Ausnahmezustand an der Grenze: Die Zone

Nr. 43 –

Der polnische Premierminister Donald Tusk hat angekündigt, das Recht auf Asyl auszusetzen. In der Praxis sei das schon längst passiert, berichten Hilfsorganisationen von der Grenze zu Belarus.

Foto: Der Wald von Białowieża
Kontrollierte Wildnis: Der Wald von Białowieża wird mit Wärmebildkameras überwacht.

Ob er sich noch an die grünen Lichter an den Häusern erinnern könne? «Ja, das war ganz am Anfang der Krise», sagt Daniel Chwaszczewski. Vor drei Jahren waren die Lichter im polnisch-belarusischen Grenzgebiet ein stilles Signal für Geflüchtete, dass sie in diesen Häusern auf Unterstützung, auf Essen, Wasser oder einen Unterschlupf hoffen konnten. «Heute schaltet keiner mehr Lichter an», sagt der 34-Jährige.

Chwaszczewski rückt seine Wintermütze gerade und setzt sich in den Aussenbereich des kleinen Bistros, das er in Białowieża mit seiner Frau betreibt. Das Dorf am Rand des Białowieża-Urwalds ist nur drei Kilometer von der belarusischen Grenze entfernt. Dutzende Militärfahrzeuge fahren täglich durch das Dorf, genauso wie die Grenzpolizei. Soldat:innen patrouillieren entlang des Grenzzauns. Wie die anderen Dörfer rund um den Wald liegt Białowieża im Epizentrum des politischen Machtpokers, der an dieser Grenze seit drei Jahren gespielt wird.

Die neuste Episode: Vor knapp zwei Wochen hat Polens Ministerpräsident Donald Tusk angekündigt, dass er wegen der Asylsuchenden, die über Belarus in sein Land einzureisen versuchen, das Asylrecht vorübergehend aussetzen will.

Die PiS rechts überholt

Noch ist offen, ob Tusk dafür im Parlament eine Mehrheit findet. «Sicherheit ja, aber auch Menschlichkeit», sagte sein linker Vizeregierungschef Krzysztof Gawkowski kurz nach der Ankündigung im TV-Sender Polsat News. Und Tusk geht mit seinem Vorstoss auf Konfrontationskurs mit der EU-Kommission: Das Aushebeln des Asylrechts würde gegen Artikel 18 der EU-Grundrechtscharta und gegen die Genfer Konvention verstossen. Doch allein die Ankündigung ist bemerkenswert: Der liberalkonservative Tusk überholt damit selbst seine Vorgänger der nationalistischen PiS-Regierung rechts – dabei hat er sein Amt vor einem Jahr als Hoffnungsträger für eine progressive Wende angetreten.

Tusk, der Migration 2025 zu einem zentralen Thema im Präsidentschaftswahlkampf machen will, verfolgt schon seit seinem Amtsantritt eine teils noch härtere Fluchtpolitik als seine Vorgänger:innen. An der Grenze zu Belarus hat sich die Situation gemäss Menschenrechtsorganisationen seither verschärft: Die wenigen Menschen, die es trotz des hohen Zauns über die Grenze schafften, würden rigoros zurückgedrängt. Seit dem Sommer würden zudem Geflüchtete immer öfter unter Druck oder mit Gewalt dazu gezwungen, ein Dokument zu unterschreiben, mit dem sie erklärten, kein Asyl beantragen zu wollen. Oft bleiben sie damit über Monate im Limbus zwischen Polen und Belarus hängen, da sie auch von den belarusischen Grenzschützer:innen nur in Ausnahmefällen – etwa wenn sie diese bestechen können – zurück nach Minsk gelassen werden.

Dies hat schwere Folgen für die Geflüchteten: «Ein Drittel von ihnen leidet unter dem sogenannten Schützengrabenfuss», berichtet Joanna Ładomirska, medizinische Koordinatorin von Ärzte ohne Grenzen. Dieses durch Kälte und Nässe verursachte Phänomen sei vor allem in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs stark verbreitet gewesen. Zudem habe sich die Zahl der Verletzungen durch Bisse von Hunden des Grenzschutzes verdoppelt. «Und wir behandeln Menschen mit tiefen Schnittwunden vom Stacheldrahtzaun und schweren Unterkühlungen.» In diesem Jahr hätten auch die Verletzungen durch Gummigeschosse zugenommen.

