Für eine bessere Demokratie
Die neue chilenische Verfassung, Ergebnis erbitterter Kämpfe gegen das Erbe der Diktatur, wurde am 4. September in einem Referendum abgelehnt.
Eine Schülerin war die Erste, die am 11. Oktober 2019 in Santiago ein Drehkreuz der U-Bahn übersprang. Ihr folgten Dutzende, später Hunderte in den U-Bahnhöfen der chilenischen Hauptstadt. Es war der Beginn einer Protestwelle gegen die gerade in Kraft getretene Fahrpreiserhöhung. Die war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Im neoliberalen Vorzeigestaat brach ein Volksaufstand los, der über Monate anhielt. Er richtete sich gegen das von der Pinochet-Diktatur ererbte rigide neoliberale System mit der Privatisierung der meisten öffentlichen Güter – wie Bildung, Renten, Gesundheitsversorgung oder Wasser. Am Ende brachte er zwei wichtige Ergebnisse: Ein verfassunggebendes Verfahren wurde in Gang gesetzt und eine Regierung des Wandels unter dem jungen Gabriel Boric kam ans Ruder.
Der Verfassungstext, über den am 4. September abgestimmt wurde, war der erste in der Geschichte Chiles, den ein demokratisch gewählter Verfassungskonvent ausgearbeitet hatte, und der weltweit erste, an dem die Zivilgesellschaft, soziale Organisationen und Indigene direkt beteiligt wurden und der geschlechterparitätisch besetzt war.
Zu Beginn des Aufstands hatte Präsident Piñera auf Repression gesetzt. Er zeigte sich mit Militärs in Kampfmontur, verhängte den Ausnahmezustand und eine Ausgangssperre in den Großstädten. Bei Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und der Polizei kamen 30 Menschen ums Leben, 15 000 wurden verletzt, mehr als 400 verloren ihr Augenlicht, 21 000 Menschen wurden verhaftet, und es gab über 5000 Anzeigen wegen Folter, sexueller Gewalt und Misshandlungen von Verhafteten.1
Nach drei Wochen, am 13. November 2019, brachte Piñera schließlich die Idee einer Verfassungsänderung auf. Am Tag zuvor war das Land durch einen Generalstreik weitgehend zum Stillstand gekommen, und es hatte abermals schwere Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und der Polizei gegeben.
Da der Präsident politisch isoliert und schwach war, sollte der Kongress einen politischen Ausweg aus der Krise finden. Dieser schlug schließlich eine Volksbefragung vor, die im April 2020 entscheiden sollte, ob die alte Verfassung bleiben und reformiert oder durch eine neue ersetzt werden sollte, und welches Organ für diesen Fall mit der Ausarbeitung betraut würde. Die Kommunisten und Teile der Linken waren zunächst gegen diesen Vorschlag, weil sie eine Schwächung der Proteste befürchteten.
Am Ende stimmte eine Mehrheit im Kongress zu, nachdem man sich mit der Rechten auf den Namen „Verfassungskonvent“ statt „verfassunggebende Versammlung“ geeinigt hatte. Wegen der Coronapandemie wurde das Referendum allerdings vom April auf den 25. Oktober 2020 verschoben.
Die sozialen Unruhen wirkten sich auch auf die Wirtschaftszahlen Chiles aus: Das Bruttoinlandsprodukt schrumpfte im letzten Quartal 2019 um 2,1 Prozent, die Arbeitslosigkeit stieg um 7,4 Prozent und das Wirtschaftswachstum lag nur noch bei 1,1 Prozent. In den folgenden Monaten und Jahren verstärkte sich der wirtschaftliche Abschwung zusätzlich durch die Pandemie und die weltwirtschaftliche Lage.
Trotz der eingeschränkten Bewegungsfreiheit durch die Pandemie legten sich tausende Menschen ins Zeug und warben für die Zustimmung zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Die Haltung der Rechten dazu war gespalten, selbst in Piñeras Kabinett. Die Fraktion der Ablehner plädierte dafür, dass im Falle eines Votums für eine neue Verfassung, diese im Kongress ausgearbeitet werden sollte – einer Institution, die wenig Ansehen genoss.
Die Nein-Fraktion hatte damals schlechte Voraussetzungen, denn die geltende Verfassung kann sich kaum auf wirkliche demokratisch Legitimation stützen. Sie war in den ersten sieben Jahren der Pinochet-Diktatur von neun Juristen ausgearbeitet und dann von vier Generälen der Junta gebilligt worden. 1980 durfte das Volk dann offiziell über die neue Verfassung abstimmen. Es gab aber kein Wahlregister und politische Parteien waren verboten; der Presse hatte man einen Maulkorb angelegt, und eine Opposition gab es schon gar nicht. Die Abstimmung war eine Farce.
