Im Wald von Białowieża

Le Monde diplomatique –

An der polnisch-belarussischen Grenze werden Menschen aus Kuba, Togo oder dem Irak weiterhin brutal zurückgedrängt

Polens Grenzzaun durchschneidet den ältesten Wald Europas
Polens Grenzzaun durchschneidet den ältesten Wald Europas Foto: DOMINIKA ZARZYCKA/picture alliance/NurPhoto

Je weiter man in den Urwald von Białowieża vordringt, desto unwegsamer wird die dornige grüne Wildnis. Obwohl Stefan1 die Zielkoordinaten in sein GPS-Gerät eingegeben hat, weiß er nicht, wohin er sich wenden soll. Aber er geht weiter, klettert weiter, kriecht weiter, unter unzähligen abgestorbenen Bäumen hindurch, die in anderen Bäumen hängen oder zu Boden gestürzt sind. Er fällt in ein Brennnesseldickicht, kämpft mit Insektenschwärmen und muss immer wieder seine Stiefel aus dem fauligen Morast ziehen. Er ist andauernd wachsam und schon beim geringsten Geräusch alarmiert. Könnte das eine Polizeipatrouille sein? Ist das ein Helikopter?

Der junge Helfer ist auf der Suche nach einer Gruppe indischer Migranten, die ihm nach ihrem heimlichen Grenzübertritt per SMS ihre Position geschickt haben. Wurden sie womöglich von der polnischen Armee, von der Grenzwache, von der Polizei abgefangen? Aus Lautsprechern entlang der belarussisch-polnischen Grenze dröhnt pausenlos und in Dauerschleife dieselbe Durchsage auf Englisch, Arabisch, Chinesisch, Spanisch und Französisch: „Diese Grenze ist geschlossen. Dies ist das Ende Ihrer Reise. Sie wurden getäuscht und Ihr Geld ist weg. Es stimmt nicht, was man Ihnen versprochen hat. Sie müssen nach Minsk zurückkehren. Die belarussischen Behörden werden Sie in Ihr Land zurückbringen. Ihr Albtraum hat ein Ende.“

Sogar eine Mauer ließ die polnische Regierung errichten, 200 Kilometer lang, mitten durch den Wald. 340 Millionen Euro hat das Bollwerk gekostet, es entstand zwischen November 2021 und Juni 2022. Am 5. September 2022 begab sich Ministerpräsident Morawiecki (Partei für Recht und Gerechtigkeit, PiS) zum Grenzposten von Czeremcha, baute sich vor der Mauer und dem Stacheldrahtverhau auf, der in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne blitzte, und lobte das unüberwindbare Bauwerk als „besten Beweis für das entschiedene Handeln der PiS in Sicherheitsfragen“.2

Als im Herbst 2021 immer mehr Menschen rechtswidrig von Polen zurück nach Belarus abgeschoben wurden3, kritisierte die EU-Kommission nicht die Warschauer Regierung, sondern das Regime in Minsk. Es habe die chaotische Situation im Wald von Białowieża gezielt organisiert – als Vergeltung für die EU-Sanktionen gegen Belarus.

Dies sei keine „Migrationskrise“, bekräftigte am 10. November 2021 Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Washington, sondern der „Versuch eines autoritären Regimes, seine demokratischen Nachbarn zu destabilisieren“. Damit sei die gesamte EU herausgefordert.

Der Vorsitzende der rechten Europäischen Volkspartei (EVP) Manfred Weber sprach am gleichen Tag in Brüssel sogar von einem „hybriden Krieg gegen die Europäische Union“.4 Brüssel und Warschau schreckten zu ihrer Verteidigung nicht vor repressiven Maßnahmen zurück: In eisiger Kälte wurden die Menschen mit Wasserwerfern zurückgedrängt und systematisch illegale Pushbacks durchgezogen.

