Organisiertes» wollten. Limbo ist also eine soziale Minimalform für Asoziale. Garderoben, eine selten benutzte Kochstelle (höchstens für Spaghetti aglio olio nach Mitternacht), Schuhkästen und Fauteuils bilden Korridor und Foyer, von wo aus wir uns in die Zimmer begeben. Es gibt zwei WC, zwei Duschen. Wir schätzen Rücksicht auf die Privatsphäre, Ruhe, Besinnlichkeit. Damit ist es seit einigen Wochen aus, weil einige Teenager, die die sechziger Jahre durchspielen und die Rebellion gegen ihre Familien proben, bei uns in zwei Zimmern im Exil leben.
Der Kreis 5 ist zur Herausforderung geworden, für Stadtplanerinnen und Architekten, für Träumer und Realistinnen. Den Künstler Martin Blum, den Architekten Andreas Hofer und den Schriftsteller P.M. hat diese Herausforderung gereizt. Sie veröffentlichten im letzten Sommer die Broschüre «KraftWerk 1. Projekt für das Sulzer-Escher Wyss Areal». Inzwischen hat sich das KraftWerk-Projekt zu einer kleinen Bewegung gemausert.
Grundidee: Die Trennung von Wohnen, Hausarbeit und Produktion soll aufgehoben werden. In enger Zusammenarbeit mit assoziierten, selbstbetriebenen oder befreundeten landwirtschaftlichen Betrieben in der Umgebung wollen die KraftWerk-Leute die Grundversorgung mit Lebensmitteln möglichst autark gestalten. Umgesetzt werden diese Grundsätze von HPL (für: Haushalt, Produktion und Landwirtschaft), Einheiten, die für 350 bis 500 Leute ausgelegt sind (damit autarke Strukturen sowohl ökologisch als auch ökonomisch Sinn machen) und die sich Grossküche, Wäscherei sowie ihre Kontakte zu den Landwirtschaftsbetrieben selbständig organisieren. KraftWerk 1 soll zwei HPL mit insgesamt 700 Leuten Platz bieten. AusländerInnen- und Frauenanteil unterliegen Quotierungsvorschriften.
«Eine Stadtvorstellung lässt sich nicht in ausgehandelten Restflächen, in verstreuten Abwartswohnungen entwickeln. Sie braucht Ideen für eine Lebensweise, die Wohnen und Arbeiten einschliesst», heisst es in der Broschüre. Statt auf «earning a living» mit Lohnarbeit und Marktwirtschaft müsse auf ein demokratisches «making a living» gesetzt werden. Die Welt soll «vom industriellen Kopf auf die agrikulturellen Füsse gestellt» werden. Die KraftWerk-Konzeptionisten legen Wert darauf, dass es sich bei ihrem Vorschlag nicht um ein «Ausstiegsszenario» handelt, sondern um ein «Übergangsmodell», das innerhalb der bestehenden Strukturen funktionieren soll: «Es wäre ein Fehler, wenn wir uns institutionell ausgrenzten und uns eine heile Welt vorspielten, während wir auf vielfache Art der Wirtschaft und dem Staat eben doch ausgeliefert bleiben. Es geht uns nicht um eine glorreiche Abkoppelung, sondern um einen kleinen Schritt vorwärts in die richtige Richtung.»
Zukunftsträchtiger WG-Groove
Im KraftWerk 1 A wohnen vor allem Familien mit Kindern, einige kinderreiche Wohngemeinschaften, Grossfamilien aus diversen Kulturkreisen. Die Aufteilung ist jedoch nicht strikt, und es sind immer wieder Pärchen aus B ins A umgezogen. Umgekehrt flüchten A-Eltern oft zu uns, um Ruhe, Trost und vernünftige Gesprächsbedingungen zu finden. Dafür leihen sie uns ihre Kinder, wenn sich unser Brutpflegeinstinkt meldet. Carla, die Professorin für Maschinenbau, erklärt mir, dass das Sanskrit-Wort «Karma» ganz genau mit «KraftWerk» übersetzt werden könne. Zusammen mit einigen Himalaya-Fans lebt sie auf dem Dach in einem multireligiösen Kloster. Lange haben sie versucht, sich ihre Gebete als Gemeinschaftsdienst anrechnen zu lassen. Doch sowohl Anarchisten, Atheisten wie Marxisten haben sich erfolgreich gesträubt.
Das KraftWerk-Projekt weckt verschiedene und widersprüchliche Assoziationen. Von «siebziger Jahre WG-Groove» bis «Wohn- und Lebensform von morgen» reichen die Kommentare, von ablehnend über abwartend-skeptisch bis enthusiastisch-engagiert verhält sich die Zürcher «Szene». Ein halbes Jahr nach der Konstituierung als Verein weist KraftWerk 1 bereits rund dreihundert Mitglieder auf - knapp die Hälfte der vorgesehenen Anzahl BewohnerInnen.
Auch von anderer Seite fühlen sich die KraftWerkerInnen ernst genommen: Zumindest die Zürcher Verantwortlichen bei Sulzer-Escher Wyss (SEW), der Besitzerin des Areals, das KraftWerk 1 im Baurecht übernehmen möchte, zeigten sich bisher interessiert. Verschiedene Gespräche zwischen VertreterInnen von KraftWerk und SEW haben bereits stattgefunden. Offensichtlich ist es den KraftWerkerInnen gelungen, die SEW-Delegation von ihrer Bonität zu überzeugen, auch wenn sie immer noch KapitalgeberInnen suchen.
