Ein fast normaler Tag in Palästina: Drei Gründe zur Freude

Der 4. August 2001 war ein guter Tag. An diesem Tag gelang es uns nach zwei Monaten endlich, unsere Tochter Kenza registrieren zu lassen. Nun hat sie eine Geburtsurkunde. Schon einige Tage nach ihrer Geburt gingen wir zum zuständigen Amt des israelischen Innenministeriums in Ostjerusalem und seither immer wieder. Doch hinein liessen sie uns nie. Ich hatte einen solchen Albtraum befürchtet, denn ich sah es ja jedes Mal, wenn ich nach Jerusalem ging. Ich sah es auch im Fernsehen und las darüber in der Presse. Die Leute sprechen darüber. Es wurde im Theater aufgeführt und inspirierte FilmemacherInnen. Ich bedaure inzwischen, dass ich das ganze Verfahren nicht gefilmt habe.

Tamam und ich gingen mit Kenza um sieben Uhr morgens hin. Am hässlichen Eingang mussten wir lange Stunden warten. Ein Zaun aus Metallstangen riegelt alles ab. Ein Drehkreuz lässt die Menschen nur einzeln hinein, sofern einer der bewaffneten Wächter dahinter es öffnet. Zu hunderten stehen die Menschen vor diesem kleinen Durchgang aus Metall, und alle wollen hinein, um ihre Personalausweise erneuern zu lassen, um ihre Neugeborenen zu registrieren oder ihre Verstorbenen. Alles Dinge, die sich in einem normalen Leben per Post erledigen lassen. Hier muss man die Stromrechnungen der letzten drei Jahre mitbringen, die Wasserrechnungen der letzten drei Jahre, Grundstückssteuerrechnungen der letzten zwei Jahre, den gültigen Sozialversicherungsausweis, Schulzeugnisse, Arbeitsbestätigungen, Mietverträge und anderes.

Nur sehr wenige erreichen ihr Ziel. Wir hatten schliesslich Glück, denn wir entschlossen uns, einen Anwalt zu nehmen, um unser Baby registrieren zu lassen. Und wir hatten Glück, dass wir einen fanden, der sich dort gut auskennt. Er wusste genau, was sie von uns wollten, und wir besorgten alles. Wir brachten eine dicke Mappe mit, und innert vier Stunden schafften wir es. Das war begeisternd. Ich habe Tamam noch nie so glücklich gesehen. Sie hielt die Geburtsurkunde in ihren Händen und schaute sie an, wie wenn sie sich vergewissern wollte, dass sie tatsächlich existierte. Ich war ebenfalls überglücklich, denn ab sofort dürfen wir alle drei miteinander reisen.

Der 4. August 2001 war ein guter Tag. An diesem Tag verfehlten die drei auf Ramallah abgeschossenen israelischen Raketen ihr Ziel. Marwan Barghuti, der lokale Führer der Fatah-Bewegung, entwischte ihnen. Er war klug genug, nicht sein eigenes Auto zu fahren. Es wurde getroffen, zwei Männer verletzt, aber er wurde nicht getötet. Ich kenne Marwan seit vielen Jahren. Ich mag ihn, wegen seines Humors und wegen seiner Geradlinigkeit. Er ist das Produkt einer Kombination von dreierlei: der Fatah, der Bir-Zeit-Universität und der israelischen Gefängnisse. Diese Kombination schuf die meisten Führungspersonen in der Zeit vor der Gründung der palästinensischen Autonomibehörden.

Die Bir-Zeit-Uni führte in den siebziger und achtziger Jahren die palästinensische Widerstandsbewegung in den besetzten Gebieten an. Intellektuelle und PolitikerInnen aller Fraktionen kamen im Bir-Zeit-Campus zusammen. Demonstrationen, Feierlichkeiten, Publikationen – alles ging von dort aus. Gemeinsam mit der Gefangenenbewegung (durchschnittlich 12 000 PalästinenserInnen sind seit 1967 ständig in israelischen Gefängnissen eingesperrt, insgesamt über eine halbe Million Menschen) bestimmte sie das politische Leben. Die Gefangenenbewegung führte den bewaffneten Kampf im Untergrund an, Bir Zeit dessen öffentlichen und intellektuellen Aspekt. Heute hat Bir Zeit das Charisma seines kulturellen und politischen Lebens verloren. Genau wie die Gefangenenbewegung ihre Führungsrolle seit den palästinensisch-israelischen Oslo-Abkommen verloren hat.

