Tote zählen: Die beabsichtigte Wirkung
Wie viele Menschenleben der Irak-Krieg gefordert hat, darüber gibt es bislang keine zuverlässigen Angaben. «Zielunterlagen» des Pentagons könnten Aufschluss geben.
Auf den Internetseite n des Pentagons wie des britischen Verteidigungsministeriums kann jedeR Interessierte die Verlustlisten einsehen, auf denen die vor und nach dem Irak-Krieg ums Leben gekommenen AmerikanerInnen und BritInnen mit biografischen Angaben aufgelistet sind. Ihre Zahl lag am 26. September 2003 bei 357.
Für die Opfer auf irakischer Seite gibt es hingegen keine offiziellen Angaben. Dies vorausahnend hatten bereits vor Kriegsbeginn Medien- und KommunikationswissenschaftlerInnen aus mehreren Staaten ein Projekt konzipiert, mit dem sie eine Prognose zu erwartender «Kollateralschäden» unter der Bevölkerung erstellten. Unter der Bezeichnung Iraq Body Count wird seither eine fortlaufend aktualisierte Schätzung auf einer gleichnamigen Internetseite veröffentlicht. Mittlerweile ist dort von 7377 bis 9179 durch Kampfhandlungen und deren Folgen getöteten Männern, Frauen und Kindern aus der irakischen Bevölkerung die Rede (Stand am 8. Oktober 2003).
Über die Verluste der irakischen Streitkräfte aber konnte bislang nur spekuliert werden. Während des Krieges waren bei den täglichen Lagebeurteilungen des U.S. Central Commands in Katar nur selten entsprechende Aussagen zu hören. Am 5. April beispielsweise war von «mindestens 2320 irakischen Soldaten» die Rede, die an diesem Tag während des US-Vormarschs auf Bagdad gefallen seien. Ansonsten gab es nur Äusserungen einzelner Militärs. Generalmajor Stanley McCrystal ging davon aus, dass tausende, wenn nicht zehntausende in den irakischen Stellungen Bomben und Raketen der U.S. Air Force zum Opfer gefallen waren. Bestätigt wurden derartige Angaben von Lieutenant General Michael Moseley, der am 5. April den Zustand der Bagdad verteidigenden Truppen wie folgt beschrieb: «Die Republikanischen Garden ausserhalb Bagdads sind nun tot. Wir weichen ihren Widerstand nicht auf, sondern wir töten sie.» Diese Deutlichkeit war bemerkenswert, denn zu Kriegsbeginn hatte der Oberkommandierende General Tommy Franks verfügt: «We don’t do body counts» (wir zählen keine Gefallenen).
Vonseiten des Pentagons wurde immer wieder geltend gemacht, die Dynamik der Operationen habe eine genaue Ermittlung gegnerischer Verluste verhindert. Ausserdem sei es während der Gefechte viel zu riskant gewesen, getötete Gegner auf dem Schlachtfeld zu zählen. Glaubwürdig waren derartige Behauptungen angesichts der Informationsüberlegenheit der US-Armee – Stichwort «gläsernes Schlachtfeld» – keineswegs. Im Gegenteil: Wohl nie zuvor in der Geschichte der Kriegführung sah sich ein Angreifer so detailliert und umfassend über seinen Gegner informiert wie die US-Streitkräfte bei diesem Feldzug. Es gab Satellitenaufklärung, Luftraumüberwachung durch Awacs-Flugzeuge, Zielerfassung mit ferngesteuerten Drohnen, elektronische Aufklärung, Laserzielbeleuchtung aus der Luft und durch Spezialeinheiten am Boden. Erstmals voll integriert in die Bodenkriegführung war auch ein fliegender Feuerleitstand mit der Bezeichnung Jstars. Mit diesem System wurden irakische Truppenbewegungen Tag und Nacht und bei jedem Wetter – selbst bei Sandstürmen – präzise erfasst, und die Zieldaten in Echtzeit an die Luftwaffe sowie die Raketenartillerie übermittelt. Angesichts der unvorstellbaren Feuerkraft der abgeworfenen Streu- und Napalmbomben und der von Raketenwerfern verschossenen Bomblet-Munition blieben anrückende irakische Einheiten ohne die geringste Chance von Gegenwehr – die wenigen Überlebenden nannten das Inferno, das sie getroffen hatte, «Regen aus Stahl».
Die US-Luftwaffe rühmte sich, dass sie dank den neuen Technologien zur Doktrin des «Effects-Based Bombing» übergehen konnte. Hierdurch sei es möglich gewesen, den Waffeneinsatz so genau zu steuern, dass die beabsichtigte Wirkung im Ziel eintrat, während früher nur ein maximales Schadensausmass angestrebt worden sei. Unabdingbare Voraussetzung einer derartigen Kriegführung freilich ist die umfassende Kenntnis der Auswirkungen des eigenen Waffeneinsatzes – im Militärjargon «Battle Damage Assessement» genannt. Demzufolge sollten dem Pentagon recht genaue Informationen darüber vorliegen, wie viele irakische Soldaten und ZivilistInnen getötet wurden.
Mittlerweile ist der Druck auf das Pentagon, mehr über den Kriegsverlauf mitzuteilen, gestiegen. Einem unabhängigen Forscher wurde deshalb Einblick in die «Zielunterlagen» des Pentagons gewährt. Seinen ersten – privat mitgeteilten – Erkenntnissen zufolge liegt die Zahl der getöteten irakischen ZivilistInnen bei mindestens 10000 und der Soldaten bei 60000 – das hiesse, auf einen gefallenen US-Soldaten kämen etwa 33 ums Leben gekommene irakische ZivilistInnen und ungefähr 200 getötete irakische Militärs – eine geradezu monströse Disproportionalität.
Nur die Unterlagen des Pentagons können letztlich über die richtigen Zahlen Aufschluss geben. Denn die militärischen Operationen erfolgten zumeist blitzschnell und teilweise über enorme Distanzen hinweg, sodass eine mediale Dokumentation kaum möglich war. Wenn ReporterInnen oder MitarbeiterInnen humanitärer Hilfsorganisationen schliesslich die Schlachtfelder erreichten, waren die grauenhaftesten Hinterlassenschaften der Kampfhandlungen oft schon beseitigt.
* Der Autor ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in seinem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.