Seither ist es hier wesentlicher ruhiger geworden. Die Ostroute wird jeden Monat zwar immer noch von tausenden Migrant:innen genutzt, insbesondere aus Afghanistan, Pakistan, Indien und Jemen, aber auch aus Subsahara-Afrika, China und sogar Kuba. Aber diese Zahlen fallen kaum ins Gewicht, verglichen mit den Millionen, die seit Februar 2022 aus der Ukraine nach Polen geflüchtet sind.

Doch während man die Ukrainer:innen mit offenen Armen empfängt5, werden die Flüchtlinge aus Belarus verfolgt und deren Helfer als „Idioten und Verräter“ beschimpft – wie von Präsident Duda in seiner Festrede zum Tag der polnischen Armee am 15. August 2022.

Nachdem der x-te Hubschrauber über seinen Garten geflogen ist und zum x-ten Mal die Teetassen geklirrt haben, lässt Jan den Kopf sinken und blickt nicht mehr in den Himmel. Dann schaltet er sein Smartphone aus, räumt es in den Schrank und spricht mit uns. Jan ist einer jener polnischen Helfer, die nicht nur von Duda als „Verräter“ bezeichnet werden. Ihm ist die Niedergeschlagenheit deutlich anzumerken.

Er hat Tränen in den Augen, als er sagt: „Man glaubt fast, man sei im Krieg. Wir sind mit den Nerven am Ende. Wir haben enorm viel geholfen, und tun das weiterhin, so gut wir können. Aber wir sind zu wenige. Wir wissen, dass Menschen in unserem Wald sterben. Wir werden kriminalisiert, wenn wir ihnen helfen. Doch wir können das nicht einfach so hinnehmen und sie aufgeben. Unsere Aktionen in dieser feindseligen Umgebung sind sehr gefährlich, und emotional sind sie unglaublich belastend.“

Nachdem Präsident Duda am 2. September 2021 den Notstand für die Region um Białowieża ausgerufen hatte, wurde der Wald zum rechtsfreien Raum, in dem die polnische Regierung unkontrolliert und nach Belieben schalten und walten konnte. Humanitäre NGOs (Ärzte ohne Grenzen, Amnesty International und andere), die UN und sogar die europäische Grenzschutzagentur Frontex, die nicht gerade im Ruf steht, eine Willkommenskultur zu pflegen, hatten keinen Zugang mehr.

Am 1. Juli 2022 wurde der Notstand einschließlich der damit verbundenen Verbote zwar wieder aufgehoben. Doch das „Migrationsmanagement“ der Warschauer Regierung blieb weitgehend unbehelligt. Für die EU ist das vor allem: bequem. Sie kann die Verantwortung auf Polen abwälzen und der PiS gleichzeitig vorwerfen, die Rechte der Migranten zu missachten – um die sich Brüssel allerdings genauso wenig schert. Die verheerenden Zustände in den mit EU-Geldern finanzierten Internierungslagern in Libyen beweisen es.6

„Schande über euch! Schande über euch!“, ruft ein Iraker über den rasiermesserscharfen Stacheldrahtverhau hinweg den polnischen Grenzschützern zu, die ihn gerade mit seiner Familie nach Belarus zurückgeschoben haben. Eines seiner Kinder weint in den Armen der Mutter, die vermummten Soldaten haben Tränengas gegen die Familie eingesetzt. „Ihr seid Europäer, denkt daran!“, ruft der Familienvater. „Selbst in meinem Land wäre niemand so weit gegangen, einem Kind das anzutun, was ihr getan habt!“ Die Flüchtlingshelferin Monika, die bei der NGO Grupa Granica (Gruppe Grenze) mitmacht, sagt, dass die polnische Bevölkerung mehrheitlich diese repressive Politik unterstützt. Für die Freiwilligen ist das entmutigend.

