Paolo Rumiz: Masken für ein Massaker
Das von Claudio Magris eingeführte Buch «Masken für ein Massaker» des Triester Journalisten Paolo Rumiz fasst offensichtlich Reportagen zusammen, die der Autor für eine Tageszeitung geschrieben hat; die einzelnen Kapitel sind jedoch nicht mit dem Datum ihres Erscheinens gekennzeichnet. (Der zeitliche Ablauf ist einer Zeittafel vom Tod Titos 1980 bis zum Tod des kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman im November 1999 zu entnehmen.) Der Autor beschreibt nicht den Ablauf der Kriege auf dem Balkan, sondern er erzählt, wie sich ihm die Wahrheit des Krieges schrittweise enthüllt hat. Darauf beruht die Spannung des Buches. Der Reporter hat erfahren, dass er selbst erst der Verschleierung und Täuschung unterlegen ist, hat unerschrocken weitergeforscht, wie schrecklich und unwahrscheinlich seine Enthüllungen auch waren.
Im dritten Kapitel schildert der Autor jenes Schlüsselerlebnis, das ihm die Augen für seine weitere Berichterstattung geöffnet hat. Er hat die Revolution gegen Ceausescu und sein Regime vor Ort beobachtet. Über die «Morde von Temesvar», an denen sich die Revolution entzündet hat, glaubte er, wahrheitsgemäss berichtet zu haben. Nachträglich stellte es sich heraus, dass die Toten gar nicht von den Sicherheitskräften des Regimes ermordet worden waren. In einem inszenierten Spektakel waren die Leichen aus den Pathologiekellern des Spitals geraubt, eingegraben und als Opfer wieder aufgefunden worden. Rumiz musste seinen Bericht widerrufen: «Im dramatischen Endstadium des rumänischen Kommunismus hat nicht das Volk, sondern die Geheimdienste haben die Revolution gemacht.»
Neu ist in den jugoslawischen Kriegen das komplizenhafte Zusammenspiel der politischen und militärischen Machthaber der jeweils gegeneinander Krieg führenden Parteien mit der Berichterstattung. Die Entstellung der Wirklichkeit in den regierungseigenen Medien gelingt, weil das Publikum - also die Völker, die den Kriegen ausgesetzt sind - ahnungslos und naiv ist, zugleich aber auch jede Täuschung und Sensation begierig aufnimmt.
Der Krieg erweist sich nach der sorgfältigen Analyse als eine kolossale und - in ihrem Grauen - geniale Operation der Plünderung und zugleich der Verschleierung. Ähnlich einer Mafia-Organisation wahren alle Seiten ihre Interessen im gleichen selbst erzeugten und geförderten Chaos. Erst wenn die Interessen der Kontrahenten nicht mehr zusammenstimmen, fallen sie übereinander her: diplomatisch mit Deklarationen, real mit Waffen oder ganz «fiktiv», indem sie eine Haltung vorgeben, aber das Gegenteil betreiben.
Zahlreiche Schritte der grossen Politik haben sich als Massnahmen erwiesen, den kriegerischen Überfall der stärksten Militärmacht, Serbien, zu unterstützen. Die von der Uno eingesetzten Vermittler haben den ehemaligen polnischen Präsidenten Tadeusz Mazowiecki als Berichterstatter für die Einhaltung der Menschenrechte eingesetzt. Als dieser feststellte, dass der so genannte Vance-Owen-Plan, den die Vermittler ausgearbeitet hatten, sich auf die angeblichen Friedensziele kontraproduktiv auswirkte, musste er zurücktreten. Die Politik der Kritik und moralischen Verurteilung kriegerischer Konflikte bei gleichzeitig hintergründiger Förderung der Aggressoren ging weiter, mit allen unheilvollen Folgen, bis eine andere Machtkonstellation eine andere Politik nötig machte.
