Bush, Chirac und die Irak-Lüge
Wenn sich Staaten einer Aggression schuldig machen, werden sie für dieselben Verbrechen nicht unbedingt auf dieselbe Weise bestraft. Der Irak ist dafür ein gutes Beispiel. Beim ersten Krieg zwischen dem Irak und den Westmächten war Saddam Hussein der Aggressor: Am 2. August 1990 besetzte seine Armee den souveränen Staat Kuwait, annektierte ihn und erklärte das Gebiet zur 19. Provinz seines Landes. Die Verurteilung des irakischen Angriffskriegs im UN-Sicherheitsrat war einstimmig.
Der Sicherheitsrat genehmigte eine massive Militäroperation unter Führung der USA. Nach dreiwöchigen intensiven Bombardements und Bodenkämpfen waren die irakischen Truppen aus Kuwait vertrieben. Danach wurden ein Embargo und gnadenlose Sanktionen gegen den Irak beschlossen. In den darauffolgenden zehn Jahren starben mehrere hunderttausend Zivilisten, oft Kinder, weil es an Trinkwasser und Medikamenten fehlte.1
Aber damit war das Leiden nicht zu Ende. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 beschloss Präsident George W. Bush, das Land erneut anzugreifen. Diesmal mit der Begründung, man müsse neuen Attentaten zuvorkommen, bei denen sogar „Massenvernichtungswaffen“ zum Einsatz kommen könnten.
Allerdings waren die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon von 15 Saudis ausgeführt worden. Kein einziger Iraker war beteiligt. Die Bedrohung war eine Erfindung der US-Geheimdienste, die durch die Bush-Administration unter Druck gesetzt wurden.2 Sie wurde sogleich von den wichtigsten westlichen Medien (allen voran New York Times, The Economist und Washington Post) verbreitet, ebenso von einer Mehrheit der US-Parlamentarier – Republikaner wie Demokraten (unter ihnen Joe Biden, damals Senator in Delaware) – und oppositioneller Exiliraker.
Ohne UN-Mandat begann am 20. März 2003 der Angriff der von den USA angeführten Koalition aus 48 Staaten (darunter Polen, Italien, die Ukraine, Spanien, Georgien und Australien) – mit einer Fake-Begründung wie auch der russische Angriff auf die Ukraine 19 Jahre später.
Bushs Außenminister Colin Powell hatte vorher verkündet, „egal, was die Verhandlungen im Sicherheitsrat ergeben“, der US-Präsident habe „die Autorität und das Recht zu handeln, um das amerikanische Volk und unsere Nachbarn zu verteidigen“.3 Fünf Jahre zuvor hatte Clintons Außenministerin Madeleine Albright verkündet: „Wenn wir Gewalt anwenden müssen, dann weil wir Amerika sind; wir sind die unverzichtbare Nation. Wir sind uns dessen bewusst und sehen weiter in die Zukunft als andere Staaten.“4
Als sich Frankreich und Deutschland der westlichen Militärexpedition verweigerten, schrieb das neokonservative Wall Street Journal den unzuverlässigen Verbündeten ins Stammbuch, fortan gebe es zwei Arten, die Probleme der Welt zu regeln: „Den traditionellen, oft konfusen Weg der internationalen Kompromisse und des Konsens, den die Europäer häufig vorziehen, und den unbürokratischeren und schnelleren, den Washington bevorzugt: Die USA treffen die wichtigsten Entscheidungen allein und versuchen dann, eine Koalition zusammenzubringen.“5
Wohin der „schnellere Weg“ führen soll, verkündete Präsident Bush im Januar 2005: Es sei die Politik der USA, „demokratische Bewegungen und Institutionen in jedem Land und jeder Kultur zu suchen und ihre Entwicklung zu unterstützen, um letztendlich die Tyrannei in der Welt zu beenden“.6
Zum Zeitpunkt dieser größenwahnsinnigen Erklärung war der Irak bereits zerstört, hunderttausende Menschen hatten ihr Leben gelassen, Millionen waren geflüchtet oder vertrieben worden. Aber das Fegefeuer im Land war noch nicht vorbei. Am Ende stand die Besetzung eines Teils des irakischen Territoriums durch den Islamischen Staat (IS).
Diese Bilanz wird heute kaum noch diskutiert; so wenig wie die Tatsache, dass der vom Zaun gebrochene Krieg illegal war. Und welche Folgen hatten die anschließenden Katastrophen und die krassen Verstöße gegen das internationale? Keine. Es gab keinerlei Sanktionen gegen die USA, kein Embargo, kein Einfrieren von Guthaben, keine Reparationsforderungen, kein Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof; und auch kein Boykott von McDonald’s-Filialen oder Coca-Cola.
