G8 in Genua: Ein Toter, ein Bild, eine neue Realität : Vor und nach Carlo Giuliani

Eine Pietà ist es nicht geworden, das Reuters-Bild, das das Entsetzliche am Tode Carlo Giulianis für die Welt auf den Punkt hätte bringen können. Anders als die verwirrt und hilflos Kamera und Welt um Hilfe anrufende junge Frau, die den sterbenden Benno Ohnesorg zu bergen versuchte, bilden die Hinterbliebenen hier kein kulturell codiertes Bild, keinen Trauer- oder Empörungszusammenhalt. Füsse in den verschiedenen gängigen Sneaker-Marken wenden sich in die verschiedenen Richtungen. Im dramatischen Zentrum der Mittelachse steht ein Einzelner und streckt seine Hand aus, als wollte er den Toten segnen oder grüssen. Er scheint einen imaginären Kopf zu streicheln. Einen Kopf, von dem er aber einige Meter entfernt ist. Am linken Bildrand Reste eines Einkaufswagens, als wäre es ein Bühnenbild Frank Castorfs zu einem Stück, in dem es um Konsumkritik gegangen ist.

Der Tote ist noch vermummt. Es kniet nicht nur niemand bei ihm, er hat auch kein Gesicht. Einzig seine vermeintlich so bedrohliche Waffe, der Feuerlöscher, liegt ein paar Zentimeter neben der Hand, die ihn gehalten hat, so wie die Waffen der Gefallenen auf unzähligen Bildern. Als zwei parallele schwarze und unregelmässig breite Linien kann man die blutigen Spuren des Wagens erkennen, der ihn nach den Schüssen noch überrollt hat. Je länger man seinen Körper betrachtet und sich die Details seines Zustands zu erklären versucht, desto weiter gerät man in forensische Diskurse und Ursache-Wirkungs-Beziehungen, die man sich nicht mehr ausmalen will.

Ursachen gab es neben den direkten auch andere. Schliesslich war schon vor einem Monat beim EU-Gipfel in Göteborg scharf geschossen worden. Anlässlich des 99er-Welthandelskongresses in Seattle und bei verschiedenen US-Wahlkampfkonvents des letzten Jahres war die Gewaltbereitschaft der Polizeikräfte auf ungekannte Weise eskaliert. Aber dies erhöhte nicht nur die Wut auf Seiten der verschiedenen G8-GegnerInnen mit ihren verschiedenen Zielen und Strategien, sondern auch eine beklommene, oft gehörte Sicherheit, dass es wohl bald Tote geben werde. Das klang zwar oft selbstaufputschend, aber auch nie ganz unplausibel. Niemand wusste zwar genau, was das heissen würde, aber auch nicht, was man tun müsste, um die Eskalationsspirale anzuhalten oder die Logik ausser Kraft zu setzen, nach der sie funktioniert. Ein Point of no Return war erreicht, ohne dass jemand wirklich ahnen konnte, wie unwirklich die Welt jenseits dieses Punktes aussehen würde: wie nämlich auf diesem Pressefoto.

Auch moderate MedienbeobachterInnen wissen heutzutage, dass ohne den visuell dramatischen Gewalt-Clash ein Protest nicht mehr wahrgenommen wird. Gleichzeitig gibt es nun auch kaum noch linke Kommentare, die nicht davor warnen, sich auf diese visuelle Logik des Spektakels einzulassen. Ein weiteres Argument gegen in Kauf genommene oder herbeigeführte gewaltsame Konfrontation wäre demzufolge neben der ethisch begründeten Ablehnung des Mittels an sich nun auch das medienstrategische, dass man damit nur den grossen und kleinen Erzählungen der globalen Abendnachrichten Material liefert – spektakuläres Material. Statt auf der Abstraktheit der Weltausbeutungs- und Weltausschliessungsverhältnisse zu bestehen, auf ihrer Analyse und Kritik.

Ein spektakuläres Bild muss indes nicht unbedingt ein Bild des Spektakels sein. Ein Bild kann gerade die Kritik der Abstraktheit leisten, die in jeder Aktion gegen einen G8-Gipfel natürlich auch angelegt ist. Es kann etwas zeigen, bevor man es sagen kann. Natürlich basieren die Aktionen in Genua sowohl auf politisch gedachten Issues als auch auf sehr allgemeinen Antikapitalismen. Aber dass sie sich zu einer eher emotionalen Kritik der Abstraktheit globaler kapitalistischer Unausweichlichkeit summieren, ist nicht nur ein Effekt von Bildern und ihrer Logik des Spektakels, sondern ein Teil auch des historischen Sinns dieser Gegenveranstaltungen. Ein solcher noch nicht entfalteter Sinn, ein historischer Moment des Umschlags zeigt sich oft an einzelnen Bildern, die eben gerade nicht einer Logik des Spektakels folgen.

Man darf diese antiabstrakten Motive vieler GegnerInnen nicht vergessen: weder verteufeln, noch zu entwickelter Kritik schönreden. Natürlich hält man sich dann an den – von einer rein politischen Analyse her gesehen womöglich willkürlich gewählten – gerade noch konkreten Zipfel der abstrakten Vorgänge: eine militärisch befestigte Tagung mächtiger Übelmänner. Das Ergebnis zeigt aber, dass es sich um mehr als einen konkreten Zipfel von Verhältnissen handelt, die sich der Greifbarkeit ansonsten entziehen. Die viel gescholtene Naivität und politische Ziellosigkeit, die ganze protopolitische Emotionalität stellt tatsächlich immer noch ein Mittel dar, eine breite konkrete Front des Politischen freizulegen, Repression und Absperrung. Und mit den Vorteilen der Naivität meine ich nicht das Pflegen militärischer Phantasmen von der Konfrontation mit der Macht oder sinnlose und gefährliche Kämpfe mit faschistoid aufgeputschten Polizisten, sondern schon frühere Stadien der – politischen – Konfrontation, die die Dialektik einer Weltordnung, die sich als besonders abstrakt und ausweglos ausgibt, zwingt, sich zu zeigen. Durch zum Beispiel das blosse Beharren auf naiven Fragen von Verteilung, Zugang und Gerechtigkeit.

Möglicherweise ist es auch das alte und nun wieder neue Gefühl, nicht glauben zu können, dass das alles wirklich ist, das einen nicht früh genug weglaufen lässt. Die Typen in Helm und Turnschuh scheinen sich in Zeitlupe zu bewegen, dem Irrealis aller laufenden Bilder. Man spürt weder Panik noch Entsetzen. Sie glauben es einfach nicht. Man fragt sich, ob das wirklich so war oder nur so aussieht, weil solche Bilder von Extremsituationen heutzutage von kleinen motorisierten Kameras fast so schnell wie Filmbilder geschossen werden und daher extrem unorganisiert sind, von der Serie leben und chaotische Ausschnitte produzieren. Während früher selbst Fotos von Ausnahmesituationen immer noch ein bisschen komponiert wurden – wie zum Beispiel damals, als Benno Ohnesorg geborgen wurde.

Diese Szene damals, dieses überaus anrührende Kümmern um das sterbende Opfer eines durchgeknallten Cops, fällt in ihrer erzählerischen Kraft (und darin Vertrautheit) immer zusammen mit Neil Youngs Song über die Erschiessung von vier Demonstranten in Kent, Ohio 1970, in dem er fragt: «What if you knew her and found her dead on the ground?» Dieses Beklagen einer toten Märtyrerin durch einen Mann, das Halten des toten Benno Ohnesorg durch eine Frau, dazu der verallgemeinernde Blick in die Kamera, das verallgemeinernde «What if you ... », das waren noch familiäre und vertraute emotionale Anrufungen, sich dem Kampf anzuschliessen. Dieses Politische war «wirklich» und «normal» – wie die heterosexuellen Paare, die als Grundierung dieser Anrufungen funktionierten.

Hier dagegen die Unwirklichkeit: die unübersichtliche Menge Bilder von vor den Augen wegfliessender Gewalt. Das Superkonkrete, der tödliche Angriff auf einen menschlichen Körper, das dann auch wieder verschwimmt in der Nichtarchitektur des roh registrierenden Pressebildes. Vielleicht ist das Anhalten eines solchen kontingenten Bildproduktionsprozesses, das Insistieren auf dem Zufallsergebnis richtig. Das Abstrakte wird ja vielleicht konkret, wenn man nur hinsieht.

Carlo Giuliani

Auf diesem Bild sieht man einen Toten. Der Schlusssatz wäre hier: Es reicht! Allein, es fängt vermutlich gerade erst an. In dem Masse, in dem auch das, worum es geht, gerade erst angefangen hat. Nicht wenige Beteiligte berichten von der Science-Fictionhaftigkeit der Tage von Genua, von ungekannter Durchgeknalltheit und schräger Brutalität. In der folgenden Nacht hatte die Polizei Blut an den Wänden des Informationszentrums der DemonstrantInnen hinterlassen. Blut an der Wand: wie auf Hollywood-Bildern von lateinamerikanischen Terrorregimes aus den 80ern Jahren. Wie der Horror, der sonst nur in als irreal markierten spektakulären Szenarios zu sehen war. In diesen Horror ist man also plötzlich hineingeraten, wie in eine noch unsymbolisierte, neue Realität.