Diedrich Diederichsen: «Das Ästhetische zu meiden, ist wie Selbstmord aus Angst vor dem Tod»
Zwischen Vergangenem und den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts: Der Popkritiker Diedrich Diederichsen über die Bärtigen von damals, die Beschimpfungslust von heute und die Rettung der Radikalität.
WOZ: Herr Diederichsen, Ihre neue Essaysammlung bezieht sich oft auf das vergangene Jahrhundert, um das gerade begonnene zu verstehen. Eine Grösse, die langsam verschwindet, ist der Begriff des Mainstreams. Zwar gibt es ganz oben eine krasse Konzentration an Aufmerksamkeit, wie es sie im 20. Jahrhundert nie gegeben hat, etwa bei Taylor Swift. Aber danach kommt lange nichts, worauf sich viele einigen könnten. Was ist passiert?
Diedrich Diederichsen: Die Diagnose, dass es nur noch Mikroblasen gibt und dass einzig Algorithmen zu mainstreamhaften Taylor-Swift-Effekten führen, halte ich für falsch. Nicht nur in der Kulturwirtschaft, auch in der Politik. Die unterschiedlichen Milieus stehen sich zwar insgesamt polarisierter gegenüber, zumindest wird einem das so vermittelt. Aber sie sind von ihrer sozialen Basis und von ihrem kulturellen Material her relativ stabil. Die Leute, die an Pegida-Märschen teilgenommen haben, wechselten irgendwann zur AfD, aber es sind dieselben Leute. Zum anderen ist die angewöhnte subkulturelle Haltung, im Mainstream immer den Feind zu sehen, zwar wenig fundiert – im Namen des Konsenses wird allerdings weiterhin Macht ausgeübt und werden Minoritäten an den Rand gedrängt.
Klar, die Blasentheorie wurde bereits vielfach widerlegt. Ich beziehe die Beobachtung weniger auf die politische Meinungsbildung als auf die Kulturwirtschaft: Ausser in der bildenden Kunst gibt es da keine Wette mehr auf Erfolg und Reichtum. Sie schreiben gerne über die Neo-Avantgarde der frühen sechziger Jahre in New York, über Lou Reed, John Cale, La Monte Young, Andy Warhol. Die machten komisches Zeug, aber die Wette galt: Vielleicht werden wir damit berühmt.
Geld spielte bei denen erst einmal kaum eine Rolle, zum Teil bis heute nicht. Bei Lou Reed in manchen Phasen der Karriere vielleicht. Und Warhol, okay, der war tatsächlich ein Werbegrafiker aus der Arbeiterklasse. Aber Tony Conrad und John Cale zahlten fünf Dollar Miete oder so. In der Lower East Side Manhattans, der Ludlow Street. Die brauchten kein Geld. Das ist Tony Conrads Resümee: Weil wir kein Geld brauchten, konnten wir das machen, was wir gemacht haben. Wer das erlebt habe, ziehe diese Freiheit immer dem Geldverdienen vor.
Blenden wir ins 21. Jahrhundert. Mehrere Ihrer Texte handeln vom Theater. Gerade im freien Theater kann man gut sehen, wie niemand mehr glaubt, zu wachsen oder nachhaltig Erfolg zu haben. Die Produktionen werden immer kleiner, die Macher:innen in den erfolgreichen Gruppen sind mindestens fünfzig Jahre alt und erhalten regelmässige Fördermittel. Für die Jüngeren bleibt da wenig übrig …
Ich habe Theater immer als etwas wahrgenommen, das Leute jenseits der dreissig machen. Also die Leute, die ich mitbekommen habe, hatten schon bestimmte Schranken überschritten. Mein Blick auf Theater hat stets gewisse Mainstreamkomponenten gehabt, ich bin eher wenig ins Offtheater gegangen – Offkultur hatte ich ja in der Musik schon. Aber es ist schon richtig, wenn ich mich mal wieder umschaue, um meine etwas monothematischen Interessen zu erweitern, heissen die immer noch Falk Richter oder Sebastian Nübling. Insofern würde ich der Diagnose zustimmen. Wer heute Wetten auf Erfolg abschliessen will, wird den Weg durch die bildende Kunst nehmen. Nur dass den Weg durch die bildende Kunst zu nehmen, heutzutage nicht unbedingt bedeutet, bildende Kunst zu machen. Man kann dann auch Theater machen und sagen, das ist jetzt bildende Kunst. Das geht ja mittlerweile.