In einer ersten, überschlagsmässigen Berechnung veranschlagen die KraftWerkerInnen die Realisierungskosten für ihr Projekt auf knapp 117 Millionen Franken. Daraus ergibt sich ungefähr ein Mietzins von 600 Franken pro Person. Dazu kommen die Anteile für Essen und Wäsche sowie eine KraftWerk-Steuer für Gemeinschaftsdienst und zum Ausgleich hoher externer Einkommen. Aufgrund dieser Zahlen wurden verschiedene Monatsbudgets erstellt, welche die gesamten Lebenshaltungskosten für KraftWerk-BewohnerInnen (inklusive Krankenkasse, Steuern, Tramabos usw.) aufrechnen. Demnach wäre (bei doppelter Belegung eines Zimmers von zwanzig Quadratmetern) mit Kosten von minimal 1300 Franken pro Person zu rechnen. Eine Familie (vier Personen in drei Zimmern) müsste rund 4800 Franken bezahlen, einE AlleinverdienendeR mit 5000 Franken Lohn hätte knapp die Hälfte seines/ihres Einkommens abzuliefern. Daneben müssen sich alle mit vier Stunden wöchentlicher Gemeinschaftsarbeit, wöchentlicher Sitzungspräsenz und einer Woche Landarbeit pro Jahr am Projekt beteiligen.
Schiffbruch mit Schiffbauhalle
Ich begebe mich ins burmesische Sandbad im Tiefparterre und erhole mich von meiner externen Arbeitswoche. Im lauwarm-feinkörnigen Becken gelingt, bis zum Hals eingegraben, ein lockeres Gespräch mit Ueli, einem der Väter unserer Exil-Teenager. Wir machen sogar eine gemeinsame Landarbeitswoche auf dem affilierten Bauernhof «Waldegg» ab. Vielleicht kommen wir uns beim Kartoffelnaustun näher.
Einen ersten, empfindlichen Dämpfer hat der Enthusiasmus der KraftwerkerInnen allerdings bereits erlitten. Für den geplanten «KraftWerkSommer 94» wollten sie die ehemalige Schiffbauhalle (auf dem geplanten KraftWerk-Areal) für drei Monate von SEW mieten. Die Halle gigantischen Ausmasses steht als Zeugin frühindustrieller Architekur unter Denkmalschutz. Eine mündliche Zusage der Zürcher SEW-Leitung lag bereits vor - doch in letzter Minute wurden die Zürcher Verantwortlichen von der Winterthurer Konzernleitung zurückgepfiffen. Der Mietvertrag kam nicht zustande.
Der «KraftWerkSommer 94» wird trotzdem stattfinden: Auf dem benachbarten Schöllerareal wurde eine - wenn auch wesentlich kleinere - Ersatzhalle gefunden. Dort werden vom 1. Juli bis zum 15. September (bis auf laute Konzerte und Discos) die geplanten Veranstaltungen stattfinden: Film-, Video- und Theaterproduktionen und -vorführungen, Podien und Referate zu den Themen Städtebau, Lebensformen und Stadtkultur, Workshops, Performances, Café- und Barbetrieb. Geplant ist auch eine internationale Sommeruni, die StudentInnen und DozentInnen Gelegenheit bietet, zu den oben erwähnten Themenkreisen zu arbeiten, zu forschen und Erfahrungen auszutauschen. Innerhalb des «KraftWerkSommers 94» soll die KraftWerk-Idee grundsätzlich und das KraftWerk 1 in Zusammenarbeit mit der Quartierbevölkerung konkret weiterdiskutiert und vorangetrieben werden.
Zwei, drei, viele ...
Gegen sieben Uhr melde ich mich in der Schiffbauhalle in schwarzer Hose und weissem Jackett zum Service in der Weissen Krähe, der gestylten Abteilung des Gesamt-KraftWerk-Restaurants. Ich leiste so meine vier Stunden Gratis-Gemeinschaftsarbeit. Wer nur essen und herumsitzen will, geht in den gemütlichen Raben, wer unsere Gourmetküche versuchen möchte, in die Weisse Krähe. Gegen den heftigen Widerstand der Kinder konnte die Einrichtung einer Filiale von McDonald's knapp abgewendet werden. Wir legen unseren Menus Lebenslauf und Photos der geopferten Tiere bei. Beim Gemüse verzichten wir (noch!) auf diese Nachrufe, was schon zu Kritik von Radikalvegetariern geführt hat.
Die KraftWerk-Idee zieht Kreise. An der Veranstaltung «Wohnen tut not» in der Basler Kaserne, an der VertreterInnen kommunaler Planungsgremien, der Industrie, von Wohnbaugenossenschaften und des MieterInnenladens miteinander diskutierten, stiess das Projekt vorletzte Woche auf offene Ohren: Auch in Basel steht die Umnutzung ehemaliger Industriegelände an, ebenso in Romanshorn, Baden, Luzern und Chiasso, in Bern, Lausanne, Vevey und Genf. Selbst global, so argumentiert die KraftWerk-Broschüre, könnten sich ähnliche Projekte verbreiten, und zwar im gesamten «Rostgürtel», dem Gebiet zwischen dem 30. und dem 60. nördlichen Breitengrad, den «Trümmerfeldern des Industriesystems»: «Wir müssen zuerst den Dreck, den wir liegengelassen haben, wegräumen, die brauchbaren Bruchstücke zusammenfügen, sie sinnvoll ergänzen und dann lebensfähige Haushalte einrichten.»
* Alle kursiv abgesetzten Passagen sind teilweise gekürzte Zitate aus der fiktiven Alltagsbeschreibung «Alex im KraftWerk 1» in der Broschüre «KraftWerk 1. Projekt für das Sulzer-Escher Wyss Areal», Zürich 1993.