An allen Fronten

Le Monde diplomatique –

Der Krieg in der Ukraine wird immer mehr zur Materialschlacht

Teile einer Rakete inmitten von Trümmern nahe Isjum, Ukraine, Dezember 2022
Nahe Isjum, Ukraine, Dezember 2022 Foto: SOFIIA BOBOK/picture alliance/AA

Tagtäglich berichten unsere Medien über das Kampfgeschehen in der Ukraine. Und doch gibt es nur wenige Analysen, die sich mit der Besonderheit dieses Kriegs befassen, die darin liegt, dass er voll „industrialisiert“ ist, aber unterhalb der Schwelle des Nuklearwaffeneinsatzes bleibt. Zwar sind gewisse Ähnlichkeiten mit den bewaffneten Konflikten des 20. Jahrhunderts unübersehbar, aber anhand seiner Operationsmuster ist dieser Krieg doch eindeutig dem 21. Jahrhundert zuzuordnen.

Dass viele Beobachter des Geschehens in der Ukraine von der Wiederkehr eines Kriegs hoher Intensität sprechen, wirft die Frage auf, ob denn die Kriege der letzten 30 Jahre – auf dem Balkan, in Afghanistan, im Nahen Osten oder in Libyen – nicht intensiv waren.

Setzt man einmal voraus, dass der Begriff „intensiv“ keine psychologische oder politische Kategorie ist, sondern schlicht den Einsatz von Menschen und Material quantifiziert, folgt daraus: Von „hoher Intensität“ waren bereits die beiden „Schlachten“ um die irakische Stadt Mossul von 2016 und 2017. Damals waren 100 000 Soldaten der westlichen Streitkräfte gegen 10 000 IS-Kämpfer im Einsatz, und nach den neunmonatigen Kämpfen war die Stadt zur Hälfte zerstört.

Blickt man auf die Zahl der Toten und Verwundeten, muss man auch dem Krieg im Jemen eine „hohe Intensität“ bescheinigen. Dieser 2015 begonnene Krieg hat nach UN-Angaben bisher 327 000 Menschenleben gefordert.1 150 000 Menschen fanden den Tod durch Kampfhandlungen, an denen Flugzeuge, Raketen und Panzer der von Saudi-Arabien angeführten Koalition arabischer Länder beteiligt waren. Seit dem Ende des Kalten Kriegs ist für solche Kriege der Begriff „asymmetrischer Konflikt“ in Mode gekommen.

In einem „symmetrischen Krieg“ stehen sich hingegen Gegner von vergleichbarer Stärke gegenüber, die vergleichbare Mittel einsetzen und derselben Kampflogik folgen. In einem „dissymmetrischen“ Krieg wiederum ist einer der Gegner stärker als der andere, aber beide befolgen die gleiche Kampflogik. Ein klassisches Beispiel ist der erste Irakkrieg von 1990/91, in dem eine westliche Koalition unter Führung der USA die Armee Saddam Husseins vernichtend geschlagen hat.

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks war jeder bewaffnete Konflikt, an dem westliche Armeen beteiligt waren, im Grunde eine „asymmetrische“ Angelegenheit. Das galt aber auch für andere Arten der Kriegsführung, bei denen „schwächere“ Gegner die Spielregeln änderten, etwa im Guerillakrieg.

Die asymmetrische Kriegsführung lässt sich nicht auf Selbstmordattentate oder Terrorismus reduzieren. Ihre Hauptmerkmale sind andere: ständige Nadelstiche gegen den Feind, erfolgreiche Tarnung im zivilen Leben, variable Kampfmethoden und eine langfristige Perspektive. Ein Erfolgsbeispiel ist der Krieg in Afghanistan, den die Taliban im August 2021 nach 20 Jahren für sich entschieden.

Demgegenüber bedeutet der Krieg in der Ukraine eine Rückkehr zu dem, was man früher als mechanisierte Kriegsführung bezeichnet hat. Dabei können beide Parteien sehr viele schwere Waffen einsetzen. Anfang 2022 verfügte die Ukraine über rund 850 Panzer (plus 1100 als Reserve), 1100 gepanzerte Fahrzeuge, mehr als 1100 Artilleriegeschütze und 350 Raketenwerfer.2

Russland verfügte zu diesem Zeitpunkt über die drei- bis vierfache Menge. Der anfänglich dissymmetrische Konflikt wurde jedoch allmählich symmetrischer, vor allem aufgrund der westlichen Waffenlieferungen.

Ein weiteres Merkmal dieses Kriegs ist seine nukleare Dimension. Russland ist die größte Atommacht der Welt und verfügt über 5977 Sprengköpfe, von denen drei Viertel einsatzfähig sind. Die Ukraine hat ihre Atomwaffen gemäß dem Budapester Memorandum von 1994 an Russland übergeben, ist also weder Atommacht noch durch den nuklearen Verteidigungsschirm eines Verbündeten geschützt.

Trotz dieses Ungleichgewichts haben wir es jedoch mit einem symmetrischen Krieg zu tun. Zwar hat der nukleare Vorteil die russische Regierung ermutigt, die Ukraine anzugreifen, aber er hat die USA und ihre Verbündeten nicht davon abgehalten, den Angegriffenen zu Hilfe zu kommen.

Gleichwohl begrenzt die atomare Drohung auf beiden Seiten die Bereitschaft zur Eskalation. Der Kreml mag zwar mit einem Atomschlag drohen, doch das ist wohl nur eine symbolische Drohung, mit der man den Westen von einem zu direkten Engagement für die Ukraine abbringen will.

Hoffnung auf die Wunderwaffe

Angesichts dieser Konstellation unterstützen die westlichen Staaten die Ukraine mit Waffen, Geheimdienstinformationen und viel Geld, nicht aber mit der Entsendung von Bodentruppen. Wie die jüngste Aufregung um die Lieferung von Kampfpanzern gezeigt hat, ist die Diskussion im Westen geprägt von der Hoffnung auf eine vermeintliche Wunderwaffe, die den Kriegsverlauf umkehren könnte.

Nach starkem Druck von außen hat Bundeskanzler Olaf Scholz am 24. Januar verkündet, dass Deutschland 14 Leopard-2-Panzer direkt an die Ukraine liefern und die Lieferung weiterer Exemplare aus den Beständen anderer Länder genehmigen wird.

Auch Großbritannien hat der Ukraine ein Bataillon von 14 Challenger-2-Panzern zugesagt; und Frankreich will amphibische Radpanzer des Typs AMX 10 RC an die Front schicken, schloss aber auch die Lieferung von Leclerc-Kampfpanzern nicht aus.

Qualitativ hochwertige Waffensysteme sind natürlich nützlich, reichen aber nicht aus, um einen Krieg zu gewinnen. Genauso wichtig, und häufig unterschätzt, ist die schiere Anzahl an Waffen und die Menge der verfügbaren oder zu produzierenden Munition.

Die meisten westlichen Armeen sind mit Hightech-Waffen ausgestattet, womit zugleich den Exportinteressen der Rüstungsindustrie gedient ist. Diese Spezialisierung hat allerdings zwei Nachteile: die Tendenz zur Produktion von Kleinserien und zu Systemen von sehr hoher Komplexität sowohl bei der Hardware als auch der Software. Zudem läuft die Produktion oft nicht lange genug. Die Folge sind leere Ersatzteillager oder Munition, die nicht mehr verwendbar ist.

Angesichts dieser Probleme forderte der französische Präsident Emmanuel Macron im Juni 2022 den Aufbau einer „Kriegswirtschaft“. Man müsse alle Prozesse beschleunigen, um die Magazine wieder zu füllen. Die seit sechs Monaten tätigen Arbeitsgruppen, die eine solche Reform des französischen Beschaffungswesens im Rüstungssektor vorantreiben sollen, haben allerdings bislang noch keine überzeugenden Ergebnisse vorgelegt.

Während keiner der Staaten, die Kiew unterstützen, eigene Soldaten auf ukrainischem Boden opfern will, schickt Russlands Präsident Wladimir Putin laufend weitere Truppen ins Feld. Parallel zu der am 21. September angeordneten Teilmobilmachung, mit der rund 300 000 Mann rekrutiert werden sollten, hat der Kreml außerdem die Rüstungsproduktion angekurbelt.

Die seit zehn Monaten andauernde Bombardierung der ukrainischen Infrastruktur zerstört auch die westlichen Hoffnungen, dass Putin die Granaten und Raketen ausgehen könnten. Vielmehr scheint die russische Rüstungsindustrie durchaus für Nachschub sorgen zu können.

Dass in Russland außerdem über die weitere Mobilmachung von einer halben Million Soldaten geredet wird, macht die Bedeutung des demografischen Faktors deutlich. Laut der letzten Volkszählung von 2021 lag die Einwohnerzahl Russland bei 147 Millionen, die der Ukraine (bei Kriegsbeginn) jedoch nur bei 39 Millionen, und von denen sind etwa 9 Millionen ins Ausland geflohen. Wenn die Verluste an Menschenleben auf beiden Seiten ähnlich hoch sind, wie das Pentagon Ende November 2022 schätzte, wird sich das demografische Ungleichgewicht noch verstärken.

In den strategischen Diskussionen der letzten Jahre ist viel von dem die Rede, was US-Militärexperten als „Multi-Domain Operations“ (MDO) bezeichnen. Gemeint ist die Ausweitung des militärischen Operationsgebiets auf zwei neue Dimensionen jenseits des traditionellen Dreiecks Land, See und Luftraum; nämlich auf den Weltraum und den Cyberspace. Hinzu kommen zwei weitere neue Bereiche: die „elektronische Kampfführung“ (EloKa) und der „semantische“ Krieg im Internet.3

Massiver Einsatz von Drohnen aller Art

Es gibt also insgesamt vier neue Ebenen, auf denen „moderne“ Kriege geführt werden. Auf allen vier sind im Fall Ukraine mehr oder weniger starke Aktivitäten zu verzeichnen. Unübersehbar ist die wichtige Rolle von Satelliten für die „Feindaufklärung“, aber auch für die Telekommunikation. Dies ist einer der Bereiche, in dem die Unterstützung der USA und der europäischen Staaten für die Ukraine besonders wichtig ist, zumal Russland auf diesem Feld nicht besonders gut aufgestellt ist.

Dagegen wird der Cyberspace überraschend wenig genutzt, wenn man es etwa mit den russischen Aktionen im Georgienkrieg von 2008 oder denen des US-Militärs im Libyenkrieg von 2011 vergleicht.4 Dagegen spielt die elektronische Kampfführung eine bedeutende Rolle, obwohl dies nach außen kaum sichtbar wird. Doch die defensiven wie die offensiven Aktionen beider Seiten basieren auf dem Dauereinsatz von Radaranlagen und anderen elektronischen Aufklärungssystemen.

Die sichtbarste neue Dimension dieses Kriegs ist der massive Einsatz verschiedenartiger Drohnentypen wie Aufklärungs-, Kampf- oder „Kamikaze“-Drohnen. Auf ukrainischer Seite ist dies vor allem die türkische Bayraktar TB2, die bereits im Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien eingesetzt wurde; auf russischer Seite die iranischen Kaman 22 und Shahed 136. Seit Beginn des Kriegs sollen schon über 4600 Drohnen zerstört worden sein, zudem stürzen pro Monat nahezu 500 Drohnen ab.5

All das macht den Luftraum über der Ukraine zu einem Schlachtfeld, auf dem sich Kampfflugzeuge, Kampfhubschrauber und Drohnen bekämpfen. Hinzu kommen die Artilleriegeschosse, deren Reichweite sich noch weiter erhöhen könnte, sollten die USA der Ukraine ihre GSLBD-Gleitlenkbomben liefern, die Ziele noch in 120 Kilometer Entfernung treffen können.