Ein deutlicher Wandel, der nicht nur das Theater im 21. Jahrhundert erfasst hat, ist der dokumentarische Turn. Überall Dokumentartheater, echte Menschen, Autofiktion.
Ich habe dazu ein ambivalentes Verhältnis. Ich vertrete schon lange: Das ist unzulässiges Ausstellen von lebenden Menschen, die dafür nicht bezahlt werden. Das ist für mich immer verbunden mit fragwürdiger Sozialkunst, die mit Statisten arbeitet. Die Statisten haben keine Rolle, die sind authentisch und stehen für ihr Bevölkerungssegment und werden folglich nicht bezahlt. Repräsentation ist keine Kunst.
Sie , die Statisten, stehen für «Partizipation» …
Genau, aber auch die Partizipation, das ist mein Punkt, macht da in den meisten Fällen nichts anderes, als die Echtheit echter Menschen auszustellen. Man hat technische und künstlerische Mittel gefunden, die es ermöglichen, dass man dokumentarisch und auch mit sogenannten Laien arbeiten kann, auch virtuos – insofern ist es ein künstlerischer Stand der Dinge, um den man nicht ganz herumkommt. Mittlerweile sind so viele Generationen nachgewachsen, die das Theater ohne Dokumentartheater gar nicht kennen. Ich finde es zwar meist künstlerisch langweilig, wenn ich die echten Tränen oder die echte Vertrotteltheit von Leuten sehe in einer theaterkünstlerischen Arbeit. Aber es gibt immer mal wieder Fälle, wo es auch etwas bringt. Und interessant ist auch, wie diese dokumentarische Wende ein Medium erfasst hat, bei dem es medienlogisch gar nicht funktionieren kann, nämlich die Literatur. Die Autofiktion will Effekte von echten Körpern in einem Medium evozieren, das so besonders symbolisch und vermittelt ist, nämlich der Schrift.
Fernsehserien wurden anfangs als Romane für das 21. Jahrhundert bejubelt, als Honoré de Balzacs der neuen Zeit, als neuer Naturalismus. Doch die Form hat sich als ambivalent herausgestellt: Zum einen sind dichte Verweise möglich, alles sehr postmodern, zum andern will jede Folge geschlossen sein, sehr konventionell erzählt. Und alles muss immer schlimmere Wendungen nehmen, damit wir die Streamingplattform möglichst lange nicht verlassen.
Balzac wurde oft in den Texten zu den neuen Serien genannt, noch häufiger aber Charles Dickens. Und die interessanten Serien machen tatsächlich etwas Ähnliches wie Dickens: eine Stadt oder einen Zusammenhang, der viel grösser ist als die Figuren, zum Ausgangspunkt zu erklären. Ob das nun konservativ oder neuartig erzählt ist, nun ja, ich habe da eine einfache Formel. Früher wurde ein Roman von durchschnittlich 250 Seiten in durchschnittlich 90 Filmminuten erzählt. Das ist die Verdichtung, die die klassische Erzählkinosprache hervorgebracht hat. Jetzt erzählen die Fernsehserien neuen Typs in der gleichen Bildsprache und Verdichtungsgeschwindigkeit, allerdings brauchen sie nun 90 Stunden statt 90 Minuten. Entsprechend sind die Materialdichte und die Aufeinanderbezogenheit dieses ganzen Materials sensationell hochgefahren – jedenfalls solange es noch konventionell linear erzählt wird, was ja meistens der Fall ist. Das ist dann entweder komplett langweilig oder überwältigend dicht und welthaltig. So detailliert wurde noch nie erzählt, schon gar nicht vor so vielen Rezipientinnen. Und das ist der entscheidende Einschnitt.
