Ex-Jugoslawien: Gewalt und Hoffnungslosigkeit in Belgrad

WoZ: Goran Paskaljevic, Sie haben als serbischer Filmemacher einen Film über Belgrad gedreht, der das Leiden der serbischen Bevölkerung bereits vor Kriegsbeginn zeigt. Wie stellen Sie sich zu der heiklen Situation im ehemaligen Jugoslawien heute?
Goran Paskaljevic: Ich bin in erster Linie Mensch und erst nachher Serbe. Ich habe genügend Mut zu sagen, dass ich mich schäme für das, was den Kosovoalbanern angetan wird. Unrecht lässt sich nicht mit Unrecht vergelten. Ich frage mich aber, ob sich unter den westlichen Politikern, die ohne klares Ausstiegsszenario in diesen Krieg hineingerasselt sind, auch jemand schämt für das, was den Serben angetan wird – all den vielen unschuldigen zivilen Opfern.

Schauen Sie, was mit der Stadt Nis geschieht, in der ich meine Kindheit verbracht habe, oder mit Belgrad, Tschatschak, Kragujevac! Alle diese Städte haben sich dem Regime von Milosevic widersetzt. Gerade sie leiden aber heute am meisten unter den Bombardierungen der Nato. Ich frage mich manchmal, ob Madeleine Albright wohl ruhig schlafen kann. Ob ihr all die zivilen Opfer egal sind. Ist es wichtig, bis zum Ende zu gehen, damit politische Karrieren verteidigt werden können? Alle politischen Karrieren zusammen, die serbischen und die westlichen, sind nicht das Leben eines einzigen serbischen oder albanischen Kindes wert.

Sie stehen als Intellektueller, der sein eigenes Land auch kritisch betrachtet, in einer paradoxen Situation: Niemand kann Milosevics Gräueltaten gutheissen – andererseits lassen sich aber auch die Bombardierungen der Nato nicht unterstützen. Wie gehen Sie mit diesem Dilemma um?
Seit längerer Zeit ist es nicht populär oder leicht, Serbe zu sein, vor allem im Ausland. Aber ich bin in erster Linie Künstler. Deshalb bemühe ich mich, mit meinem Werk den Menschen in der Welt zu zeigen, dass auch die Serben leiden und umkommen, dass nicht alle Serben Mörder sind, nicht alle das Regime von Milosevic unterstützen. Ich versuche die menschlichen Dramen zu schildern, die wir durchstehen – zu zeigen, welch überaus schwierige und tragische Zeit Serbien erlebt. Vergessen Sie nicht: Ich bin ein Teil der Opposition gegen dieses Regime. Vor zweieinhalb Jahren nahm ich volle drei Monate an den Demonstrationen gegen Milosevic teil. In diesen Kundgebungen hat sich ein anderes Gesicht Serbiens gezeigt. Es gibt zwei Serbien: ein offizielles und dasjenige des einfachen Volkes, das genauso in Frieden leben möchte wie alle anderen Menschen.

Ihr Film «Bure baruta» (Das Pulverfass) erzählt von diesem einfachen Volk ...
«Das Pulverfass» handelt wie alle meine bisherigen Filme von den einfachen Menschen in Serbien. Diese machen im Moment in Belgrad eine ausserordentlich leidvolle Zeit durch, eine Zeit ohne jegliche Hoffnung. Der Film hat nicht den jetzigen Krieg zum Thema, der dieses Land verwüstet und die Menschen zerstört – er erzählt von der Atmosphäre, die unmittelbar vor Ausbruch des Bombardementes herrschte.

Wie Sie wissen, sind die Serben seit sieben Jahren gezwungen, unter einem schrecklichen Embargo zu leben, welches zwar das Milosevic-Regime im Visier hatte, aber die einfachen Leute traf. Wir sind sehr arm geworden – es gibt sozusagen keine Mittelschicht mehr in Serbien –, und wir leben in fürchterlichen Spannungen. Jeder ist ein kleines Pulverfass geworden – da reicht eine winzige Begebenheit auf der Strasse für eine unvorhergesehene Explosion. «Das Pulverfass» ist ein Synonym für den Balkan. Und ein Film über das menschliche Leid ganz allgemein. Als ich letztes Jahr an den Filmfestspielen in Venedig war, haben vor allem die Journalisten aus Südamerika oder Italien – jenen Ländern, in denen die sozialen und ethnischen Spannungen gross sind – meinen Film sehr gut verstanden. Mittlerweile hat sich die Situation in Serbien noch mehr zugespitzt. Vielleicht kann dieser Film den Zuschauern erklären, wie wir uns in Serbien vor dem Beginn der westlichen Aggression gefühlt haben.

