Ein bisschen übertrieben

Kosovo: Von 100 000 zu 3000 albanischen Opfern.

Das Publikum in der Heimat sollte nicht ins Grübeln kommen, nachdem die Nato im März letzten Jahres ihren Bombenkrieg gegen Jugoslawien begonnen hatte, immer mehr Flüchtlinge über die Grenzen nach Albanien und Mazedonien zogen, der jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic aber keinerlei Anstalten machte, sich geschlagen zu geben. Also musste länger als vorgesehen bombardiert und eine zusätzliche Rechtfertigung für die Intervention verbreitet werden: serbische Greueltaten, die systematische Ermordung der kosovo-albanischen Bevölkerung. Fast über Nacht schwoll die verbreitete Zahl der Ermordeten auf 100 000 an und erreichte Mitte Mai mit einer Viertelmillion Rekordstand. Nach Ende des Krieges im Juni wollte US-Verteidigungsminister William Cohen weiter von unzähligen Opfern wissen.
Die Geschichte des Horrors im Kosovo müsse noch zu Ende geschrieben werden. Wenn einmal alles bekannt sei, werde man verstehen, warum die USA eingriffen, erklärte Cohen vor GIs.
Was die Zahl der Opfer angeht, scheint die Geschichte jetzt geschrieben, anders freilich, als Cohen und Kollegen der Öffentlichkeit weismachen wollten. Internationale Teams von GerichtsmedizinerInnen, die im Auftrag des Haager Kriegsverbrechertribunals nach den Toten suchten, stiessen auf 345 Massengräber (definitionsgemäss: Gräber mit mehr als einem Toten), in denen insgesamt 2788 Leichen verscharrt worden waren. Wie viele von ihnen eindeutig Spuren einer Exekution zeigen, wollten oder konnten die ExpertInnen nicht angeben. Eine weitere Suche nach Gräbern halten sie für sinnlos.
Die endgültige Zahl der kosovo-albanischen Opfer des serbischen Regimes müsste zusätzlich die als vermisst gemeldeten Personen einbeziehen. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes geht zur Zeit noch 3000 ungeklärten Fällen nach. Es erwartet, etliche von ihnen abschliessen zu können, wenn das Haager Tribunal die Namen der von seinen Teams gefundenen und identifizierten Toten veröffentlicht. Im unwahrscheinlichen schlimmsten Fall ergäben sich dann knapp 6000 Ermordete.
Nato-Sprecher Mark Laity räumte nach Bekanntwerden der neuen Zahlen gegenüber dem britischen «Guardian» ein, dass das Bündnis «übertrieben» habe. Ihm sei es aber lieber, für solche Übertreibungen kritisiert zu werden, als mit dem Vorwurf zu leben, nicht rechtzeitig eingegriffen zu haben. Diese Bemerkung qualifiziert Laity als Nachfolger des Chefrabulisten Jamie Shea, geht es doch nicht um Feilscherei über die Zahl der Toten, sondern um die systematische Instrumentalisierung der Medien in den Wochen des Kriegs.