Eine die Künste stark betreffende Umwälzung ist die Gentrifizierung. Sie haben die Bedeutung der tiefen Mieten für die Avantgarde der sechziger Jahre beschrieben. In New York ist das heute undenkbar, selbst im lange notorisch billigen Berlin ist Wohnen mittlerweile ein Riesenproblem.
Zunächst dachte ich, das heisst für die Künste, dass sie in den Städten gar nicht mehr funktionieren, dass das Milieu der Bohème einfach aus der Stadt verschwindet.
Das hat sich nicht bewahrheitet, oder?
Zumindest nicht ganz. Zum einen gewöhnt man sich – leider – an die Kulturvernichtung durch Gentrifizierung, die andere eh noch härter trifft als die Bohème. Zum anderen gibt es in der Tat noch Bohemiens; das sind allerdings hauptsächlich Rich Kids und Expats. Und entsprechend anders funktioniert sie auch. Das alte Ideal der Unproduktivität oder Antiproduktivität, das reine Abhängen, das gibt es nicht mehr. Und ansonsten kann man bei heutigen kulturellen Praktiken sagen: Da muss man an keinem bestimmten Ort leben, digital ist überall.
Dachte man, ja. Und trotzdem hat der Sog von Berlin zum Beispiel nicht abgenommen.
Man kriegt aber keine Wohnungen mehr, nicht mal mit Geld. Und wenn man auf die, in Anführungsstrichen, «Gegenkultur» der USA schaut, dann sind die interessanten Platten schon im Jahr 2005 in irgendwelchen Käffern produziert worden und nicht in New York. In New York kann man derweil beobachten, dass die Bohème nicht nur aus Rich Kids besteht, sondern aus Kindern der ehemaligen Bohème. In der Kunstwelt gibt es viele Kinder von Galeristen oder Kinder von Künstlerinnen. Das ist eine neue Art von Feudalismus.
Soziale Bewegungen, etwa jene der Antiglobalisierung, kennzeichnen die Jahrhundertwende. Sie haben das im Frühjahr 2001 an einem Bild festgemacht – einem Foto des bei den Protesten gegen die G8 in Genua getöteten Aktivisten Carlo Giuliani. Die Vermutung war, das sei ein Anfang von etwas, rückblickend würde ich sagen, war es aber gleich wieder das Ende.
Es war das Ende. Ich konnte ja nicht wissen, dass kurz darauf die Anschläge vom 11. September 2001 passieren würden. Ich meinte aber auch nicht unbedingt den Anfang von etwas Gutem.
Die frühen nuller Jahre waren ebenfalls die Zeit, in der dann auch noch die Letzten online gingen.
Zwei Jahre vor Genua gab es Seattle, da liefen die Verabredungen am Handy. Dann, nach 9/11, sind die Frontlinien durcheinandergeraten; um sich überhaupt zu sortieren, wo man steht. 9/11 stand quer zu den Frontlinien der sogenannten Globalisierungsgegnerschaft. Da finde ich es nicht verwunderlich, dass es dann bis 2008 oder 2009 dauerte, bis diese Frontlinien wieder halbwegs rekonstruiert waren, angesichts eines klassisch kapitalistischen Ereignisses wie der Finanzkrise und des sukzessiven Entstehens von Occupy Wall Street. Das ist, denke ich, in diesem ersten Jahrzehnt die Dynamik gewesen. Und dann wäre ja der nächste Schritt, das nächste auffällige Ereignis, der Arabische Frühling.
Die grösste Demonstration auf dem Tahrirplatz in Kairo war an dem Tag, an dem die Regierung das Internet abstellte.