Andrzej gehört zu denen, die noch nicht aufgegeben haben. Früher hat der junge Mann seine Freizeit hauptsächlich mit Onlinespielen verbracht, heute durchkämmt er den Wald von Białowieża auf der Suche nach Migranten, denen er Lebensmittel und Medikamente bringt. Nur einen Steinwurf vom Bezirksgefängnis entfernt beschleunigt er seine Schritte und bahnt sich einen Weg durch das Gewirr aus Totholz, den Blick angestrengt aufs GPS auf seinem Smartphone geheftet. Er sucht eine bestimmte Gruppe, die akut Hilfe braucht.

„Ist es denn gerechtfertigt, von einer Flüchtlingskrise zu sprechen, bei weniger als 50 000 versuchten illegalen Grenzübertritten im Jahr?“, fragt er. Und er weist noch einmal auf die Doppelmoral der EU hin: Polen sollte wegen seiner umstrittenen Justizreform mit finanziellen Sanktionen belegt werden. Doch nachdem es so viele Ukrainer:innen aufgenommen hatte, wurden die Sanktionen teilweise wieder zurückgenommen: „Erst hat Brüssel unsere Regierung abgestraft, jetzt sind es die Europäer selbst, die es der PiS erlauben, den Rechtsstaat vorzuführen.“

Schließlich findet Andrezj die elf Männer und Frauen, die er gesucht hat. Sie sind verängstigt und erschöpft vom langen Herumirren im Wald und haben nur eine Bitte: „Helfen Sie uns hier raus! Wenn wir hierbleiben, werden wir sterben.“ Für die mitgebrachten Hilfsgüter der polnischen Freiwilligen haben sie zunächst gar kein Auge. Was sie wollen, ist vor allem: einen Asylantrag stellen und Papiere ausgestellt bekommen.

„Seit über einer Woche irren wir in diesem Wald herum, der uns krank macht und unsere Schuhe zerfrisst“, erzählt eine Frau aus Togo. „Von den abgebrochenen Ästen ist unsere Haut aufgerissen, und wir sind krank, weil wir das modrige Wasser aus den Sümpfen getrunken haben. Die Wunden und die Insektenstiche haben sich infiziert.“ Sie seien in der belarussischen Grenzstadt Brest aufgebrochen und hätten nur noch 180 Dollar, erzählt die Frau: „Zwei haben wir schon unterwegs verloren; sie waren zu schwach zum Weitergehen. Wir wissen, dass sich hier keiner um unsere Rechte schert, wir werden gejagt wie Tiere. Wir können keinen Asylantrag bei den Behörden stellen, weil wenn sie uns erwischen, schieben sie uns sofort wieder ab nach Belarus, ohne uns überhaupt anzuhören.“

Sie haben das unablässige Surren und Sirren von Stechmücken und Überwachungsdrohnen im Ohr, sie müssen jede Sekunde wachsam sein, und erst bei Sonnenuntergang können sie ihre Odyssee nach Westen fortsetzen.

Am nächsten Tag treffen die Helfer auf vier Kubaner, die sich durch den Wald geschlagen haben und nun auf einer Lichtung ein wenig rasten. Sie machen sich ihre Lage klar, ohne etwas zu beschönigen, und einer von ihnen platzt heraus: „Wie viele Polen sind denn bereit, uns zu helfen? Wir werden hier einfach unserem Schicksal überlassen, wir sind dazu verdammt, in diesem Wald unterzugehen. Wir haben hier andauernd den Tod im Nacken. Nur ganz wenige Leute riskieren noch ihre Haut für uns. Zählt unser Leben denn gar nichts im Vergleich zu den Ukrainern, die genau wie wir aus ihrem Land fliehen?“

Ein paar Tage später erfahren wir, dass es den vier Männern gelungen ist, nach Spanien durchzukommen. Für knapp 1500 Euro pro Person haben sie einen Fahrer gefunden. Ob er zu einer organisierten Schlepperbande gehört oder auf eigene Faust unterwegs ist, weiß niemand. Bei Schleppern geht es immer ums Geld, selbst beim Trinkwasser: eine Flasche kostet im Wald von Białowieża 20 Euro.

