Gasastreifen: Mord am Dialog

Dumpf und direkt schiesst sich Ariel Scharon an sein Ziel: kein Palästinenserstaat, viele Gefängniszellen.

Scheich Ahmed Ismail Jassin war der spirituelle Führer und auch ein Gründungsmitglied von Hamas, der «Bewegung des islamischen Widerstandes» (siehe WOZ 39/03). Diese Organisation hat drei verschiedene Tätigkeitsbereiche: Militärisch hat sie hunderte von unschuldigen israelischen ZivilistInnen umgebracht. Im sozialen Bereich steht sie der Bevölkerung mit materieller Hilfe bei, gerade auch dort, wo die Palästinensischen Autonomiebehörden versagen. Politisch ist sie das Gegenstück und damit der dialektische Verbündete der israelischen FundamentalistInnen, jener Kräfte, die jeglichen Kompromiss mit den PalästinenserInnen kategorisch ablehnen.

Die Ermordung von Scheich Jassin ist ein weiteres Glied in der langen Kette von Aktion und Reaktion, die sich im Rahmen der nun dreieinhalb Jahre andauernden zweiten Intifada aneinander gereiht hat. Der palästinensische Terrorismus entsteht in der Brutstätte der israelischen Besetzung von Palästina. Über drei Millionen Menschen leben unter dem Terror einer brutalen Besetzung, die sie täglich von den elementarsten Bürger- und Menschenrechten ausschliesst. Dieses riesige Gefängnis wird derzeit in verschiedene Abteilungen gegliedert: Der so genannte «Schutzwall» schafft viele neue Einzelzellen und vergrössert das Leiden und die Verzweiflung der Insassen umso mehr.
Der palästinensische Terrorismus findet sein Gegenstück praktisch täglich im israelischen Staatsterrorismus. Jedes Mal, wenn die israelischen Soldaten die Politik der so genannten «gezielten Tötungen» umsetzten, töteten oder verwundeten sie auch viele unschuldige ZivilistInnen. Die jeweils nachfolgenden Racheakte zeigten, dass die Wirksamkeit der gezielten Tötungen im Kampf gegen den Terrorismus höchst zweifelhaft ist. Im Grossen und Ganzen dienten sie lediglich dazu, die israelische Bevölkerung nach Hamas-Attentaten zu beruhigen.

So weit der israelische Staatsterror von einer Lösung des Terrorismusproblems entfernt ist, so viel neuen Hass hat er geschaffen. Viele junge Palästinen­serInnen beginnen zu glauben, dass der einzige würdevolle Augenblick in ihrem Leben der Moment ihres eigenen Märty­rertods ist.

Welches sind die wirklichen Gründe hinter der Ermordung von Scheich Jassin? Es mag ja sein, dass einige der israelischen Sicherheitsfachleute immer noch der Ansicht sind, die einzige Lösung des Terrorismusproblems sei die gewalttätige Repression – und wenn dies nicht reicht, dann wenden sie noch mehr Gewalt an und verlangen nach mehr und noch mehr Unterdrückung.

Doch es muss tiefer liegende Gründe geben. Premierminister Ariel Scharon stösst bei der Durchsetzung seines Plans eines einseitigen Rückzugs aus den Siedlungen des Gasastreifens auf ernsthafte Hindernisse. Obwohl die Mehrheit der israelischen Bevölkerung den Schritt befürwortet, lehnt doch ein Teil von Scharons extremistischer Rechtskoalition diese Politik strikt ab. Eine so schlagende Aktion wie der Mord an Scheich Jassin wird es für Scharon leichter machen, die Zustimmung seiner Gefolgsleute und Koalitionspartner zu seiner Politik zu erhalten.

Es gibt noch weitere Aspekte in der Logik des Gasa-Rückzugs. Die Einseitigkeit dieser Schritte verfolgt einen ganz bestimmten Zweck: nicht mit der paläs­tinensischen Führung sprechen zu müssen. Das Köpfen der palästinensischen Führerschaft, die fortwährenden Zerstörungen, das von der israelischen Armee im Gasastreifen während der vergangenen Wochen angerichtete Chaos und nun der Mord an Jassin verfolgen ganz klare Ziele: Der Hass wird grenzenlos werden und die militärische Kontrolle des Lebens im eben verlassenen Gebiet wird in der Hand der israelischen Armee bleiben. Wie wird der «einseitige Rück­zug» genau aussehen? Wer wird sich denn um die Wasserversorgung kümmern? Um das Telefonnetz? Um die Stromzufuhr? All dies hängt von Israel ab. Wer wird darüber entscheiden, wer in den Gasastreifen einreisen, dort leben, und wieder ausreisen darf – und wie?

In Scharons Strategie ist der Rückzug ein Mittel, um die Gründung eines paläs­tinensischen Staates auf Dauer unmöglich zu machen. Denn die «Gefahr», die von Vorschlägen wie der Genfer Initiative ausgeht, ist sehr real. Noch bevor das Genfer Papier der Bevölkerung erklärt worden war, befürworteten vierzig Prozent der Israelis die Idee.
Friede bedeutet zumindest einen territorialen Kompromiss – einen Kompromiss, der von der israelischen Rechten und ihren fundamentalistischen Verbündeten klar zurückgewiesen wird. Sobald Israel Gasa verlassen hat, kann der ganze politische Prozess in Richtung eines solchen Kompromisses angehalten werden.

Die israelische Regierung hat einmal mehr gezeigt, dass ihr Hauptziel darin besteht, jede Friedensinitiative schon im Keim zu ersticken. Ein «einseitiger Rückzug» heisst: jeden echten Dialog mit dem einzig wirklichen Partner, den PalästinenserInnen, zu blockieren. Gewalt kann keine Lösung des Terrorproblems sein. Die Wurzeln dieses Problems müssen berücksichtigt werden, und eine Lösung wird sich nur im Bereich der Politik finden lassen.

Der Mord an Scheich Jassin ist das klare Rezept für noch mehr Hass und Konfrontation – denn dies wird Israel die Annektierung der im Jahr 1967
besetzten Gebiete vereinfachen. Eine Zunahme der Unruhen wird weiter die Ausweisung von vielen Palästinenser-Innen aus ihren Häusern erleichtern.

Wenn Israel nicht auf starken internationalen Widerstand gegen diese Politik trifft, ist die Gefahr einer weiteren Eskalation – mit beispielsweise Jassir Arafat als möglichem nächstem Ziel – sehr konkret.