Belgrad, Novi Sad und Nis im Herbst 2001: Serbiens Wettlauf mit der Zeit

Serbinnen und Serben glauben, die lange Zeit, die der Prozess der Bewusstseinsveränderung fordert, nicht mehr zu haben.

Jean Pauls vor zweihundert Jahren aufgezeichnete Erkenntnis, dass es bloss «einen Krieg braucht in einem Land, um bessere Geografie darüber zu bekommen», geht mir auf dieser herbstlichen Reise durch Serbien kaum jemals aus dem Kopf. An der Autobahn Belgrad–Sofia taucht das Hinweisschild «Aleksina» auf: Sogleich macht es klick, der Ortsname ruft die Erinnerung an die 1999 aus der Stadt gemeldete Zerstörung von Wohnhäusern durch Nato-Bomben wach. Der Ortsname «Kragujevac» signalisiert die Zertrümmerung der Autofabrik, die den guten alten «Yugo» produzierte. Im südserbischen Nis schliesslich, der Universitätsstadt am Kreuzungspunkt der alten balkanischen Nord-Süd- und Ost-West-Achse, kommt die Nato-Streubombe in den Sinn, die – «Nato regrets it», wie dann aus Brüssel verlautete – statt am Militärflughafen auf dem belebten Marktplatz niederging. Erst ganz allmählich kann sich die zivile Geografie Serbiens ein wenig gegen die Kriegsgeografie durchsetzen. Aber ganz zum Verschwinden lässt sich Letztere nicht bringen.
In Novi Sad, der Hauptstadt der Provinz Vojvodina, ganz im Norden des Landes, wird der fremde Besucher gleich ans Ufer der Donau geführt. Gegenüber sieht er die aus der österreichisch-ungarischen Zeit stammende Festung Petrovaradin. Fast auf den Tag genau 58 Jahre nach Hitlers Luftwaffe hatte die Nato Anfang April 1999 neben zwei anderen Donaubrücken die Brücke zerbombt, die Novi Sad mit dem jenseitigen Ufer von Petrovaradin verband. «Aus strategischen Gründen» habe dies geschehen müssen, erklärte damals der stets manisch irr auftretende Nato-Sprecher Jamie Shea. Auch wer lediglich vage geografische Vorstellungen besass, konnte sich darüber nur den Bauch halten vor Lachen: Ganz im Norden des Landes, jenseits von Belgrad, Brücken zerstören, damit die jugoslawische Armee keinen Nachschub in den Kosovo am anderen Ende des Landes transportieren kann!
Bruecke Novi SadDas oppositionelle Radio B92 zeigte danach auf seiner Website das Bild der in der Donau ruhenden Trümmer der Stadtbrücke von Novi Sad, daran erinnernd, dass der Stumpfsinn nicht nur von Milosevic, sondern auch vom westlichen Militärbündnis Besitz ergriffen hatte. Das kanadische Nato-Kontingent hatte sich auf Anraten seines mitgebrachten Experten für Kriegsvölkerrecht im Übrigen geweigert, sich an dem militärisch sinnlosen Zerstörungswerk von Novi Sad zu beteiligen, das auch noch einen hirnverbrannten Cruisemissile-Schuss auf das Gebäude des Provinzparlaments der pluriethnischen, wenig Milosevic-freundlichen Vojvodina einschloss.
Eine neue Brücke überspannt nun die Donau, doch der Strom, wird mir erklärt, sei nach wie vor nur sehr eingeschränkt schiffbar, da Geldmangel das Beiseiteräumen der Brückentrümmer verhindert hat; zudem muss bei jeder Schiffspassage eine weiter stromabwärts errichtete Pontonbrücke umständlich geöffnet werden. Ein Lastkahn ist auch weit und breit nicht zu sehen. Geldmangel wird von meinen serbischen Begleitern für fast alles verantwortlich gemacht, was mir in serbischen Städten als schäbig, heruntergekommen, dringend reparaturbedürftig auffällt.

