Kriegsnebenschauplatz Apulien: Wo sind die Flüchtlinge?

Über zwanzig Meter recken sich die Felsen der Steilküste am Kap von Otranto in die Höhe. Unterhalb des verlassenen Leuchtturms von Palascia scheint es fast unmöglich, sich aus dem Wasser zu ziehen und über die zum Teil messerscharfen Felsen nach oben zu klettern. Und doch gibt es genug Spuren, die auf Gestrandete hinweisen. Reebok-Trainingshosen, Levis-Jeans, ein schwarzer Büstenhalter, vereinzelte Kindersocken und eine schwarze Hose der Marke «Italy» liegen verstreut zwischen den Felsen. Wahrscheinlich haben sich hier Kosovo-Flüchtlinge, die aus Albanien nach Italien gebracht wurden, ihrer nassen Kleider entledigt. Im Gras hat sich eine rote Plastikhülle verfangen, in der mit Kirschmarmelade gefüllte Croissants eingeschweisst waren, Reiseproviant, hergestellt von einer albanisch-griechischen Firma in der südalbanischen Stadt Gyrokaster.
Ein Serpentinenweg führt vom Leuchtturm zur Küstenstrasse. Dort fällt der Blick auf eine erst kürzlich aufgebaute Radarstation und eine Raketenstellung zu deren Schutz. «No Photo» verlangt das Schild am Eingangstor, die Wachsoldaten in Tarnuniform rufen unvermittelt den Krieg ins Gedächtnis.
Jetzt am helllichten Tag sind keine Flüchtlinge zu sehen. In der Regel kommen sie nachts an, lassen sich von Polizeistreifen aufgreifen und ins Sammellager nach Otranto bringen. Nach einer Dusche und einer Mahlzeit geht es weiter nach San Foca an der
Küste oder nach Squinzano nördlich der Provinzhauptstadt Lecce, in eins der beiden Aufnahmeheime.
In Lecce wird der Reporter auf der Suche nach Hinweisen auf den nahen Krieg jenseits der Adria gut bedient. Im Vier-Sterne-Hotel «Crystal» seien in den vergangenen Tagen Offiziere der US-Army abgestiegen, heisst es. Oder: Auf dem Truppenübungsplatz ausserhalb der Stadt hätten die Schiessübungen seit Kriegsbeginn zugenommen, da könne man den Besitzer des nahe gelegenen Restaurants «Da Ronzino» fragen. Und die Reiseveranstalter beklagen Stornierungen, die Region Apulien fürchtet um ihre Sommerurlauber.
In der Lokalredaktion der «Gazzetta del Mezzogiorno» hat der Redaktor Toti Bellone nach einem Wink der Zollfahnder erst am Tag zuvor die Verhaftung von zehn albanischen Flüchtlingsschleusern mitverfolgen können, insgesamt 111 seien seit Anfang des Jahres geschnappt worden. «Das sind zum Teil Jugendliche. Einer hatte seinen ersten Auftrag und wurde gleich verhaftet», erzählt Bellone. «Mit 100 000 Lire (etwa 80 Franken) kommt man in Albanien ganz schön weit, da ist es verständlich, wenn sich arbeitslose Jugendliche als Schleuser anwerben lassen.» Das klingelnde Telefon unterbricht uns, ein Anruf aus dem Flüchtlingsheim in Squinzano. Es geht um ein Flüchtlingspaar, er Möbelhändler, sie Ärztin. Beide 31 Jahre alt, zwei Kinder. Am 4. April seien sie aus dem Kosovo nach Albanien geflohen und dann zusammen mit vier Cousins nach Italien gebracht worden. Toti Bellone muss für die Fernsehtalkshow «Porta a Porta» ein geeignetes Flüchtlingsschicksal ausfindig machen. Ob die beiden richtig sind? «In den Heimen gibt es so viele Flüchtlinge, wie man braucht.»
Im kleinen Hafen von Otranto befindet sich die Anlegestelle der Guardia di finanza, die in diesen Tagen fast täglich Journalisten auf Flüchtlingsjagd mit an Bord nimmt. Die See ist ruhig, das Wetter ideal, äusserst günstige Bedingungen also für die Schlepper. Gegen 18 Uhr legt das dreissig Meter lange und neunzig Tonnen schwere Motorboot «Feliciani» ab, Richtung Albanien; dessen Küste ist hier nur 74 Kilometer entfernt. Schnelle Schlauchboote schaffen die Strecke auch voll beladen in zwei Stunden. «An manchen Abenden nehmen die Schlauchboote kein Ende», sagt der Finanzbeamte Antonio Leo. Die Schlepper hätten die Schlauchboote mittlerweile gut ausgerüstet. «Die ragen höchstens einen Meter aus dem Wasser und sind mit dem Radar deshalb schwer zu entdecken. Ich arbeite seit fünf Jahren hier. An unserer Arbeit hat sich nichts geändert. Vielleicht ist jetzt die Nationalität der Flüchtlinge eine andere, und der Zustrom hat durch den Krieg etwas zugenommen.»
Wenn die «Feliciani» ein Schlauchboot ausmacht, meldet der Kommandant die Entdeckung gewöhnlich den Carabinieri an Land, die mit Streifenwagen die Küste auf und ab fahren und die gestrandeten Flüchtlinge abzufangen versuchen. Auf hoher See bestehe keine Möglichkeit, die Schlepper zur Umkehr zu bewegen.
An diesem Abend sind jedoch keine Schlauchboote zu sehen. Langsam geht die Sonne unter, und die Ruhe wird nur von Militärflugzeugen gestört, die in grosser Höhe die Adria überfliegen. «Das sind Transportmaschinen, die Hilfsgüter von Italien nach Albanien bringen», erklärt Antonio Leo nach einem Blick durchs Fernglas. Plötzlich baut sich vor dem Bug eine dichte Nebelbank auf, die unser Schiff zur Umkehr zwingt. «In dieser Brühe gehen auch die Schleuser keine Risiken ein», meint der Kommandant. Gegen halb neun kehrt die «Feliciani» in den Hafen von Otranto zurück. Auf dem Landungssteg liegt ein etwa zehn Meter langes grünes Schlauchboot, eins der 54, die in diesem Jahr beschlagnahmt wurden. Der Boden wurde mit Metallplatten verstärkt, und wir können uns kaum vorstellen, wie mit diesem Boot einmal sechzig Flüchtlinge die Adria überquerten.
Etwa 9000 Kosovo-AlbanerInnen haben es bislang in diesem Jahr bis an die apulische Küste geschafft. Im Flüchtlingsheim von Squinzano sind derzeit 520 Flüchtlinge untergebracht. «Bis vor kurzem waren es noch 700», berichtet der Heimleiter Vinicio Russo. «Bis zu 500 Personen verkraften wir, darüber hinaus gibts Probleme.» Rund 25 Franken erhält das Heim pro Tag vom Staat für jeden Flüchtling. Das reiche hinten und vorne nicht, um die Ausgaben zu decken. «Ansonsten ist die Situation soweit unter Kontrolle», meint Russo.
Der 29-jährige Tahir Ademaj kam vor einer Woche an. Er wartet auf eine Aufenthaltsgenehmigung und will weiter zu seinem Onkel nach Augsburg. Die meisten Flüchtlinge wollten nach Deutschland oder in die Schweiz zu Verwandten, sagt Ademaj. «Deutschland ist besser als Italien. Ich will politisches Asyl beantragen.» Und fragt dann noch: «Wie viel Geld bekommt man dort als politischer Flüchtling?»