In mir die Wände (8) : Husten

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Es riecht nach aggressivem Putzmittel. Hohe Decken, Holz und Stahl – wir sind klein in diesem Raum. Ich sitze auf dem Plastikstuhl, meine Beine baumeln in der Luft, erreichen den Boden kaum. Mama hat gesagt: Nicht bewegen. Still sein. Ein Formular vor Papa. Seine Hand stockt, zieht sich beim Schreiben immer wieder zurück, damit sie nicht verdeckt, was geschrieben steht. Über uns an der Wand hängt eine Informationstafel: Aufenthaltskategorien: B, C, F, N. Ich schaue sie an. Ich weiss, welcher Buchstabe ich bin.

Der Mann hinter dem Tisch spricht langsam, laut und deutlich. Er öffnet den Mund weit beim Sprechen, sein Hochdeutsch ist gefärbt von seinem Ostschweizer Dialekt, er verschluckt das «R», die Vokale sind hell. Er sagt «gchüetsi mitnaand» und «schö sindzi hoite hio». Papa übersetzt für Mama, aber seine Stimme stolpert. Er spricht seit seinem Studium Deutsch, aber die Sprache, die ihn hier ins Visier nimmt, hat er nicht gelernt. Es ist eine, die Menschen in Register, Akten, Fälle verwandelt. «Vielleicht vorläufige Aufnahme», sagt der Mann. «Belki geçici kabul», flüstert Papa zu Mama. Heimat. Geburtsort. Herkunftsland. Diese Wörter erfassen und vermessen uns. Einreisedatum. Gesuchseinreichung. Asylverfahren. Aufnahmekanton.

Anhörung. Einschätzung. Anspruchsüberprüfung. «Ret edilebilir», höre ich Papa flüstern. Eine mögliche Abweisung. «Klar, Rekursmöglichkeit. Einspruchsverfahren. Nach negativem Asylentscheid käme es dann zur Ausweisung» – «terk».» Die Stimme meines Vaters wird leiser, bald ist sie ganz verstummt. Verdrängt von dieser Sprache, die Macht hat. Ausländeranteil. Flüchtlingskontingent. Begrenzung. Jetzt zielen die Wörter, treffen, wollen uns weghaben.

Die hohe Decke drückt auf meine Schultern, die Stahlregale sind voll mit Aktenordnern. Sind wir auch dort drin? Meine Geburtsurkunde. Mamas Pass. Papas Diplom. Wir sind Papier geworden. Der Kugelschreiber dieses Mannes ist ein Hammer. Jede Pause ein Nagel. Zentrales Ausländerregister. Zuwanderungskennzahl. Rückführungsstatistik.

Dann kommt es. Ein Kratzen im Hals. Ein Kitzeln tief in der Lunge. Ich kann es nicht unterdrücken. Ich huste. Der Mann schaut auf. Ich huste wieder. Und wieder. Ich huste, und jetzt tue ich es absichtlich. Ich will, dass der Luftzug meiner Hustenstösse unsere Akte erfasst, die Papiere aufwirbelt, sie bis zur Decke treibt, das ganze Haus ins Wanken bringt. Ich huste die Wörter aus. Der Mann runzelt die Stirn. Seine Lippen werden zu einer dünnen Linie. Und sehen aus … wie eine Grenze. Ich will sie weghusten. Er sagt nichts. Seine Finger umklammern den Kugelschreiber.

Ich wische mir den Mund ab. Mama drückt meine Hand. Sie weiss, ich werde etwas sagen. Ich schaue den Beamten an und frage ihn: «Ist Husten auch verboten?»

In der Serie «In mir die Wände» blickt Uğur Gültekin (geboren 1984) zurück auf seine Kindheit und Jugend: auf die Flucht aus Kurdistan und das Grosswerden in der Schweiz, auf Ausgrenzung und Aneignung – und setzt diese persönlichen Erfahrungen in einen gesellschaftlichen Rahmen, der auch von der Schweiz der neunziger Jahre erzählt. Nächste Woche: Nicht allein.