Das höre ich jetzt zum ersten Mal. Aber okay, das ist ja jetzt auch nicht so entscheidend wichtig. Ich würde ja sagen, dass solche Bewegungen zwei bis drei Jahre Zeit haben, in der die Resonanz sich ausbreitet, und wenn dann nicht eine Mainstreamentwicklung daraus entsteht, dann ist es vorbei. Das ist immer dann besonders einschneidend, wenn dieses «Wir haben nun ein grösseres Problem»-Motiv auftaucht, wie der 11. September oder Donald Trump, wenn ein alle Energien bindendes – auch alle Deutungsenergien bindendes – Konkurrenzereignis die Mobilisierung zermatscht.
In den Künsten dagegen hat der Aktivismus vieles überlebt. Vor zwanzig Jahren haben Sie einen Kongress in Köln und Berlin veranstaltet, «Die Kraft der Negation». Es ging darum, wie schwierig es in den Künsten geworden war, Nein zu sagen, in Opposition zu gehen. Heute geht fast jede Kunst in Opposition zu irgendwas …
Die Problemlage beim «Kraft der Negation»-Kongress war: Die Künste sind pragmatisch geworden und wollen nun eher als Hilfstruppen soziale Probleme reparieren. Und die primär Politisierten hatten nur noch eine Radikalopposition ohne Anschluss an irgendeine Realpolitik im Kopf, so wie sie früher eben nur in den Künsten möglich war; als nur Künstler:innen verantwortungslos sein konnten in ihrer ganzen Radikalität. In den letzten zehn Jahren ist es nun innerhalb der Künste zu enormen politischen Veränderungen gekommen. Heute soll zum Beispiel jedes zweite Museum der USA von einer Person of Color geleitet werden, und dabei gibt es auch Erfolge. Das sind grosse Entwicklungen im Bereich der bildenden Kunst. Aber sie werden nicht in der Kunst selbst ausgetragen, sie werden institutionell ausgetragen.
Ich finde schon, dass auch die Kunst …
Nein, okay, diese institutionelle Aushandlung führt auch dazu, dass andere Kunst zu sehen ist. Zum Beispiel, dass eben eine Kunst zu sehen ist, die sich nicht die Frage stellt: Kann man heute noch malen? Diese Frage, die nie totzukriegen war in den fünfzig Jahren bis 2015, wird heute so beantwortet: Nobody gives a flying fuck. Die Leute malen einfach. Und die Frage ist jetzt nicht, ob man noch malen kann, sondern ob das Malen zum Beispiel etwas mit meinen Vorfahren zu tun hat.
Was wir ebenso sehen, nicht erst seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober: extreme Konfrontationen im Kulturbetrieb. Sie schrieben einmal: «Zwei Dinge gehen nicht: der Anspruch auf das letzte Wort und die Aggression ad personam am digitalen Pranger.» Das erinnert an Verhältnisse nach 1968. Was können wir von 1968 lernen? Irgendwie sind die damit ja fertiggeworden …
Was man von 68 auf jeden Fall lernen muss, ist, den Fehler der K-Gruppen-Bildung zu vermeiden: also den Realitätsverlust von Splittergruppen mit allen psychischen Folgen für die Beteiligten.
Zu spät. Die K-Gruppen-Bildung ist munter im Gang. Sie produziert bei der Linken extrem eingekapselte, rigorose Weltbilder. Leute werden auf Veranstaltungen niedergeschrien oder bespuckt …
Ja, das gibt es leider auch, aber es ist eher eine emotionale Eskalation als eine ideologische wie in den siebziger Jahren: Die wurde kälter ausgetragen.
Und wie verhindern wir das? Es ist schon eine Weile her, als ich mit dem kleinsten Kind die alte Fernsehserie «Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt» schaute, eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks von 1972. Im Abspann sieht man die riesige Redaktion: die Älteren in Anzug und Krawatte, die Techniker in Schürzen, und dann die jungen Bärtigen. Warum sind die sich nicht ständig an die Gurgel gesprungen?