Marwan Barghuti ist beliebt, denn er blieb einer von hier. Er erinnert die Menschen an die guten alten Zeiten, als das Leben genauso hart war wie heute, doch verbunden mit dem schönen Traum eines demokratischen, unabhängigen und freien Palästina. So lauteten unsere revolutionären Slogans damals. Barghuti ging nicht weg, um mit einem anderen Tonfall zurückzukehren. Er wurde nicht plötzlich reich oder zu einem Mann der Oberklasse. Er ist eine hier im Lande gross gewordene Persönlichkeit. Für viele verkörpert er Lauterkeit angesichts all der korrupten ehemaligen Revolutionäre. Er ist kein Militanter, im Gegenteil. Er ist überaus diplomatisch. Er unterhält Beziehungen zu zahlreichen progressiven Israelis.

Ich war nicht überrascht, als ich vom Raketenangriff gegen ihn hörte. Aber ich war schockiert. Plötzlich sah ich die Gefahr ganz klar. Wollen die Israelis alle PalästinenserInnen umbringen, die sagen: «Ich will ohne Besetzung leben»? Die Menschen, die in letzter Zeit gezielt getötet wurden, sagten nichts anderes als das. Sie wollten weder Israel noch die Israelis zerstören, sie wollten die Juden nicht ins Meer treiben, aber sie wollten in Frieden ohne Besetzung leben. Genau wie beinahe alle PalästinenserInnen. Wollen die Israelis also alle PalästinenserInnen töten? Ob das Sharons endgültige Lösung des Problems sein könnte?

Der 4. August 2001 war ein guter Tag. An diesem Tag las ich von zwei israelischen Soldaten, die sich weigerten, in den besetzten Gebieten Dienst zu leisten. Sie wurden ins Gefängnis geschickt. Dank solchen Menschen fürchte ich mich nicht mehr vor einer «endgültigen Lösung». Der eine Verweigerer heisst Yishai Rosen-Zvi. In der Zeitung «Ha'aretz» erklärte er: «Meine Verweigerung ist das Resultat meiner Erfahrungen in den frühen neunziger Jahren in Gaza und Tulkarem. (...) Müde, triefäugige Palästinenser, die dich mit einer Mischung von Panik, Angst und schrecklichem Hass anstarren. Menschen, so alt wie deine Grosseltern, um vier Uhr morgens aufgestanden, stehen dort mit ihren erbärmlichen Bündeln. Sie sind auf dem Weg zur Arbeit in Israel. Es ist unsicher, ob es ihnen erlaubt sein wird, hinzugehen. Alles hängt davon ab, wer der Kommandant ist und mit welchem Fuss er aufgestanden ist und ob er schon mit seiner Freundin gesprochen hat.»

Der andere Verweigerer heisst David. Ein israelischer Freund wies mich auf seinen Brief im Internet hin. David schreibt: «Ich lese hier, im Militärgefängnis 4, die schrecklichen täglichen Berichte in der Presse. Keine Bilder, keine Töne dazu. Rache folgt auf Rache, Töten folgt auf Töten. Warum erzeugt das jüdische Volk so viel Leid, warum fügen wir so viel Schmerz zu – anderen und uns selbst?»

Ich weiss nicht, wie lange es dauern wird, bis israelische Öffentlichkeit und Regierung uns PalästinenserInnen so behandeln und anerkennen, wie Yishai und David das tun. Doch ganz sicher weiss ich, dass Friede und Versöhnung nicht erreicht werden, ohne dass wir PalästinenserInnen dieses Einfühlungsvermögen in das uns zugefügte Leid spüren. Deshalb scheiterte Oslo. Es fabrizierte eine Art Regelung, doch die Israelis verhielten sich nicht ihrer Verantwortung für das Entstehen des Palästinaproblems entsprechend; sie anerkannten sie noch nicht einmal. Ohne diese Erkenntnis wird es nicht zu Frieden kommen.