Das Schwerste an ihrem Job sei, die Menschen nach der medizinischen Erstversorgung zurückzulassen, sagt Ładomirska. In einem neuen Bericht der Organisationen We are Monitoring und Helsinki Foundation for Human Rights wurden 38 Aussagen von Betroffenen gesammelt, die davon berichten, dass das Recht auf Asyl schon jetzt faktisch immer wieder ausgehebelt wird. Ein Mann aus Syrien etwa berichtet davon, einen Grenzpolizisten mehrmals um Asyl gefragt zu haben: «Als der Polizist kam, um uns nach Belarus zurückzudrängen, flehte ich ihn an, meine Fingerabdrücke zu nehmen. Er sagte: ‹Nein›, und ich flehte ihn weiter an.»

Der regionale Grenzschutz bestreitet auf Anfrage, dass die Beamt:innen Geflüchtete, die in Polen Asyl beantragen wollten, nach Belarus zurückdrängen würden.

Den Beginn des politischen Machtpokers an der Grenze zwischen Belarus und Polen markiert der Herbst 2021. Zuvor hatte der belarusische Machthaber Aljaksandr Lukaschenka Massenproteste gegen seine Diktatur mit brutaler Gewalt niedergeschlagen. Die EU brach in der Folge die Beziehungen mit Belarus ab und verhängte Sanktionen gegen Lukaschenkas Regime. Im Gegenzug drohte dieser damit, flüchtende Menschen über die Grenze in die EU zu schicken. Bald starteten Flüge aus Erbil oder Beirut nach Minsk. Schlepper brachten Zehntausende Schutzbedürftige aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan nach Belarus und weiter in den riesigen alten Wald an der Grenze zu Polen.

Foto von Aleksandra Chrzanowska
Rund um die Uhr einsatzbereit: Nothelferin Aleksandra Chrzanowska.

Von einer Sperrzone zur nächsten

Die EU stützte damals die polnische PiS-Regierung, die mit aller Härte gegen die Menschen vorging, die über die polnische Ostgrenze in den Schengen-Raum zu gelangen versuchten. Polen richtete eine Sperrzone an der Grenze ein, die vorerst bis im Juni 2022 immer wieder verlängert wurde. Über Monate konnten keine Journalistinnen, Anwälte oder Ärztinnen zu den Geflüchteten vordringen. Die Notfallversorgung der Menschen, die auf Kartondeckeln und Zeitungspapier zwischen den belarusischen und den polnischen Soldat:innen festsassen, brach zusammen. Zahlreiche starben. Seit die Flüge zwischen Bagdad und Minsk nach diplomatischen Bemühungen der Europäischen Union eingestellt wurden, versuchen zwar weniger Menschen, über Belarus in die EU einzureisen als noch 2021, doch weiterhin erreichen Asylsuchende die Sperrzone zwischen Polen und Belarus. Die verschärfte Lage erschwert den Flüchtenden das Vorankommen, aber laut polnischer Grenzpolizei sollen in diesem Jahr bisher 28 000 Menschen versucht haben, nach Polen zu gelangen – über ein Drittel mehr als im Vorjahr.

Die Fluchtroute über Belarus nach Polen bleibt die am wenigsten begangene in die EU. Doch immer noch stecken Männer, Frauen und Kinder aus Syrien, Afghanistan, dem Sudan und dem Jemen zwischen den Grenzzäunen fest.

Im Juni dieses Jahres hat Polen erneut Teile der Grenzregion zur Sperrzone erklärt. Diese beginnt je nach Abschnitt 200 Meter bis zwei Kilometer vor dem Grenzzaun. Zutritt erhalten Hilfsorganisationen und Journalist:innen nur mit Ausnahmegenehmigung – die meisten Anträge werden abgelehnt. Alle 300 Meter überwacht am 5,5 Meter hohen, mit Stacheldraht gesicherten Stahlzaun ein Militärposten die Zone, ausgestattet mit Nachtsicht- und Wärmebildkameras. Als der Zaun gebaut worden sei, erinnert sich Chwaszczewski, der die Geschehnisse an der Grenze von seinem kleinen Bistro im Dorf aus beobachtet, seien rund 150 Lastwagen vor seinem Haus hin- und hergefahren. Einige der schmalen Waldwege wurden zu Asphaltstrassen, auf denen nun ständig Militärfahrzeuge unterwegs sind. Die Konstruktion des Grenzzauns kostete über 300 Millionen Euro. Tausende Stahlpfosten wurden im Naturschutzgebiet zwischen Sümpfen und Wasser angebracht.

