In mir die Wände (17) : Die Stimme
Wenn du lange genug in der Enge lebst, beginnt die Architektur des Draussen den Ton deines Inneren zu bestimmen. Die Wände stehen dann nicht mehr nur um dich herum. Sie werden zu deinem Resonanzraum. Sie formen den Hall, in dem du sprichst. Sie werden zum Farbton deiner eigenen Stimme. Die rot-weisse Schranke im Wald, die Verachtung in Herr Gehringers Blicken, der Spott der Nazis im Park, das Staccato der Anhörung bei der Fremdenpolizei, das Kopfrechnen, die Albträume und die unstillbare Sehnsucht: All das war zu einem Teil meiner kindlichen Identität geworden.
Das Gebäude aus Ausschluss und Hierarchie steht nicht zufällig da. Seine Architektur ist darauf ausgelegt, gewisse Stimmen zu verstärken – und andere zu schlucken. Und doch ist dieser Bau porös. Es gibt Risse in der Dämmung. Verborgene Frequenzen. Musik, Bücher, Sprache – Räume, in denen der Schall nicht mehr von den Wänden verschluckt wird, sondern wo die Wände wie ein Leitmittel wirken.
Wenn du beginnst, sie zu besingen, sie als Instrument zu nutzen, hörst du, dass auch deine Stimme nicht im Leeren verhallt. Viel eher beginnt sie zwischen den Wänden zu vibrieren, schiebt sich in die Ritzen, vermischt sich mit den Stimmen jener, die sich im selben Raum bewegten. Du musst nur nahe genug mit dem Kopf rangehen, und du hörst, wie aus den Wänden die Geschichten der anderen flüstern: Das geschieht nicht aus dem Nichts. Du bist nicht allein. All das kann verändert werden. Ich war kein Kind mehr, das nur lauschte. Ich wurde zum Teenager mit einem eigenen Kopf, einem eigenen Blick – und einer eigenen Stimme, die sich zu formen begonnen hatte. Und bald sollte ich auch begreifen: Es ist tatsächlich möglich, mit deiner Stimme das Aussen mitzuformen.
Was einmal zu sprechen begonnen hat, lässt sich nicht stummschalten.
Das ist der vorläufig letzte Teil der Serie «In mir die Wände» von Uğur Gültekin. In siebzehn Episoden blickte der WOZ-Redaktor zurück auf seine Kindheit und Jugend, die Flucht aus Kurdistan und das Grosswerden in der Schweiz.