Verfassungsreform in Chile: Ein linker Sieg mit bitterem Nachgeschmack
Zum zweiten Mal ist in Chile der Versuch gescheitert, eine Verfassungsreform umzusetzen. Jetzt bleibt das Grundgesetz aus der Pinochet-Diktatur in Kraft.
Auch der zweite Anlauf zu einer neuen Verfassung für Chile ist gescheitert: Am Sonntag haben die Wähler:innen den Entwurf für einen Text abgelehnt, den ein Verfassungsrat erarbeitet hatte, in dem konservative Vertreter:innen die Mehrheit hatten. Knapp 56 Prozent der Wähler:innen stimmten gegen den Vorschlag, rund 44 Prozent dafür. Der Text hätte die Privatisierung des Rentensystems besiegelt, das Recht auf Abtreibung weiter eingeschränkt und die Abschiebung von irregulär eingereisten Migrant:innen verfassungsrechtlich verankert.
Bereits im September 2022 lehnten 62 Prozent eine Verfassungsänderung ab, damals ging es um progressive Änderungen. Jetzt ist der Verfassungsprozess, der durch die landesweite Protestbewegung im Jahr 2019 angestossen wurde, mit dem zweiten gescheiterten Referendum vorerst beendet.
Damals protestierten landesweit Millionen gegen das ungerechte Bildungssystem, das durch Sparrunden schwer beschädigte öffentliche Gesundheitswesen, die niedrigen Löhne und Renten. Viele führen die sozialen Probleme auf die Militärdiktatur (1973–1990) unter Augusto Pinochet zurück. Die während dieser Ära im Jahr 1980 erarbeitete Verfassung trägt eindeutig seine neoliberale Handschrift. Sie definiert Chile als einen sogenannten subsidiären Staat, der in vielen Bereichen der Privatwirtschaft freie Hand lässt. Zwar wurde nach der Rückkehr zur Demokratie die Verfassung stellenweise reformiert, aber bis heute ist die Version von 1980 in Kraft. Die Proteste 2019 führten zu Versuchen, dem Land eine neue Verfassung zu geben. In einem Referendum sprachen sich darauf 80 Prozent der Wähler:innen für die Ausarbeitung eines neuen Textes aus.
Gegen den Neoliberalismus
Es wurde ein Verfassungskonvent gewählt, der mehrheitlich aus linken und progressiven Kräften bestand; die Wahl von Parteilosen ermöglichte die Teilnahme von sozialen Bewegungen. Zu den 155 Mitgliedern des Gremiums gehörten Repräsentant:innen von feministischen Organisationen, queere Personen, Umweltschützer:innen und Indigene. Zudem galt in der Versammlung eine Geschlechterparität. Sie arbeitete einen Entwurf aus, der erstmals sexuelle und reproduktive Rechte, das Recht auf Wohnraum, Bildung und Gesundheitsversorgung sowie mehr Autonomie für die Indigenen garantierte. Kritiker:innen bezeichneten den Entwurf als wirtschaftsfeindlich. Im September 2022 lehnte ihn das Volk ab.
Anschliessend stiess man einen zweiten verfassunggebenden Prozess an, der die umgekehrte Richtung einschlug. Bei der Wahl eines weiteren Konvents erhielt die rechtsextreme Republikanische Partei die meisten Stimmen. Es gelang ihr, ihre ideologischen Vorstellungen in den neuen Entwurf einzubringen. Vor dem Referendum hetzte sie gegen Migrant:innen und behauptete, mit der neuen Verfassung werde die Kriminalität im Land beendet. Linke Parteien und zivilgesellschaftliche Gruppen warben für die Ablehnung, da der Text nach ihrer Überzeugung einen Rückschritt darstellte. Rechte Politiker:innen sagten, das Verfassungsreferendum bewerte gleichzeitig die Regierung des seit März 2022 amtierenden linken Präsidenten Gabriel Boric. Die Chilen:innen liessen sich auch vom zweiten Entwurf nicht überzeugen.
Wachsende Enttäuschung
Das Ergebnis ist aber kein Grund zum Feiern. Denn nun bleibt das Grundgesetz aus der Pinochet-Ära in Kraft. Präsident Boric kündigte am Wahlabend an, dass es keinen weiteren verfassunggebenden Prozess geben werde: «Während unserer Amtszeit ist der Verfassungsprozess abgeschlossen worden. Die Dringlichkeiten sind jetzt andere.» Statt Hoffnung habe der verfassunggebende Prozess Ablehnung und Abstumpfung erzeugt. «Die Politik steht in der Schuld des chilenischen Volkes», sagte er.
Die Enttäuschung und die Frustration, die 2019 den Aufstand auslösten, sind nun noch grösser geworden. Vier Jahre nach den Protesten hat sich nichts verändert. Für die Probleme der Menschen gibt es immer noch keine Lösungen. Die Vertrauenskrise der chilenischen Demokratie hat sich nach zwei gescheiterten Anläufen für eine neue Verfassung weiter verstärkt. Boric, der im Wahlkampf tiefgreifende soziale Transformationen angekündigt hatte, konnte bis fast zwei Jahre nach Amtsantritt keine seiner versprochenen Reformen umsetzen. Er kündigte nun an, sich der Renten- und der Steuerreform widmen zu wollen. Er wird es dabei nicht leicht haben, denn seine Regierungskoalition hat keine Mehrheit in den beiden Parlamentskammern.
Für die rechten Parteien ist das Ergebnis des Referendums nur teilweise eine Niederlage. Sie konnten zwar keine Mehrheit hinter ihrem Verfassungsentwurf vereinen, aber sie wollten das Grundgesetz eigentlich auch nicht ändern. Sie verteidigen vielmehr die Verfassung aus der Zeit der Diktatur, auf deren Grundlage sie sich bereichern konnten. Diejenigen, die 2019 für Veränderungen in Chile kämpften, werden noch lange warten müssen.