A la France, 1914–1918

Von dem am Zusammenfluss von Save und Donau gelegenen, in einen Park verwandelten Belgrader Festungshügel aus sehe ich am gegenüberliegenden Save-Ufer das ausgebrannte Hochhaus der Milosevic-Partei aufragen, das mit seiner zum Schrotthaufen zerschossenen Sendeantenne auf dem Dach immer noch so jammervoll dasteht, wie es unmittelbar nach dem Nato-Beschuss am Fernsehen zu sehen war. In der Nähe des Aussichtspunkts sehe ich ein Denkmal, das in kuriosem Kontrast zum Nato-Kriegsmonument gegenüber steht: «A la France. 1914–1918» ist in den Sockel eingemeisselt. Damals, als Frankreich und Serbien auf der Seite der Entente gegen den gleichen deutsch-österreichischen Feind kämpften.
Beim Gang durch die Innenstadt passiere ich das ehemalige Hauptquartier der jugoslawischen Armee, das im Frühjahr 1999 von Cruisemissiles schwer getroffen worden war. Es ist immer noch nichts anderes als eine von oben bis unten durchlöcherte Ruine. Ihr Anblick missfällt meinen Belgrader Gesprächspartnern, nicht weil sie etwas für Armeehauptquartiere übrig hätten, sondern weil sie die Architektur des Gebäudes mit seinen zurückgesetzten Fassaden als eine der wenigen modernen urbanistischen Bereicherungen der Innenstadt geschätzt hatten.
Nicht alles Heruntergekommene hat jedoch unmittelbar mit dem Nato-Krieg zu tun. Die alte Ostblock-Strassenbahn muss manchmal im Schritttempo fahren, weil der Schienenunterbau gefährlich nachgibt. Laut röhrende, Dieselwolken ausspuckende Busse eines anderen Zeitalters besorgen den innerstädtischen Nahverkehr. In der Herbstluft liegt jener durchdringende Braunkohlengeruch, den die DDR-erfahrene Nase sogleich als Ostgeruch identifiziert. Ostüblich sind auch viele Innenräume überheizt. Frieren müssen die Leute in Belgrad also nicht, hungern müssen sie auch nicht. Aber wer die Renterinnen auf dem Markt nach den billigsten Kartoffeln und Zwiebeln fahnden sieht, ahnt schon, welche kulinarischen Abwechslungen eine Rente von 60 bis 70 Franken im Monat ermöglicht. Das Durchschnittsgehalt eines Angestellten oder Lehrers liegt, wird mir gesagt, bei 250 bis 300 Franken. In Europa seien nur Bulgaren noch ärmer dran.
Das seinerzeit von Milosevic drangsalierte unabhängige Radio B92 hat mich eingeladen, in Belgrad, Nis und Novi Sad einen Vortrag über die Aufarbeitung der Nazivergangenheit in Deutschland zu halten und darüber mit dem Publikum zu diskutieren. Man arbeite jetzt nämlich, war mir mitgeteilt worden, energisch an der Durchleuchtung der jüngeren serbischen Vergangenheit. Zu diesem Zweck ist in dem mit B92 assoziierten Verlag Samizdat, in dem meine Reisebetreuerin, die Germanistin Drinka Gojkovic, arbeitet, bereits allerhand Literatur erschienen. Karl Jaspers’ aus dem Jahr 1946 stammende «Schuldfrage» wurde ins Serbische übersetzt, ebenso Hannah Arendts Eichmann-Buch und Raul Hilbergs «Täter, Opfer, Zuschauer». Eine Arbeit des amerikanischen Historikers Eric D. Gordy über «Die Kultur der Macht in Serbien, Nationalismus und die Zerstörung von Alternativen» findet sich im jüngsten Programm. Mehrere Bücher der kroatischen Charles-Veillon-Preisträgerin Dubravka Ugresic sind von Samizdat in Koedition mit einem kroatischen Verlag in Zagreb herausgebracht worden. Es scheinen sich alte Verbindungen aus der jugoslawischen Zeit wieder zu beleben, das weckt Zuversicht. In den mit Büchern voll gestellten Räumen des Verlags an der Belgrader «Volksfrontstrasse» («Narodnog fronta») kann man sich rasch zuhause fühlen.