In Washington galt Paris als defätistisch
Als Bagdad im April 2003 eingenommen war, forderte fast niemand, die USA für ihr völkerrechtswidriges Vorgehen zu bestrafen. Im Gegenteil: Man war eher bemüht den Zorn des Aggressors zu besänftigen. Und in Washington herrschte Empörung darüber, dass zwei europäische Verbündeten die Gefolgschaft versagt hatten. Damals wollte die US-Regierung, nach einem berühmten Spruch – angeblich aus dem Munde der Nationalen Sicherheitsberaterin Condoleeza Rice –, „Frankreich bestrafen, Deutschland ignorieren und Russland verzeihen“.
Frankreich sollte also bestraft werden. Maurice Gourdault-Montagne war von 2002 bis 2007 diplomatischer Berater der französischen Regierung. In einem jüngst erschienenen Buch erzählt er von seinem Treffen mit dem stellvertretenden US-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz in Washington, das wenige Wochen vor Ausbruch des Kriegs stattfand. „Es war unzweifelhaft einer der unangenehmsten Momente meiner langen diplomatischen Karriere“, schreibt der Diplomat. Alles an Wolfowitz, „seine Körpersprache, sein Blick, seine Gesten, seine auf mich gerichteten Finger, zeugten von seiner Verachtung für Frankreich und seine Regierung, die für ihn Defätismus und Feigheit verkörperte.“7
Jacques Chirac erzählt in seinen Memoiren von einer anderen Begegnung Gourdault-Montagnes. Kurz nach dem Fall von Bagdad regte der Abgesandte der französischen Regierung gegenüber Condoleeza Rice eine Zusammenarbeit an. Aber er bekam eine Abfuhr: „Wir haben diesen Sieg mit unserem Geld und dem Blut unserer Soldaten bezahlt. Wir brauchen euch nicht.“8
Gérard Araud, damals Direktor für Strategische Angelegenheiten im französischen Außenministerium, schreibt im Rückblick: „Die USA ließen keine Gelegenheit aus, uns Schmach zuzufügen, um uns für unsere Haltung zu bestrafen. In internationalen Organisationen machten sie Stimmung gegen die Ernennung von Franzosen, sie streuten das Gerücht, Frankreich habe Saddam Hussein Waffen geliefert.“9
Das vermeintlich triumphale Militärunternehmen nahm jedoch bald eine böse Wendung: Es entstand das reine Chaos mit ständigen Plünderungen und Attentaten, Sunniten und Schiiten brachten sich gegenseitig um, US-Soldaten starben. Angesichts dieser Entwicklung wurde die noch wenige Wochen zuvor verunglimpfte „internationale Gemeinschaft“ für Washington wieder nützlich.
„Die Amerikaner merkten bald, dass sie Frankreich brauchten, um die Nachkriegs-Irak-Resolutionen durch den Sicherheitsrat zu bringen“, schreibt Gourdault-Montagne. „Ab Juni 2003 rief mich Condoleeza Rice vor jeder Sicherheitsratssitzung an, um die Positionen unserer beiden Länder abzustimmen. Wir arbeiteten gemeinsam daran, dass alle Resolutionen zu diesem Thema einstimmig durchkamen.“
Das galt auch für die Resolution 1511 des Sicherheitsrats, die mit den Stimmen Frankreichs, Chinas und Russlands die US-Übergangsverwaltung im Irak bestätigte und die Verletzung der UN-Charta absegnete.
Die Schuldigen für das Leid der irakischen Bevölkerung wurden also nicht bestraft. Stattdessen gab es Geschenkkörbe: Zunächst sicherten sich die US-Unternehmen die einträglichsten Erdölverträge im Irak. Einige der engsten Mitarbeiter des Präsidenten – und er selbst als früherer Gouverneur von Texas – kannten sich in dem Business bestens aus: Vizepräsident Dick Cheney war von 1995 bis 2000 Vorsitzender von Halliburton, einem Konzern, der vor allem mit technischen Dienstleistungen im Erdölsektor sein Geld verdient.
Auch Rice hatte ihr Talent neun Jahre lang in den Dienst von Chevron gestellt. Und es war schwerlich ein Zufall, dass viele Unternehmen, die im besetzten Irak zum Zuge kamen, zur Finanzierung von Bushs Wahlkampf beigetragen hatten.10
Weil der Irak zerstört war und unter amerikanischer Aufsicht stand, verlangte die Bush-Regierung, dass die Gläubiger des Landes, Frankreich an der Spitze, auf die mit Saddam Hussein vereinbarte Rückzahlung der Schulden verzichteten. Gourdault-Montagne berichtet: „Nachdem US-Außenminister James Baker in den Hauptstädten vorgesprochen hatte, erleichterten wir die Schuldenlast des Iraks.“ Mit der Abschreibung von 80 Milliarden Dollar hoffte Frankreich, „dazu beizutragen, den Gesprächsfaden mit unseren Partnern wieder aufzunehmen“.