Verleugnete Gefahr
Die Machthaber in Belgrad, in Zagreb, später auch in Sarajewo haben die ethnozentrische Verblendung, die unser Autor zu durchschauen trachtet, inszeniert und durch systematische Verfälschung der Geschichte in den vom Staat kontrollierten Medien zur Ursache der Kriege erklärt. Da die internationale Politik trotz ihrer moralisch-kritischen Haltung die gleiche These bestätigt und in den Medien vertreten hat, wurde die Frage nach den wirklichen Interessen und Zielen der Kriegführenden kaum je richtig gestellt. Es hiess: ein typischer Balkankrieg oder ein Bürgerkrieg unter Jugoslawen. Erst nachträglich wird klar, dass die mit grausamen und blutigen ethnischen Säuberungen vertriebenen Kroaten und ihre Feinde, die Serben, die Aufteilung des Territoriums der Republik Bosnien in einen serbischen und einen kroatisch-bosnischen Teil, 51 Prozent gegenüber 49 Prozent, in einem so genannten Geheimvertrag (von Karadjordjewo) vereinbart hatten. Als schliesslich die USA und Deutschland die bedrängte bosnische und die besiegte kroatische Armee wieder bewaffneten, liess man sie siegen, bis genau der Prozentsatz Land für die Aufteilung erreicht war, der im stillschweigenden Einverständnis mit den Weltmächten von allem Anfang an beschlossen worden war.
Inzwischen waren 200 000 Tote und Millionen Vertriebener zu beklagen. Auch vom serbischen Diktator, der den Krieg zur Wiederherstellung des legendären Grossserbien angezettelt hatte, kam kein Protest. Trotz seiner damals noch intakten Armeen stimmte er der brutalen Vertreibung von 300 000 Serben aus der Krajna zu. Man garantierte ihm die Respektierung der Souveränität Jugoslawiens und damit die Erhaltung seiner Macht. Diese Politik dient bis heute einem Status quo, der zwar eine weitere Aggression (gegen die Albaner im Kosovo) ermöglicht, die Machtbasis der serbischen Diktatur jedoch nicht wirklich erschüttert hat.
Reporter meinen, einen besonderen Weg zu haben, der Wahrheit über den Krieg näher zu kommen. Sie erzählen vom Schicksal einzelner Menschen, bei denen das Gift der Desinformation nicht oder noch nicht gewirkt hat. Dabei zeigt es sich, dass viele der unmittelbar vom Krieg Bedrohten in einem seltsamen Unglauben meinen, dass der Krieg - der sie doch bald ins Unglück oder in den Tod reissen wird - sie selber verschonen würde. Diese Naivität der einfachen Menschen kennt man aus vielen Kriegen, in denen die evidente Gefahr in einer wahnhaften Verblendung verleugnet wird. Szenen aus Sarajewo, wo «niemand» an den organisierten Überfall der Volksarmee glauben wollte, auch als bereits Schüsse und Artilleriefeuer zu hören waren, erinnern den Rezensenten an die Zeit des Hitler-Reiches. Wenige Wochen vor dem «Anschluss», dem Einmarsch der nationalsozialistischen Armee in Österreich, der die Mehrzahl der Juden ins Verderben stürzte, ist es mir nicht gelungen, eine einzige unter etwa achtzig gefährdeten Personen zur Auswanderung zu bewegen, die leicht zu bewerkstelligen gewesen wäre. «Wache» gefährdete Personen waren ausgewandert, andere blieben, die offensichtliche Gefahr verleugnend im Land, bis das Unheil über sie kam.
An einer Stelle schreibt Rumiz, man könnte «die Propagandalügen ebenso gut vom Schreibtisch aus entlarven». Das stimmt. Ich glaube, dass es wegen unserer eigenen Vorurteile so schwer gelingt, die jeweils wirksamen Prozesse zu analysieren und ihre Absichten zu entlarven. Noch heute hat sich hier in der Schweiz und im gesamten «Westen» kaum die Erkenntnis durchgesetzt, dass die «balkanischen» Kriege auf einer Komplizität westlicher Macht- und Wirtschaftsinteressen mit nationalistischen Gruppierungen auf dem Balkan beruhen. Notorisch korrupte Führerfiguren, die gewissen- und verantwortungslos sind, werden so lange als vernünftige und verlässliche Partner behandelt, bis sie ihre Machtmittel verloren haben oder schliesslich eines natürlichen Todes gestorben sind.