Zurzeit wird die Öffentlichkeit im Westen überflutet von grauenhaften Bildern der Gewalt aus dem ehemaligen Jugoslawien. Wie unterscheiden sich die Bilder in Ihrem Spielfilm von diesen?
Ein künstlerischer Film ist immer komplexer als eine Fernsehreportage, spielt auf weit mehr verschiedenen Ebenen. Ich glaube, dass das Publikum, welches «Das Pulverfass» gesehen hat, besser verstehen wird, was uns widerfährt. Als die bekannte Schauspielerin Julie Christie, die in der Jury sass, von der ich den Grossen Preis von Santa Barbara bekam, aus meinem Film kam, hatte sie Tränen in den Augen. Sie glaubte, dass wenn man die Tragödie der Menschen in Serbien früher gesehen hätte, niemand angegriffen hätte. Deshalb bin ich überzeugt, dass das Publikum viel mehr über Belgrad erfahren wird durch diesen Film als durch die Fernsehbilder. Dazu kommt, dass die Fernsehbilder im Dienst der Propaganda stehen: Selbst CNN erweckt den Eindruck, Propaganda auszustrahlen – etwas subtilere vielleicht als diejenige in Serbien.
Auch Ihr Film liesse sich als Engagement lesen, gegen Gewalt ...
Ich habe mich schon immer für die Demokratie in Serbien eingesetzt. Deshalb ist es für mich besonders schwierig, meinen Mitbürgern zu erklären, dass wir auf Europa zugehen müssen, dass wir zu Europa gehören und nicht etwa zu China. Ich werde immer wieder gefragt, was dies denn für eine Demokratie sei, die uns Bomben schicke, die sich derselben Propagandamittel bediene wie unser eigenes Regime. Die Bomben der Nato richten schreckliche Verwüstungen an – Serbien wird eines Tages vor einem einzigen Trümmerhaufen stehen. Schlimmer noch ist aber, dass diese Bomben auch die demokratische Opposition im Land umgebracht haben. Und das war voraussehbar, vom ersten Tag an! Ich nutze jede Gelegenheit, die sich mir bietet, um zu sagen, dass die Bombardierungen aufhören müssen. Sie drehen nur die Gewaltspirale weiter, vergrössern den Hass in dieser Region. Eines Tages werden wir doch wieder zusammenleben müssen, die Albaner und wir, wir haben keinen anderen Ausweg – auch wenn wir im Moment in unserer eigenen Geschichte zwanzig Jahre zurückfallen.

Wollen Sie denn in Ihrem Film ein düsteres Bild der Serben zeigen?
Mein Film ist keine Stellungnahme, weder für noch gegen Serbien. Er ist ein künstlerisches Werk. Ich glaube, dass alle Helden in meinem Film tragische Figuren sind. Kritiker haben mir vorgeworfen, ich hätte ein zu dunkles Bild Serbiens gemalt. Aber vergessen Sie nicht: Der Film ist kein Dokument. Er ist eine Metapher für eine hoffnungs- und ausweglose Situation, in der vor allem die junge Generation steckt. «Das Pulverfass» ist der Aufschrei eines Künstlers, seine Warnung. So hat ihn das junge Publikum in Belgrad auch aufgenommen: Er wurde sofort zum Kultfilm. 250 000 Menschen haben ihn alleine in Belgrad gesehen, in ganz Serbien waren es 500 000. Dies ist eine riesige Zahl, obwohl keine besondere Werbung gemacht wurde. Ich glaube, dass der Film bei den Zuschauern vor allem eine Frage aufwirft: Sind wir nicht auch selbst mitschuldig an dem, was uns widerfährt? Ich glaube, dass er eine Diskussion eröffnet über die Hintergründe dessen, was rundum passiert. Deshalb konnte ich am Ende auch keine trügerische Hoffnung geben. Nichts wäre einfacher gewesen: Ein Morgen bricht an, ein Ausweg zeichnet sich ab ... Es wäre gelogen gewesen.