An anderer Stelle bemerkt der französische Ex-Diplomat: „Obwohl die Realitäten vor Ort eindeutig waren, hüteten wir uns, zu verkünden, dass wir recht gehabt hatten.“ Wenn es die USA sind, die Unheil anrichten, zeigen sich die Verbündeten großzügig.
Dabei fand die rigorose Ablehnung der Irak-Invasion durch Chirac, den Anführer des sogenannten Friedenslagers, bei seinen Landsleuten breite Unterstützung. Nach einer Umfrage des Figaro vom 28. April 2003 fanden 84 Prozent der Französinnen und Franzosen, der Staatspräsident habe „recht gehabt, sich den USA zu widersetzen“.
Später schrieb Chirac: „Widerspruch regte sich bei den Eliten oder denen, die sich dafür halten. Bei manchen unserer Diplomaten breitete sich eine unterdrückte, aber spürbare Unruhe aus, weil sie fürchteten, Frankreich könne isoliert werden.“ Noch hartnäckiger drängten der Arbeitgeberverband Medef und einige Konzernchefs des CAC 40: „Man riet mir, gegenüber den USA mehr Entgegenkommen zu zeigen, weil wir sonst wichtige Märkte für unsere Unternehmen verlieren könnten.“ Aber genauso argumentierten auch die entschiedensten „Atlantiker“ in der Regierung wie in der Opposition.“11
Viel später kam durch Wikileaks und Julian Assange ans Licht, dass zu den „Atlantikern der Opposition“ die Sozialisten François Hollande und Pierre Moscovici gehörten. 2006 sprachen die beiden in der Pariser US-Botschaft vor, um die amerikanischen Freunde zu beruhigen: Sollte im folgenden Jahr ein Sozialist zum Staatspräsidenten gewählt werden, müsse Bush keine allzu harsche Kritik seiner Politik mehr befürchten.
Auch die französischen Medien – die sich weit weniger diplomatisch ausdrücken, wenn die Aggressoren keine Nato-Kommandeure sind – waren bemüht, Washington zu beschwichtigen oder seine Politik sogar zu verteidigen. Und die Vorwürfe der US-Presse gegen die Pariser Regierung wurden eilfertig verbreitet. So wurde die Forderung, Frankreich solle die US-amerikanische Militärpräsenz im Irak legalisieren helfen, von Libération, Le Nouvel Observateur, France Inter und vielen anderen übernommen.
In Frankreich wie in den USA machten die meisten Falken des Irakkriegs auch danach Karriere und unterstützten weitere Kriege. Seitdem sich Bush gegen Donald Trump positioniert, ist er sogar ein Darling der Demokraten. Manchmal unterlaufen ihm allerdings neue Fehler. Im Mai 2022 leistete sich der Ex-Präsident einen trefflichen Versprecher, den er kleinlaut korrigieren musste. Er kritisierte Wladimir Putin wegen seiner „brutalen und völlig ungerechtfertigten Invasion des Iraks“.
1 Über das vergessene Embargo siehe Andrew Cockburn, „Der andere Krieg gegen den Irak“, LMd, September 2010.
2 Siehe „George W. Bush misrepresented our work at CIA to sell the Iraq invasion. It's time to call him what he is: ‚A liar.‘“, Business Insider, 21. März 2023.
3 Zitiert von Phyllis Bennis, „The UN, the US and Iraq“, The Nation, 11. November 2002.
4 Interview mit NBC, 19. Februar 1998.
5 „How France, Germany United to Undermine U.S. Designs on Iraq“, The Wall Street Journal, 26. März 2003.
6 Antrittsrede, 20. Januar 2005.
7 Maurice Gourdault-Montagne, „Les autres ne pensent pas comme nous“, Paris (Bouquins Editions) 2022.
8 Jacques Chirac, „Le temps présidentiel, Mémoires“, Paris (Nil) 2011.
9 Gérard Araud, „Passeport diplomatique. Quarante ans au Quai d’Orsay“, Paris (Grasset) 2019.
10 Siehe Ibrahim Warde, „Die Wirtschaft der amerikanischen Vettern“, LMd, Mai 2004.
11 Siehe Anmerkung 8.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz