Enttäuschte Hoffnungen in Den Haag: Bitte etwas seriöser, Frau Del Ponte!

Seit genau einem Jahr sitzt der frühere jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic in einer Zelle in Den Haag. Den Jahrestag seiner Auslieferung ans Uno-Kriegsverbrechertribunal – den 28. Juni – wird er allem Anschein nach krank, alleine und fern von Fernsehkameras verbringen. Der Prozess war letzte Woche unterbrochen worden mit der unpräzisen Begründung, Milosevic habe Fieber. Seine Ehefrau Mirjana Markovic wirft dem Tribunal vor, ihren Gatten physisch und psychisch ruinieren zu wollen.
Ruiniert sieht der ehemalige jugoslawische Despot allerdings nicht aus. Und seit dem 12. Februar, dem Tag des Prozessbeginns, hat er überwiegend die gleiche Haltung, die gleiche Stimme und den gleichen, leicht gelangweilten Gesichtsausdruck beibehalten, als ob ihm die vorgeladenen Zeugen längst allgemein Bekanntes erzählen würden. Das ist nicht ganz unwahr: Die meisten Zeugen haben bis jetzt tatsächlich kaum etwas Neues ausgesagt. Das könnte unter anderem erklären, warum immer mehr Menschen immer weniger Interesse an der Fernsehübertragung des Prozesses zeigen. Dazu kommt, dass kaum eine der bisherigen Zeugenaussagen die Schuld Milosevics – beziehungsweise die direkte Befehlskette zwischen Milosevic und den Tätern – eindeutig bestätigt.
Trotzdem hat sich die Chefanklägerin des Tribunals, Carla Del Ponte, in einer Fernsehsendung in Belgrad zufrieden über den Verlauf des Prozesses geäussert. Sie zeigte sich auch zuversichtlich, dass der erste Teil des «Jahrhundertprozesses», in dem der Kosovo-Krieg verhandelt wird, wie vorgesehen bis zum 26. Juli beendet werden kann. Die verbleibenden Wochen reichten der Anklage, all das nötige vorbereitete Material präsentieren zu können, sagte Del Ponte. Unzufrieden mit dem Verlauf des Prozesses zeigte sich in derselben Fernsehsendung hingegen der Belgrader Rechtsanwalt und Direktor des Antikriegszentrums, Ivan Jankovic. Er warf der Haager Anklage vor, nicht genug zielgerichtet vorzugehen, sondern in den Archiven Belgrads nach Beweisen gegen Milosevic geradezu zu «angeln», ohne genau zu wissen, was sie will. Jankovic sprach im Namen derer, die jahrelang, als Opposition gegen Milosevic, gehofft haben, dass seine Karriere vor einem internationalen Tribunal enden sollte. Umso grösser ist jetzt ihre Enttäuschung.
Belgrader KritikerInnen werfen dem Kriegsverbrechertribunal zudem vor, sich zu stark mit Politik und Geschichte zu beschäftigen, anstatt sich auf eindeutige juristische Beweise für Milosevics Schuld zu konzentrieren. Besonders unter Beschuss geriet eine Studie über serbischen Nationalismus, die die Anklage bei einer Harvard-Doktorandin bestellt hatte. Darin heisst es unter anderem, manche serbischen Politiker hätten bis vor kurzem von der Wiederherstellung des Reiches von Zar Dusan geträumt (das Reich Dusans existierte im 13. Jahrhundert). Analysen, die sich mit anderen Nationalismen auf dem Balkan und mit den komplexen Ursachen des Zerfalls Jugoslawiens befasst hätten, sind dem Gericht aber nicht vorgelegt worden.
Auch die Wahl der Zeugen verwundert in Belgrad diejenigen, die sich von einem Prozess gegen Milosevic viel erhofft hatten. So lehnte es beispielsweise der unter Schutz stehende Zeuge K12 ab, auszusagen. Oder Ratomir Tanic: Der frühere Funktionär zweier Oppositionsparteien und, wie sich herausstellte, kleiner Informant des Staatssicherheitsdienstes zu Milosevics Zeiten, wurde von der Anklage als «wichtiger Insider» gehandelt. Aber was er über Milosevic zu berichten hatte, war eher verwirrend als überzeugend. Ähnlich verhielt es sich mit dem Zeugen K7, der sich im Nachhinein als Kommandant der Kosovo-Befreiungsarmee UCK enttarnte. Zuvor hatte er dem Gericht erzählt, der heutige jugoslawische Präsident, Vojislav Kostunica, habe im Kosovo paramilitärische Einheiten gegründet. Zu Wort gemeldet hat sich in der Zwischenzeit auch der frühere US-amerikanische Balkan-Vermittler Richard Holbrooke. Er ist bereit, vor dem Tribunal gegen Milosevic auszusagen. Doch die US-Regierung will dies nur unter der Voraussetzung erlauben, dass Holbrooke unter Ausschluss der Öffentlichkeit auftritt. Dabei war der frühere Diplomat und jetzige Geschäftsmann derjenige der westlichen PolitikerInnen, der die meisten Unterredungen mit Milosevic führte und seine Absichten und Einstellungen am besten kannte. Im Lichte dieser Versuche, «grosse Namen» nach Den Haag zu holen, erscheinen die Aussagen der einfachen Albaner, die im Kosovo ihre Familien durch Gewalt serbischer Polizei und Militärs verloren haben, am glaubwürdigsten. Sie sind aber lediglich Statisten neben den «grossen» Zeugen, die die Hauptpunkte der Anklage gegen Milosevic bestätigen sollen.
Trotzdem: Es ist gut, dass Milosevic in Den Haag auf der Anklagebank sitzt. Denn erstens haben die Gerichte in Serbien im Verlauf des letzten Jahres gezeigt, dass sie nicht in der Lage sind, vergleichbare Prozesse zu führen. Es fehlen neue, unbelastete RichterInnen, es fehlt an politischer Unterstützung. Und es würden sich noch weniger ZeugInnen trauen, in Belgrad gegen Milosevic auszusagen als es in Den Haag der Fall ist – so wie sich bis heute SerbInnen nicht trauen, in Kroatien in einem Prozess gegen kroatische Militärs aufzutreten. Die persönliche Sicherheit ist weder in Serbien noch in Kroatien garantiert. Zweitens war Milosevics Auslieferung das erste grosse Thema, das die regierende Koalition DOS in Serbien polarisierte. Heute stehen auf der einen Seite die Nationaldemokraten unter Präsident Vojislav Kostunica, auf der anderen die Liberaldemokraten und Technokraten um Premier Zoran Djindjic. Damit ist die Illusion beendet, wonach das «zweite Serbien» nach Milosevic besser und nicht nationalistisch sei.
Solange Milosevic in Den Haag sitzt, besteht mindestens die Chance, dass die vergangenen zehn Jahre, die Verantwortlichkeiten für die Kriege (und auch die eigene Verantwortung) nicht völlig verdrängt werden. Doch das Haager Gericht müsste glaubhafter und sauberer vorgehen. Bisher fehlt es der Anklage – auch in den Augen der wohl gesonnensten BeobachterInnen – an Seriosität. Es ist nicht gut, wenn viele Menschen in Serbien an die eigenen Gerichte erinnert werden, die zu oft eher als politische denn als juristische Institutionen agierten.