Auch nach den mehr als 200 Änderungen, die seither an ihrem Text vorgenommen wurden, ist diese Verfassung im Kern autoritär und verweigert den Bürgerinnen und Bürgern zahlreiche Rechte. Die letzte größere Reform von 2005 unter dem sozialdemokratischen Präsidenten Ricardo Lagos schaffte die Ernennung von Senatoren auf Lebensdauer ab (von der Pinochet selbst noch profitiert hatte), stutzte die Befugnisse des Nationalen Sicherheitsrats und übertrug das Recht zur Ernennung und Absetzung von Generälen dem Präsidenten.
Das Referendum vom Oktober 2020 brachte ein eindeutiges Ergebnis: 78 Prozent stimmten für eine neue Verfassung, in der zweiten Frage entschieden sich 80 Prozent für die Ausarbeitung des Textes durch den Verfassungskonvent ohne Einmischung des Kongresses. Für den Alternativvorschlag, der den Kongress einbeziehen wollte, stimmten 20 Prozent. Der Furor der vorangegangenen Proteste mündete in eine Aufbruchstimmung, die Umfragewerte der Regierung gingen in den Keller.
Fast 1400 Kandidaten traten für die 155 Delegiertensitze im Konvent an. Gewählt wurde am 15. und 16. Mai 2021. Keine der sieben aufgestellten Listen, die Parteien, Einzelkandidaten und Indigene repräsentierten, errang eine ausreichende Mehrheit, um bestimmte Inhalte durchzusetzen oder zu blockieren.
Für die rechtsgerichteten und bürgerlichen Kräfte war es eine bittere Niederlage: Das rechte Bündnis erhielt 37 Sitze, der Zusammenschluss von Frente Amplio und Kommunisten 28, das regierende sozialdemokratische Bündnis 25, die Unabhängigen den Rest. Die ehemals starken Christdemokraten, die in den 1990er Jahren die Regierung gestellt hatten, konnten nur einen einzigen Delegierten entsenden.
Am 4. Juli 2021 traten die 155 Verfassungsdelegierten erstmals zusammen. Nach hitzigen Diskussionen und mehreren Abstimmungsdurchgängen wurden Elisa Loncon, eine Mapuche und promovierte Linguistin, sowie der junge Verfassungsrechtler Jaime Bassa zu den Vorsitzenden gewählt. Es war ein hoffnungsvoller Moment, als Loncon in ihrer Muttersprache Mapudungun eine Rede über das neue Chile hielt, das nun im Entstehen begriffen sei, vor einer Versammlung, die zur Hälfte aus Frauen bestand und in der 17 Angehörige der indigenen Bevölkerung mit ihrer farbenfrohen traditionellen Kleidung saßen.
„Dieser Konvent, dem ich heute vorstehe, wird Chile in ein plurinationales Chile verwandeln, in ein interkulturelles Chile, ein Chile, das die Rechte der Frauen, die Rechte der Bewahrerinnen nicht verletzt, ein Chile, das sich der Mutter Erde annimmt, ein Chile, das die Gewässer rein hält, ein Chile, das von jeglicher Herrschaft frei ist. Heute wird ein Traum unserer Vorfahren wahr“, sagte Loncon in ihrer Eröffnungsrede.2
Unter den 155 Delegierten mit einem Durchschnittsalter von 44 Jahren befanden sich 59 Jurist:innen, 20 Professor:innen, 9 Ingenieur:innen, 6 ehemalige Parlamentsabgeordnete, 5 Journalist:innen, ein Student, ein ehemaliger Admiral und eine Machi (eine traditionelle Heilerin). Sie erarbeiteten zunächst fünf Kapitel: Ethik, Kompetenzverteilung, Teilhabe der Bevölkerung, gesonderte Teilhabe indigener Bevölkerungsgruppen und die Struktur der staatlichen Ordnung. Von Anfang an standen ihre sieben Arbeitsgruppen unter scharfer Beobachtung. Konservative Kreise stellten mit gezielten Angriffen, die Legitimität des Gremiums infrage.
Ein Teil der Linken aus den Bürgerbewegungen wollte mit der neuen Verfassung ihre kühnsten Träume wahr werden lassen, von der Vergesellschaftung sämtlicher Bodenschätze bis zur Abschaffung der Staatsgewalt und der Einsetzung eines Rätesystems. So unrealistisch sie waren – für die Rechte lieferten sie das Material für ihre Desinformationskampagne: Das Staatsgebiet würde zerstückelt, um den Indigenen Land zu geben, die Flagge, die Nationalhymne und das Staatswappen würden geändert, Abtreibungen würden bis zum neunten Monat erlaubt, und es würde nicht einmal mehr möglich sein, ein Haus zu vererben.
Für Agustín Squella, Jurist, Journalist und Philosoph, der als unabhängiger Kandidat im Konvent saß, wäre die neue Verfassung ein echtes Bekenntnis zur Demokratie gewesen, man hätte mit ihr „einen Mittelweg gefunden zwischen repräsentativer und direkter Demokratie, bei dem das Volk durch Plebiszite, Referenden und Gesetzesinitiativen an der Führung des Landes beteiligt wird“. Und sie hätte ein ein starkes Bekenntnis zum Rechtsstaat bedeutet. „Noch nie hat eine chilenische Verfassung einen so breiten Katalog an Rechten beinhaltet.“
Vorgesehen waren gerechte und ausreichende Löhne für Arbeitnehmer, das Recht auf Streik und das Recht auf gewerkschaftliche Organisation. Ein für alle zugängliches öffentliches Gesundheitswesen war darin festgeschrieben, ebenso ein qualifiziertes, kostenloses und geschlechtsneutrales öffentliches Bildungssystem.
Das Recht auf angemessenen Wohnraum wurde darin garantiert, ebenso die Meinungsfreiheit und das Recht auf pluralistische und qualifizierte Information (einschließlich der Aufarbeitung der Diktatur) sowie das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Der Verfassungstext griff zudem eine der wichtigsten Forderungen aus den Regionen auf: das Recht auf Wasser, das als öffentliches Gut zur Verfügung stehen und der Privatisierung entzogen werden sollte.
Das bisherige Präsidialsystem wäre zugunsten eines gestärkten Parlaments abgeschafft worden, mit der Abgeordnetenkammer wie bisher und einer neuen Kammer der Regionen. Dafür sollte es keinen Senat mehr geben.
Die Rolle des Staats in der Wirtschaft sollte gestärkt werden. Der Text sprach ausdrücklich von den Prinzipien der Solidarität, der diversifizierten Produktion und der sozialen Ausgewogenheit. Korruption hätte als demokratieschädigendes Verbrechen gegolten, und niemand, der wegen einer solchen Straftat verurteilt wurde, hätte mehr ein öffentliches Amt bekleiden dürfen. Das Gleiche hätte für Personen gegolten, die wegen Menschenrechtsverletzung, Sexualstraftaten und häuslicher Gewalt verurteilt wurden.
Die Schaffung eines Systems der sozialen Absicherung war darin festgeschrieben, das „auf Grundsätzen der Solidarität, Wohlfahrt und Nachhaltigkeit beruht“. Haus- und Pflegearbeit wären anerkannt worden.
Die abgelehnte Verfassung wäre die erste der Welt gewesen, die das Bestehen der Klima- und Umweltkrise ausdrücklich benennt und die Maßnahmen zu ihrer Vorbeugung und Bekämpfung und zum Ausgleich der durch sie verursachten Schäden als staatliche Aufgaben definiert.
„Wir, das chilenische Volk, das sich aus verschiedenen Nationen zusammensetzt, geben uns aus freien Stücken diese Verfassung, die in einem partizipatorischen, paritätischen und demokratischen Prozess beschlossen wurde“, heißt es in der Präambel des offiziellen Textes, der am 4. Juli am früheren Sitz des Parlaments in der chilenischen Hauptstadt feierlich an Präsident Boric übergeben wurde.
In seiner letzten Rede als stellvertretender Vorsitzender des Konvents sagte Gaspar Domínguez: „Dies ist einer der erstaunlichsten Umwandlungsprozesse, die Chile in seiner demokratischen Geschichte erlebt hat. Er kam unerwartet, wie ein Licht inmitten von Ungewissheit und Angst. Die unter 40-Jährigen von uns hielten die Demokratie für eine Selbstverständlichkeit; ich selbst habe erst im Oktober 2019 verstanden, dass man sich um die Demokratie kümmern muss und dass das harte Arbeit ist, die große Anstrengungen fordert.“
Chile habe beschlossen, seine schwere politische Krise durch einen beispiellosen demokratischen Prozess zu bewältigen, es habe dafür keinerlei Vorbilder oder kein Rezepte gegeben, so Domínguez. Die Hoffnung, die chilenische Gesellschaft könne sich auf diesem Weg auf gemeinsamen Grundsätze und Werte einigen, ist nun zerschlagen.
Der kühne Verfassungstext mit seinen beispiellosen Minderheiten- und sozialen Rechten ging 62 Prozent der Abstimmenden zu weit. Präsident Boric, der in den letzten – wirtschaftlich schwierigen – Monaten an Zustimmung verloren hat, kündigte jedoch an, viele der Forderungen nun über einzelne Gesetze umzusetzen. Es werde einen neuen verfassunggebenden Prozess geben.
Pinochets Verfassung aber bleibt nun in Kraft und wird auf parlamentarischem Wege erneut und ein wenig reformiert werden.
1 Luis Sepúlveda, „Explosion in Chile“, LMd, Dezember 2019.
2 Elisa Loncon Antileo, „Otra forma de ser plural: Hacia una democracia plurinacional“, LMd (chilenische Ausgabe), August 2021.
3 Der Verfassungstext ist verfügbar auf der Website des Konvents: www.chileconvencion.cl.
Aus dem Spanischen von Stefanie Gerhold
Víctor de la Fuente ist Leiter, Libio Pérez Redakteur der chilenischen Ausgabe von Le Monde diplomatique.