Szenenwechsel: In der hippen Bar Studio im Warschauer Kulturpalast treffen wir Magdalena Chrzczonowicz, die als Journalistin für das unabhängige Nachrichtenportal OKO.press arbeitet. Sie ist eine der wenigen Reporterinnen, die sich über das Verbot der Regierung hinweggesetzt haben und nach Białowieża gefahren sind. In Polen interessiere sich kaum jemand für die Lage der Migrant:innen an der belarussischen Grenze, meint sie. Schuld daran sei einerseits die Verbotszone, andererseits die staatliche Propaganda und die Angst vor Armut in der derzeitigen ökonomischen Krise.

Die PiS nutzt die Lage an der Grenze propagandistisch aus, um der konservativen Wählerschaft ihre Unnachgiebigkeit in Sicherheitsfragen zu beweisen und sie immer wieder darauf hinzuweisen, dass ihr die Verteidigung von Polens Souveränität am Herzen liege. Und gegenüber Brüssel instrumentalisiert die PiS die Grenzsituation, um mehr Nachsicht im Hinblick auf die umstrittene Justizreform herauszuschinden.

Am meisten Pluspunkte macht die PiS-Regierung allerdings mit dem Engagement für die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. So hat sie sofort und umstandslos die am 3. März 2022 beschlossene EU-Richtlinie zu befristetem Schutz umgesetzt und vom Parlament ein entsprechendes Gesetzespaket verabschieden lassen: Jede aus der Ukraine flüchtende Person konnte rasch einen Schutzstatus erlangen, der achtzehn Monate gilt und verlängert werden kann. Eingeschlossen sind finanzielle Hilfen, provisorische Unterbringung, das Recht auf Arbeit, Zugang zu Gesundheitsversorgung, der Schulbesuch für Kinder, eine Sozialversicherungsnummer und die Nutzung zahlreicher öffentlicher Dienstleistungen.7

Polen und die EU haben gezeigt, dass es ihnen durchaus möglich ist, schnell, effektiv und unbürokratisch Hilfe zur Integration zu leisten. Doch die Einwanderungspolitik misst mehr denn je mit zweierlei Maß. Aurore Bergé, die junge Fraktionsvorsitzende der Macron-Partei Renaissance, sagt ganz offen, dass man unterscheiden müsse zwischen „denen, die man aufnehmen und gut integrieren möchte, und denen, die es nicht verdient haben zu bleiben und zurückgeführt werden müssen“.8

1 Die Vornamen der Aktivist:innen und Migrant:innen wurden geändert.

2 Joanna Klimowicz, „Przechodzą przez graniczny płot po drabinie-samoróbce. Ta zapora to – według Mateusza Morawieckiego – ‚najlepszy dowód skuteczności PiS‘ “, Gazeta Wyborcza, 13. September 2022.

3 Siehe Niels Kadritzke, „Der systematische Rechtsbruch an Europas Grenzen“, LMd, Januar 2022.

4„Escalating humanitarian crisis on the EU/Belarusian border“, Debatte im Europäischen Parlament, 10. November 2021.

5 Siehe Elisa Perrigueur, „Warschauer Willkommenskultur“, LMd, Januar 2023.

6 Siehe Ian Urbina, „Gefangen im Auftrag Europas“, LMd, Januar 2022.

7 Siehe Jean-Yves Potel, „Accueil et intégration des réfugiés: l’ambivalence polonaise“, AOC, Paris, 2. Juni 2022.

8 Zum Zitat von Aurore Bergé siehe „Immigration: 'On ne sait toujours pas quelle est la stratégie du gouvernement‘, note François-Noël Buffet“, 16. September 2022.

Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein

Tristan Coloma ist Dokumentarfilmer und Journalist. Er arbeitet derzeit an einem Filmprojekt zu diesem Thema.