Die Frauen in Ihrem Film kommen nicht gut weg: Sie haben nur Nebenrollen oder sind Opfer.
Die Frauen sind bei uns in jeder Hinsicht Opfer, wir leben in einer ausgesprochenen Macho-Gesellschaft. So ist es auch in diesem Film: Die gezeigten Verhältnisse sind realistisch.

Wie prägt die jetzige Situation Ihr persönliches Leben und das Leben Ihrer Familie und Ihrer Freunde?
Ich lebe seit fünf Jahren in Frankreich, bin mit einer Französin verheiratet. Ich habe zwei Wohnungen, eine in Paris und eine in Belgrad. Ich reise aber oft nach Belgrad – meine Mutter lebt dort, ebenso meine beiden Söhne. Ich war auch ohne diesen Krieg zerrissen zwischen zwei Ländern und zwei völlig verschiedenen Welten. Jetzt ist es für mich schrecklich: Die eine Hälfte der Familie ist hier, die andere in Belgrad. Jede Nacht verfolge ich bis morgens um drei Uhr die Meldungen über den Krieg in meinem Land im Fernsehen. Ich habe Angst, kann nicht mehr ruhig schlafen, solange die Bomben auf Belgrad fallen, wo meine Familie lebt.

In Ihrem Film kann aber trotzdem gelacht werden. Welche Rolle spielt der Humor?
Nicht alles ist düster in meinem Film. Es gibt eine Menge Humor. Natürlich ist dieser viel zitierte balkanische Humor ein schwarzer Humor. Er ist das Einzige, was uns geblieben ist, unsere einzige Waffe. Die Menschen in meinem Land überleben im Augenblick nur mit Hilfe des Humors – das ist für den Balkan sehr spezifisch und vor allem für Serbien. In tragischen Zeiten kehren wir immer zum dunklen Witz zurück. Natürlich ist es möglich, die Serben zu besiegen. Aber den Geist zu besiegen, das ist schon schwieriger. Ich bin sicher, dass niemand diesen Krieg gewinnen kann, weder die Nato noch die Serben. Er ist ein Verlust für uns alle, ein Verlust für unsere Zivilisation. Deshalb ist es so wichtig, zumindest den Geist zu retten und die Seele.

Gibt es eine besondere Botschaft, die Sie dem Deutschschweizer Publikum mitgeben möchten?
Ich habe keine zusätzliche Botschaft an das Deutschschweizer Publikum. Ausser dass ich hoffe, dass die Zuschauer und Zuschauerinnen hier nach dem Film etwas besser verstehen, was in Serbien geschieht.

Bure baruta. Regie: Goran Paskaljevic. Serbien 1998

Pulverfass Balkan

Conférencier Boris empfängt mit grell geschminktem Draculalachen zu einer nächtlichen Rundfahrt im Taxi durch Belgrad – durch eine Welt von Hass, Gewalt und Hoffnungslosigkeit. Der Taxifahrer (Nebjosa Glogovac) hatte eine alte Rechnung zu begleichen mit dem Polizisten Dimitri (Alexsandr Bercek) – Dimitri bezahlt mit 28 gebrochenen Knochen. Der Heimkehrer Mané kurvt auf der Suche nach seiner früheren Verlobten Natalja (Mirjana Karanovic) im Taxi durch die Nacht – sein verzweifelter poetischer Rückeroberungsversuch endet tragisch. Jean (Bogdan Diklic) besäuft sich auf dem Autorücksitz. Was er für eine echte Freundschaft mit seinem alten Boxerkumpan gehalten hatte, hat sich als grausame, seit Jahren andauernde Rache herausgestellt. Die Menschen in «Bure baruta» (Das Pulverfass) begegnen sich, hassen sich, töten sich. Der 52-jährige serbische Regisseur Goran Paskaljevic hat das brillante gleichnamige Stück des jungen Mazedoniers Dejan Dukovski so eindringlich umgesetzt, dass das Grauen einen keine Sekunde loslässt. Belgrad befindet sich, vom westlichen Wirtschaftsembargo ausgehungert, im Frühjahr 1998 seit zehn Jahren im Kriegszustand – lange bevor die ersten Nato-Bomben
fallen. Die Stadt ist verarmt, verroht, zermürbt. Was bleibt, ist schwärzester Humor. So hebt Tunte Boris zum Schluss das Glas: «Auf uns!»