Ein paar Häuser weiter findet sich das Büro des Belgrade Circle, eines seit Beginn der neunziger Jahre bestehenden Zusammenschlusses von oppositionellen Belgrader Intellektuellen. Sein Vorsitzender, der Philosoph Obrad Savic, hatte vor Jahren durch eine selbstherrliche Massnahme der Milosevic-Gattin und Vorsitzenden einer sich ausgerechnet «Neue Linke» nennenden regierungsstützenden Phantompartei, Mira Markovic, seinen Posten als Professor an der Belgrader Universität verloren. Dass er ihn nach dem Belgrader Machtwechsel nicht wiedererhalten hat, trägt Savic mit Humor: Der neue Premierminister Zoran Djindjic, der bei dem deutschen Philosophieprofessor Albrecht Wellmer promoviert hat, nachdem Jürgen Habermas den flotten Serben als Doktoranden abgelehnt hatte, hat eben, bemerkt er lachend, jetzt wichtigere Dinge zu tun, als sich für ehemalige Kollegen einzusetzen. Andere Belgrader Gesprächspartner meinen dagegen, dass von Aktionen des neuen demokratischen Premierministers eigentlich gar nichts zu merken sei. Der alte Schlendrian gehe einfach weiter. Vor anderthalb Jahren, noch zu Zeiten Milosevics, ist dessen früherer Parteirivale Ivan Stambolic, ein in Serbien offenbar weithin respektierter Politiker, entführt und höchstwahrscheinlich ermordet worden. Auch unter Djindjic, wird mir gesagt, sei nichts unternommen worden, um das Verbrechen aufzuklären. Über den neuen jugoslawischen Staatspräsidenten Vojislav Kostunica wird in den serbischen Zirkeln, mit denen ich in Berührung komme, überhaupt nur gelacht.
Savic gibt mir einen kiloschweren, 800 Seiten starken grossformatigen, zweisprachig redigierten Sammelband mit dem Titel «Spectre of Nation» mit, den der Belgrade Circle herausgegeben hat. Alles, was Rang und Namen hat, von Slavoj Zizek über Charles Taylor bis zu Jacques Derrida, ist darin vertreten. Es fehlt dem demokratischen Serbien offenbar nicht an wohlwollenden intellektuellen Fürsprechern. Das von Mangel an allen Ecken und Enden gebeutelte Land aber auch einmal aufzusuchen, scheint schon zu viel verlangt von den Freunden des neuen demokratischen Serbien. Wie oft bekomme ich während meiner einwöchigen Serbienreise zu hören: Vielen Dank, dass Sie überhaupt gekommen sind! Ich schliesse daraus, dass eine Reise nach Serbien für manche Ausländer im Ruf stehen muss, einem Horrortrip zu gleichen, den man besser meidet. Was ich während meines Aufenthalts nicht im Geringsten nachvollziehen kann. Gewiss sind neben Trümmern und Dreck auch viele andere hässliche Dinge zu sehen, gewiss fehlt es hier und da an dem gewohnten westeuropäischen Komfort. Doch wer dort die Ohren aufmacht, kann allerhand wissenswerte Dinge erfahren, auch über die serbische Wahrnehmung des Nato-Europa, aus dem er kommt und das, nachdem es 1999 so wacker mitgebombt hat, das sich mühsam und mit geringen Erfolgsaussichten aufrappelnde Land mit göttlicher Indifferenz links liegen lässt.

Drohender Exodus

Die Belgrader Vortragsveranstaltung findet in einem ehemaligen Kino statt, dem Cinema Rex (Kinos heissen in Belgrad, wie in Prag zu Kafkas Zeiten, sonst durchweg «Bioskop»). Der Saal ist nicht schlecht besetzt, auch von jüngeren Leuten. Was treibt sie um, was interessiert sie an deutschen Nachkriegserfahrungen? Können sie etwas mit der von mir referierten Auskunft Hannah Arendts anfangen, wonach die Deutschen auch fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Fakten der Naziherrschaft und des Krieges nicht anders behandelten als beliebige Meinungen, über die man sich ad infinitum streiten und die man von heute auf morgen auch wieder wechseln kann? Die Fakten der letzten zehn bis fünfzehn balkanischen Jahre, habe ich den Eindruck, sind diesen kritischen Belgrader ZuhörerInnen inzwischen vertraut und werden auch nicht bestritten. Wie hat es geschehen können und warum haben wir es geschehen lassen, fragen sie sich hingegen, dass um 1990 der serbische Nationalismus von so vielen Geistern hat Besitz ergreifen können, ohne dass darin eine der Gesellschaft drohende Gefahr erkannt wurde? Wieso ist der Bosnien-Krieg einschliesslich der Beschiessung von Sarajevo durch die bosnischen Serben so gleichgültig verfolgt worden, als ginge er uns nichts an?
Die aus Deutschland mitgebrachte Erkenntnis, dass Durcharbeitung einer verstörenden Vergangenheit ein langwieriger Prozess ist, dessen Verlauf auch von äusseren Faktoren abhängt, auf die man wenig Einfluss hat, beruhigt das Publikum wenig. Verschiedenen Redebeiträgen ist zu entnehmen, dass die Leute sich in einem Wettlauf mit der Zeit fühlen. Wenn sich nicht bald etwas zum Besseren wandelt, lautet der Tenor, und das ist weniger ökonomisch als mental gemeint, werden gerade kluge junge Leute das Land verlassen. Zu viele seien in den vergangenen zehn Jahren bereits emigriert, sässen in den USA, in Kanada oder Australien. Sie würden jetzt dringend gebraucht – ihre von dort aus gegebenen guten Ratschläge hingegen seien nur eingeschränkt brauchbar. Der in meinem Referat implizit enthaltene Appell, Geduld aufzubringen, da sich ein Prozess der Bewusstseinsveränderung nicht übers Knie brechen lässt, hilft den Leuten nicht viel weiter, spitzt höchstens das Dilemma zu, das sie ihren Worten nach verspüren. Denn die lange Zeit, auf die man sich einrichten müsste, glauben sie nicht mehr zu haben.
Eine völlig andere Stimmung im Publikum begegnet mir tags darauf in einem Saal des Rathauses von Nis. Die mit den Belgradern zusammenarbeitende Gruppe OGI (Widerstand für eine Bürgerinitiative) hat zu Referat und Diskussion eingeladen. Die Universitätsstadt Nis wurde vor Jahren als Hochburg der Opposition gegen Milosevic bekannt. Unüberhörbar wird an diesem Abend, dass sie aber auch zum Zufluchtsort für verbitterte Serben geworden ist, die aus der Krajina, aus dem Kosovo und aus Mazedonien geflohen waren. Auf mein Referat gehen einige der sich sogleich zu Wort meldenden ZuhörerInnen gar nicht ein. Mit sich überschlagender Stimme klagt eine Serbin, die ihren Angaben zufolge aus Mazedonien stammt und deren verstorbener Ehemann Offizier der jugoslawischen Armee gewesen ist, Gott und die Welt für ihr serbisches Unglück an. Serbische Untaten gibt es für sie nicht. Den vom Podium aus gegebenen Hinweis auf das Massaker von Srebrenica in Bosnien kontert sie mit der Erinnerung an die viel schlimmeren Verbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Ein aus Deutschland allzu bekanntes Lied: Eine Erwähnung von Auschwitz oder Treblinka wird von manchen Leuten immer noch mit dem Refrain – und das Bombardement von Dresden? – beantwortet.
Schimpfend verlässt die Frau den Saal, als sie spürt, dass ihr Lamento auf wenig Echo stösst. Dann erhebt sich ein älterer Herr, der sich als aus der Krajina vertriebener Serbe vorstellt. Zunächst trägt er eine eigenartige ethnografische Theorie vor: Das ganze Gerede von Bosniern, Kroaten und so weiter sei Unsinn, es gebe nur Serben – eben orthodoxe Serben, muslimische Serben, katholische Serben. Die Serben, ein fundamental friedliebendes Volk, seien lediglich von Fremden aufeinander gehetzt worden. An mich gewandt, spendet er zunächst Lob: Gospodin Baier habe schön gesprochen und sei so freundlich und milde, dass man ihn geradezu mit einem Serben verwechseln könnte – aber Vorsicht: Falle, fügt er gleich hinzu, die Deutschen seien in Wirklichkeit ganz anders, er kenne sie zur Genüge. So jedenfalls gibt der Übersetzer den Beitrag wieder. Der Moderator von der Gruppe OGI, ein Dozent der Universität, gibt sich alle Mühe, die sogleich heftig ausbrechende Diskussion über nationalistische Paranoia in ruhigeres Fahrwasser zu lenken. Erleichterung, als jemand eine Frage nach Karl Jaspers und dessen «Schuldfrage» stellt.

Abschied von Belgrad

Meine Beförderung zum Serben honoris causa hat Drinka Gojkovic so sehr beeindruckt, dass sie beim folgenden Termin in Novi Sad amüsiert davon berichtet. Eingeladen hat dort das Wochenmagazin «Bulevar», das sich – Auflage 5000 – an die BewohnerInnen der pluriethnischen Vojvodina richtet. Man ist dort, in den Räumen des Verlags Prometej, ganz anders als in Nis, geradezu unter seinesgleichen. Wie immer trage ich zuerst einen Abschnitt auf Deutsch vor, dann liest der junge Chefredaktor von «Bulevar» die serbische Übersetzung vor. Einer unter den Zuhörern wenigstens hätte die Übersetzung nicht gebraucht: Es ist der Schriftsteller Aleksandar Tisma, der ebenso gut Deutsch wie Russisch, Ungarisch, Rumänisch, Französisch und Englisch spricht. Von der Anwesenheit des berühmten Autors von «Der Gebrauch des Menschen» und «Kapo» fühle ich mich als Referent sehr geehrt.
Tisma meldet sich auch gleich in der Diskussion zu Wort, erinnert behutsam an die im Zweiten Weltkrieg in der Vojvodina von Deutschen, Ungarn und Kroaten an Juden und Serben begangenen Verbrechen und an die Schwierigkeit, nach Kriegsende in Titos Jugoslawien offen darüber zu sprechen. Ältere und Jüngere beteiligen sich mit durchdachten Beiträgen an der Aussprache über kollektive Blindheit und kollektive wie individuelle Schuld. «Nationales» spielt dabei auf einmal keinerlei Rolle. Im Restaurant hinterher geht das Gespräch angeregt weiter, auf Englisch diesmal. Zuversichtlich gestimmt fahre ich spätabends nach Belgrad zurück. Am nächsten Tag fällt es mir merkwürdig schwer, Abschied von dieser Stadt zu nehmen, trotz bedrückendem Mangel, trotz dem schlechten Frühstückskaffee im Hotel und trotz der aufdringlichen Anwesenheit typischer Ostblockkellner, die manchmal zahlreicher vertreten sind als die Gäste und so tun, als hätten sie alle etwas zu tun. Das wird sogar einem Lehrling beigebracht.

Von Humanisten gekrallt

Auf dem Rückweg lese ich in der französischen Übersetzung eines Buchs, das der Verlag Samizdat auf Serbisch herausgebracht hat. «In den Fängen der Humanisten» lautet die wörtliche Übersetzung des Titels «U Kandzama humanista». Sein Autor Stanko Cerovic ist leitender Journalist des serbischen Dienstes von Radio France Internationale in Paris. Von jeher Regimekritiker und seit Milosevics Machtantritt dessen erbitterter Gegner, trägt Cerovic in diesem wenige Monate nach dem Ende der Kosovo-Intervention abgeschlossenen Buch eine Fundamentalkritik des politischen und militärischen Vorgehens des Westens gegen das Milosevic-Jugoslawien vor, deren Radikalität mich überrascht. Für den Autor, der den Westen immer bewundert hatte, hat dieser Westen 1999 das verheerende Waterloo seiner Glaubwürdigkeit erlebt. Er hat, weist er überzeugend nach, seine Institutionen wie OSZE und Haager Tribunal ohne die geringste Gegenwehr vollständig von CIA und anderen US-amerikanischen Diensten manipulieren lassen. Seine besondere Verachtung gilt dabei der damaligen Chefermittlerin des Tribunals, der Kanadierin Louise Arbour, die sich statt von rechtlichen Erwägungen von Washington die Anklage gegen Milosevic und deren Bekanntgabe diktieren liess, wenig später aber, als sie als Juristin begriff, dass die von der CIA ihr auf den Schreibtisch geworfenen Materialien nicht ausreichten, um eine stichhaltige Anklageschrift zu erstellen, den Bettel hinwarf und sich von hilfreichen Freunden zum Obersten Gericht Kanadas hinwegloben liess. Carla Del Ponte darf nun die eingebrockte Suppe auslöffeln, was die noch mehr als Louise Arbour von Ehrgeiz zerfressene, aber weniger intelligente Schweizerin mit offenkundigem Enthusiasmus tut.
Cerovics masslose Enttäuschung durch den einst angebeteten Westen mag manche Merkwürdigkeit in diesem aufschlussreichen Buch erklären. Angesichts der von Propagandafeuerwerk begleiteten, militärisch jedoch dilettantischen, ineffektiven und dazu moralisch feigen Nato-Kriegführung lässt sich der Autor förmlich zu einer Huldigung an die Professionalität und Standhaftigkeit der regulären jugoslawischen Streitkräfte hinreissen. Dies sei ihm jedoch nachgesehen, da der in Montenegro in der Nachbarschaft von AlbanerInnen aufgewachsene und mit grosser Achtung von ihnen sprechende Cerovic uns eine beachtenswerte, vom Üblichen abweichende Erklärung der Genesis des Kosovo-Konflikts vorträgt. Er führt nämlich nicht nur politische Faktoren wie die Aufhebung der Autonomie des Kosovo durch Milosevic ins Feld, sondern auch sozialen und kulturellen Wandel. Die ungeheure demografische Explosion bei den Kosovo-AlbanerInnen, die in den siebziger und achtziger Jahren Kosovo-Serben in Panik versetzte, ging laut Cerovic mit dem Zerfall der traditionellen patriarchalischen Ordnung einher. Die männlichen Jugendlichen, mehr und mehr sich selbst überlassen, liessen sich, dazu von schnellem Drogengeld verlockt, bereitwillig in entstehende Mafia-Strukturen einbinden, die dann dem Terrorismus der UCK den notwendigen Unterbau verschafften. Dass Milosevic zu einem bestimmten Zeitpunkt die bewaffnete Staatsmacht gegen den UCK-Terror vorgehen liess, ist für Cerovic fast noch die entschuldbarste seiner zahlreichen in dem Buch kritisierten Fehlentscheidungen.
«Während ich», schreibt der oppositionelle serbische Journalist im Zusammenhang mit seinen während der Kosovo-Intervention angestellten Beobachtungen, «am Fernsehen die westlichen Führer und Kommentatoren hörte und sah, verspürte ich plötzlich die gleiche Empfindung wie in der Zeit des ‘Erwachens’ des serbischen Nationalismus. Ich hatte ihn schon vergessen.»
Der serbische Nationalismus, möchte ich nach der Rückkehr von meiner Reise behaupten, ist politisch auf dem Rückzug, auch wenn er in verbitterten Individuen – wie den in Nis angetroffenen – noch weiterlebt. Sein Pendant, der westliche Zivilisationschauvinismus, hat seine besten Tage, fürchte ich, erst noch vor sich.