Das macht diesen Luftraum in allen Höhenschichten extrem gefährlich. Umso wichtiger ist es, die Bevölkerung vor den Gefahren aus der Luft zu schützen. Das erfordert Schutzbunker, weshalb inzwischen ganze städtische Gebiete zu Festungen ausgebaut worden sind. Mit der Folge allerdings, dass gerade die Städte besonders stark zerstört werden. Denn die einzige Möglichkeit, den Feind zu vertreiben, besteht darin, die Gebäude, in denen er Schutz sucht, systematisch zu zerstören.

Das Kriegsgeschehen in der Ukraine konzentriert sich vorwiegend auf die Landmasse. Aber auch der Seekrieg hat sich technisch weiterentwickelt: Angriffe auf Schiffe mit landgestützten Raketen (wie gegen den russischen Kreuzer „Moskwa“ im April 2022), der Einsatz von Marine- oder Unterwasserdrohnen, Operationen auf dem Meeresboden (wie die Sprengung der Nord-Stream-2-Pipeline, die bis heute nicht aufgeklärt ist) und Sabotageeinsätze (insbesondere von ukrainischer Seite wie etwa gegen die Kertsch-Brücke). Auch auf diesem Gebiet führt der Einsatz neuer Angriffswaffen zur Entwicklung defensiver Gegenmaßnahmen.

Im Medien- und Informationsbereich sind ebenso tiefgreifende und ambivalente Entwicklungen im Gange. Einerseits produzieren soziale Netzwerke und Nachrichtensender einen permanenten, oft polarisierten Medienrummel, der die klassische Kriegspropaganda noch verstärkt.

Andererseits eröffnet die Vielzahl der digitalen Quellen auch neue Möglichkeiten. Die im Netz gewonnenen Daten können etwa dabei helfen, die genauen Frontverläufe zu ermitteln, Verluste zu ermessen, die Stimmung in Armee und Bevölkerung einzuschätzen, aber auch Falschinformationen zu entlarven.

Diese neue Transparenz hat wiederum Auswirkungen auf die Kampfhandlungen. Taktische Überraschungsangriffe sind schwierig geworden, da der Feind dank moderner Mittel jenseits der klassischen Spionage (elektronische Kriegsführung, Drohnen, Satelliten) ein ziemlich klares Bild der anderen Seite gewinnen kann. Das beschränkt die militärischen Optionen erheblich, mit der Folge, dass die Fronten – trotz gelegentlicher Durchbrüche – schon seit dem dritten Kriegsmonat weitgehend eingefroren sind.

Dieser Zustand dürfte sehr wahrscheinlich andauern. Trotz der Riesenmengen an Kriegsmaterial und Menschen, die in Richtung Front bewegt werden, zeichnet sich derzeit kein klarer Sieg ab. Nach einer weiteren verlustreichen Konfrontation, wahrscheinlich im Frühjahr, könnte der Krieg in einen „eingefrorenen Konflikt“ übergehen. Also in einen Zustand, der schon 2015 bis 2022 zwischen Russland und der Ukraine herrschte.

1 Siehe Damien Lefauconnier, „Wer zählt die zivilen Toten?“, LMd, April 2022.

2 Joseph Henrotin, „Les opérations terrestres en Ukraine: la guerre conventionnelle parfaite?“, Stratégique, Nr. 129, Paris 2022.

3 Siehe François-Bernard Huyghe, Olivier Kempf und Nicolas Mazzucchi, „Gagner les Cyberconflits. Au-delà du technique“, Paris (Economica) 2015.

4 Nicht zufällig hat das Pentagon im Juli 2011 seine „Defense Strategy for Operating in Cyberspace“ vorgelegt.

5 Bericht eines Offiziers, der anonym bleiben möchte.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Olivier Kempf ist Direktor der Beratungsfirma La Vigie, assoziierter Forscher bei der Stiftung für strategische Forschung und Autor von „La Guerre d’Ukraine“, Paris (Economica) 2022.