Chwaszczewski hat in all den Jahren nur ein einziges Mal einen Mann gesehen, der aus dem Wald kam. Erschöpft sei dieser neben einem Polizeiwagen auf der Strasse gesessen und habe gewirkt, als hätte er keine Kraft mehr zum Gehen. Den Ausnahmezustand erlebt Chwaszczewski wie viele andere Bewohner:innen des Walddorfs, nicht weil er die Menschen sehen würde, um die es geht, sondern durch leere Pensionen und den Lärm vor seinem Haus.

Soldat:innen dürfen schiessen

Während die komplette Aussetzung des Asylrechts noch nicht beschlossen ist, hat das polnische Parlament ein weiteres umstrittenes Gesetz bereits im Juli verabschiedet: Dieses erlaubt Soldat:innen, Gebrauch von der Schusswaffe zu machen, wenn sie sich bedroht fühlen. Die Gesetzesänderung wurde nach dem Tod eines polnischen Soldaten angestossen, der von einem Mann durch den Zaun hindurch mit einem Messer angegriffen worden war. Kritiker:innen befürchten, dass das neue Gesetz missbraucht werden könnte, da es kaum unabhängige Beobachter an der Grenze gibt.

Aleksandra Chrzanowska von der Vereinigung für juristische Intervention sitzt auf dem Teppichboden im Hauptquartier mehrerer Hilfsorganisation und breitet eine Karte aus. Vor den Fenstern ist es Nacht geworden. Seit zwei Tagen kam kein Notruf mehr in dieser Zentrale am Rand des Grenzwalds herein. Trotzdem ist die Helferin in ihrer Funktionskleidung jederzeit einsatzbereit. Chrzanowska ist oft mit einer Sanitäterin im Wald unterwegs. Sobald ein Notruf eingeht, packen sie Suppe, Tee und Wärmedecken ein und gehen bis zu zehn Stunden durch den dichten Wald. Oft sind es etwa fünf Notrufe pro Tag. An manchen Tagen im letzten Sommer waren es bis zu zehn. Im Frühling können es auch mal zwanzig werden.

Die 45-jährige Chrzanowska ist schon seit Beginn der Krise Teil der Grupa Granica, der grössten Dachorganisation von Aktivisten und humanitären Helferinnen in der Grenzregion. «Die Leute, die sich auf der anderen Seite der Grenze aggressiv verhalten, sind eher nicht selbst auf der Flucht», sagt sie. «Ich vermute, dass es sich oft um Schmuggler oder belarusische Provokateure handelt, die an einer Destabilisierung interessiert sein könnten.» Chrzanowska sagt auch: «Wenn die Menschen ohne Hilfsorganisationen auf das polnische Militär treffen, werden sie meistens zurückgedrängt.» Dabei seien die Berichte über Gewalt im Lauf des Sommers immer brutaler geworden. Immer wieder seien die Menschen bei Pushbacks durch Tore im Zaun «geworfen» worden, «die eigentlich für Tiere gedacht sind». In einem Video, das im Mai von einer polnischen Hilfsorganisation aufgenommen wurde, sind polnische Soldaten mit blauen Gummihandschuhen zu sehen, die Menschen durch die Tore auf die belarusische Seite bugsieren. Die Menschen wirken bewusstlos.

Chrzanowska berichtet, dass es trotz des Risikos, dass ihre Nachbar:innen sie sähen, noch immer einige Bewohner:innen in der Grenzregion gebe, die Geflüchtete in Not versorgten – mit Essen, Trinken und frischer Kleidung. Dann sitzen die Menschen nach Monaten im Wald plötzlich bei Licht und Tee an einem Küchentisch und warten, bis ihre Kleider aus dem Trockner kommen. Doch grüne Lichter schalte niemand mehr an, weil diese die Soldat:innen direkt in die Häuser geführt hätten.