In einer anomischen Gesellschaft, bei Versagen der Institutionen und bei Verkommen der Partei zu einer korrupten Nomenklatura ist der erste Schritt: Verwandlung des Staates in eine nationalistische Kampfgemeinschaft. Ist es dem Machthaber gelungen, über eine gewaltige und gewalttätige (Polizei-)Truppe zu verfügen und die totale Kontrolle der wichtigen Medien auszuüben, erfolgt erst die Umgestaltung des Staates in ein totalitär-autoritäres Gebilde, in dem das Gesetz des Krieges die Entwicklung jeder demokratischen Institution verhindert. Alle folgenden Kriege sind demnach nicht Bürgerkriege, sondern Raub-, Vertreibungs- und Vernichtungskriege, in denen jede Opposition als feindliche Bedrohung des usurpierten diktatorischen Machtapparats erklärt wird und mit allen Mitteln zerschlagen werden muss.
Rumiz hat es sich nicht erspart, auch den jüngsten gerade noch nicht zum Krieg gesteigerten Konflikt zwischen Serbien und jener Partei in Montenegro des Präsidenten Djukanovic - eines ehemaligen Anhängers und heutigen Gegners des serbischen Diktators Slobodan Milosevic - zu untersuchen. «Es ist naiv», schliesst der Autor, «die Auseinandersetzung zwischen Montenegro und Serbien stereotyp als Gegensatz zwischen Liberalismus und Dogmatismus oder zwischen Freiheit und Unterdrückung zu interpretieren statt als Auseinandersetzung zwischen zwei Mafiagruppen.»
Machtstärkende Niederlagen
Der naive Irrtum scheint durch ein Missverständnis der politischen Haltung der Vereinigten Staaten von Amerika bestärkt zu werden. Diese wird als die übliche moralische Beurteilung der offiziellen amerikanischen Politik hingenommen. Dabei wird übersehen, dass bereits der Eingriff der amerikanischen Militärmacht in Bosnien (vor Dayton) und gar erst der jüngste Bombenkrieg im Kosovo dem «rationalen» Muster des Containments folgen, das seit dem Beginn des Kalten Krieges als Leitfaden für die Einmischung in kriegerische Konflikte im Ausland, insbesondere auch in Europa dient. Containment heisst: Eingrenzung des Konflikts ohne Einmischung in «innere» Konflikte der betreffenden Staaten, so lange, bis die Kosten humanitärer Hilfe zu gross geworden sind und bis der Einsatz der technisch überlegenen amerikanischen Armee sich lohnt, das heisst einen sicheren Zuwachs an Macht und Prestige für die einzige übrig gebliebene Weltmacht verspricht.
Zuletzt hat die Politik des Containments den Entschluss begründet, den human motivierten Bombenkrieg der Nato gegen Kosovo und Serbien zu führen. Die humanitär-moralistische Begründung ermöglicht es, das beinahe vollständige Scheitern des Kosovokrieges zu verschleiern. Die Provinz Kosovo ist zum grössten Teil zerstört, das scheinbar angestrebte Zusammenleben von Albanern, Serben, Roma/Sinti unter anderen vielleicht für immer verunmöglicht. Weite Teile Serbiens sind unter Hinnahme kollateraler Schäden und schwerer ökologischer Belastungen zerstört, die serbische Wirtschaft ist in das Elend eines Entwicklungslandes rückverwandelt, der serbische Diktator steht nicht unbestritten, aber doch mit intakter militärischer Macht und unter den Seinen als Sieger da.
Rumiz kann sich nicht nur auf seine eigenen Recherchen und die sich ergebenden Schlussfolgerungen berufen. Dennoch weisen seine Deutungen, die zum Grossteil erst nach dem Massaker entstanden sind, Fehler auf, die sich anhand anderer Berichte korrigieren lassen. Zum Beginn der Kriege am Veitstag 1991 gegen Slowenien bemerkt er beispielsweise, dass es eine «Invasion (der Republik) überhaupt nicht gab».
Tito als Verräter
Schwerer wiegt ein anderer Irrtum, dessen Kern Claudio Magris in seinem Vorwort so zusammenfasst: «Der Krieg bildet für Rumiz den blutigen und vorsätzlich inszenierten Epilog eines langen Prozesses, der in der ‘Pax Tito’ wurzelt. Tito setzte diesen Prozess mit der sinnlosen Schlacht an der so genannten ‘Sremski-Front’ in Gang, als er die Blüte der intellektuellen Jugend Belgrads vorsätzlich in den Tod schickte, weil er wusste, dass sich die, die im Widerstand gekämpft hatten, nach dem Krieg im Namen des Widerstands gegen ihn wenden würden. Alle folgenden Regime haben diesen Prozess der Ausrottung der kosmopolitischen bürgerlichen Intelligenz fortgesetzt.»
Diese Deutung der Kämpfe von Titos Armee gegen die Deutschen, die 1944/45 in Syrmien (heute Vojvodina) erbitterten Widerstand leisteten, ist eindeutig eine Propagandalüge, die vom Regime Milosevic in Umlauf gebracht wurde, um den «Kroaten» Tito als Verräter an Belgrads serbischer und städtischer Jugend zu diskreditieren. Tatsächlich waren damals zwei schwer bewaffnete Sowjetarmeen in der ungarischen Tiefebene bereit, die Deutschen anzugreifen und die Vojvodina zu befreien. Titos aus der Partisanenarmee herstammende Truppen kamen ihnen zuvor. Sie eroberten schliesslich im Frühjahr 1945 die Vojvodina unter grossen Verlusten, da ihre Bewaffnung jener der deutschen Armeen unterlegen war. Der Sinn dieser Kriegführung enthüllte sich bald. Während alle anderen Oststaaten von den Sowjetarmeen befreit und besetzt wurden, gab es in Belgrad zu Ende des Krieges nur zwei offizielle Institutionen der damals noch mit Titojugoslawien befreundeten Sowjetunion: die Sowjetische Gesandtschaft und das Pressehaus der Iswestija.
Der Rezensent hat im Mai/Juni 1945 als Chirurg in der Stadt Sombor gearbeitet, die zur Hälfte in ein Spital für noch fünf- bis sechstausend Verwundete und Rekonvaleszente der Kämpfe an der «Sremski-Front» umgewandelt worden war. Ein einziger Russe war dort als Spitalverwalter tätig, ein - übrigens unfähiger - Oberst und Doktor der Sanitätswissenschaften. Die Verwundeten stammten, entsprechend der Zusammensetzung der siegreichen Volksbefreiungsarmee aus Kroatien, Bosnien und Montenegro. Die Jugend von Belgrad, das erst wenige Monate zuvor, im Spätherbst 1944 befreit worden war, war unter den verwundeten Soldaten nur durch sehr wenige ältere Soldaten vertreten.
Es liegt mir fern, solcher Irrtümer wegen den Wert der «Demaskierung des Massakers» in Frage zu stellen. Es ist immer schwer, die propagandistisch dargebotenen nationalistischen Mythen von der historischen Wahrheit zu unterscheiden. Glaubwürdig ist das Buch wegen der vielen einander ergänzenden Entdeckungen des Autors und weil Leser und Leserinnen die Enthüllung der Wahrheit mitverfolgen können. Wie in einem Roman enthüllen die verborgenen Machenschaften ihr schreckliches Antlitz. Da die diplomatischen Kontrahenten und die kriegerischen Gegner in eine mafiaartige Komplizität mit den verbrecherischen Kriegstreibern verwickelt sind, ist es wichtig, die Hintergründe der bisherigen Kriege zu enthüllen. Wenn dies gelingt, könnten andere, nicht nach Krieg, Chaos und Gewinn drängende Kräfte einen entscheidenden Einfluss auf das weitere politische Geschehen gewinnen.
Paolo Rumiz: Masken für ein Massaker. Verlag Antje Kunstmann, München 2000. 220 Seiten, Fr. 29.80