Die Bärtigen waren wohl nicht die Gurgelspringertypen. Die Bärtigen im Sender wären eher diejenigen, die man vielleicht schon wieder an ihre ursprünglichen Motive hätte erinnern müssen. In meinem Buch gibt es eine Anekdote vom Filmemacher Harun Farocki, der genau von diesen Bärtigen erzählt und wie sie ihm die Produktion eines Sesamstrassen-Sketchs zur Hölle machen, weil sie vor lauter Didaktik-Ambition keine Witze verstehen.
Nun ist es ja so, dass der Rechtspopulismus oder Faschismus uns wohl mehr Sorgen macht als K-Gruppen-Gespenster in der Linken. Für die Kunst heisst das auch ästhetisch nichts Gutes, sie wird oft langweilig, wenn sie sich inhaltlich auf Antifaschismus beschränkt …
Das ist ein altes Ding. Bertolt Brecht, der schreibt, wie kann ich über Bäume reden, wo doch draussen der Faschismus ist? Und es gibt ja immer irgendetwas, das so ernst ist, dass man sagen muss, wie kannst du dich denn hier mit solchen Luxusproblemen beschäftigen? Und der Faschismus steht tatsächlich vor der Tür. Deswegen das Ästhetische zu meiden, ist wie Selbstmord aus Angst vor dem Tod.
Inzwischen herrscht ein Zwang zur Positionierung. Sie schreiben dazu sinngemäss, die Meinungsbildung verschiebe sich von den realen Protesten zum digitalen Stammtisch, der nur noch Zustimmung, Ablehnung und jeweils deren Zahl kennt. Das war besonders in der Pandemie das Problem, als sich der Kontakt auf so wenige reduziert hat. Davon geblieben ist, dass jedes Argument auf eine Instagram-Kachel passen muss. Aber so können wir den Nahostkonflikt bei uns nicht bearbeiten, das führt direkt in die Hölle …
Auf der einen Seite steht die Logik, dass alle ihre Beschimpfungsvokabeln einmal die Woche noch mal steigern müssen. Also eine Woche ist die Gegnerin Antisemitin, nächste Woche ist er ein Israelhasser, dann ist sie eine Judenhasserin und so weiter. Es reicht da nicht mehr, nur «Antisemit» zu sagen. Diese Steigerungslust, die gibt es natürlich auch auf der Gegenseite. Und da spielen die beteiligten Plattformen und ihre Kybernetik wohl eine Rolle. Aber mich erstaunt noch etwas anderes. Nämlich: Welche politischen Funktionen haben diese Einigkeiten in den meisten Medien, vor allem in den Feuilletons? Die Feuilletons der deutschsprachigen Qualitätszeitungen lassen nur noch gelten, was die Regierung Israels unterstützt. In der «Welt» oder der NZZ zu hundert Prozent und in anderen wie FAZ, «Süddeutscher», «taz» vielleicht zu 95 oder 90 Prozent. In den Politikteilen einiger dieser Zeitungen sieht das aber anders aus.
Ein Riesenthema in den letzten Jahren waren die «Sprecherpositionen», also die Frage, wer nun zu welchen Themen reden darf und wer besser mal Pause macht. Vorübergehend kann das dem Diskurs guttun, weil nur dadurch andere Stimmen lauter werden können. Auf Dauer nervt es allerdings, wenn gesamtgesellschaftliche Fragen nicht von allen diskutiert werden sollen und zum Beispiel nur der Schwarze Vater, nicht aber die weisse Mutter eingeladen wird. Oder wenn die trans Aktivistin aus Tijuana dem schwulen französischen Intellektuellen sagt: Halts Maul, du hast keine Ahnung von Gewalt. Es ist bislang nur ein Gefühl, aber ich denke: Die rigorose Phase liegt da hinter uns …
An Hochschulen erlebt man das schon noch. Klar, gewisse minoritäre Gruppen haben sich eine Zeit lang absentiert und ihre eigenen Gesprächsrunden in Safe Spaces entwickelt. Wenn die dann wieder in der etwas grösseren Öffentlichkeit der Hochschule auftreten, haben die ein ganz anderes Selbstbewusstsein, solche Gesten wie die erwähnten und die in etwa sagen: Was weisst denn du? Aber diese Geste ist nichts Neues. Also die ist nicht beschränkt auf das, was heute Identitätspolitik genannt wird, sondern das kenne ich nun wirklich von früher. Du bist doch gar kein echter Punk, was weisst denn du? Und wenn jemand zu mir sagen würde, ich bin aus Tijuana, ich weiss mehr über Gewalt als du, würde ich immer sagen, ja, das glaube ich dir gerne, ich kenne das nämlich nur aus den Romanen von Roberto Bolaño.
Es gibt eine Vorstellung, die gerade in Ihren älteren Texten im Buch oft zu lesen ist und in den Debatten über die Verbürgerlichung der ehemals Linken wiederkehrende Auftritte hat: die Familie, meistens als Feind. Wie sehen Sie das heute?
Als es klar wurde, dass ich ein Familienvater werden würde, habe ich gesagt, das Einzige, womit ich Probleme haben werde, sind die anderen Eltern. Also dass mein Umfeld dann andere Eltern sein werden. Und das hat sich nicht bewahrheitet. Diese anderen Eltern, mit denen ich so zu tun habe, die sind so dermassen unterschiedlich. Die haben eine solche Diversität. Ich weiss nicht, ob das jetzt ein Effekt von Berlin-Schöneberg ist. Diversität verstanden auch als Klasse, Kultur, Körperlichkeit, Alter. Also ich dachte immer, ich bin jetzt viel zu alt und die Leute würden dann zum Kind sagen: Hast du deinen Opa mitgebracht? Aber nein, es gibt auch andere Ältere.
«Das 21. Jahrhundert» : Mehr als Poptheoretiker
Geboren 1957 in Hamburg, wurde Diedrich Diederichsen ab Ende der siebziger Jahre zum berühmtesten Popjournalisten im deutschsprachigen Raum, weil er als einer der Ersten begriff, dass Musik immer mehr als Musik ist, mehr als Männer an Gitarren sowieso und auch mehr als kunstferner Spass, für den Pop in manchen Redaktionen bis heute gehalten wird. Erst schrieb er für «Sounds», bis der Schweizer Jürg Marquard das Magazin 1983 kaufte und daraus ein normales Popblatt machen wollte. Viele Autor:innen wechselten da zur «Spex», die Diederichsen ab 1985 auch fünf Jahre leitete. Den Ruf des Poptheoretikers ist er seither nie mehr losgeworden, auch wenn sein kulturwissenschaftlicher Ansatz dazu führte, dass sein Interesse weit über das hinausgeht, was landläufig als Pop gilt. Seit rund 35 Jahren führt Diederichsen das Leben eines politischen Intellektuellen zwischen Hochschulanstellungen erst in Stuttgart, dann in Wien, Wohnsitzen erst in Köln, dann in Berlin.
Unter dem typisch schelmisch-grossspurigen Titel «Das 21. Jahrhundert» lässt sich sein Denken seit 2000 auf gut 1100 Seiten nachverfolgen. «Essays» steht im Untertitel, aber die Formen sind breiter gefächert: Kommentare, Kritiken, Vorträge und auch klassische Essays. Stil und Ansprache sind fast so divers wie die Themengebiete von Theater, bildender Kunst, Kino – und ja, auch Popmusik kommt oft vor.
Diedrich Diederichsen: «Das 21. Jahrhundert. Essays.» Verlag Kiepenheuer & Witsch. Köln 2024. 1108 Seiten. 70 Franken.