Afrikas Schulden – Mythos und Wahrheit
Im Jahr 2020 kam es zu einem ungewöhnlichen Disput zwischen der Weltbank und der Afrikanischen Entwicklungsbank (AfDB). Weltbankpräsident David Malpass warf der AfDB damals vor, sie vergebe Kredite zu leichtfertig.1 Die Antwort kam prompt: „Unsere Bank erkennt an, dass die Schuldenlast der als ‚hoch verschuldet‘ bezeichneten Länder tendenziell steigt, wir beobachten diese Entwicklung genau“, hieß es in einer AfDB-Mitteilung. „Ein systemisches Überschuldungsrisiko gibt es aber nicht.“
Ein paar Jahre später sorgt das Thema weiterhin für Kontroversen. So fragte sich der Chefredakteur von Jeune Afrique in einem Beitrag vom 12. Mai 2022, ob „nicht zu schnell das Schreckgespenst der Verschuldung an die Wand gemalt wird“. Zwar ächzten einige Volkswirtschaften tatsächlich unter der enormen Schuldenlast. Aber sie stellten nicht die Mehrheit, und das Gesamtbild sei „deutlich weniger katastrophal, als es scheint“.
Allerdings zeigten sich mehrere afrikanische Staatschefs angesichts der Verschuldungslage nach dem Ende der Coronapandemie alarmiert – zumal diese sich durch die Folgen des Ukrainekriegs und den Zinsanstieg weiter verschärft hatte. Das Komitee zur Streichung der illegitimen Schulden (CADTM), das für seine umfangreichen Studien zum Thema bekannt ist, läutete im August 2022 erneut die Alarmglocken und sprach von einer „unerträglichen Schuldenlast“ des Kontinents.
Wer hat nun also Recht? Und wie hoch sind die Schulden tatsächlich? Laut dem im April 2023 veröffentlichten Jahresbericht der Weltbank belief sich die Staatsverschuldung der Länder Subsahara-Afrikas Ende 2022 auf schätzungsweise 1,14 Billionen US-Dollar. 2010 hatte sie noch bei 354 Milliarden gelegen. Derweil stieg die mittlere Verschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 32 Prozent 2010 auf 57 Prozent im Jahr 2022.
Diese Schulden machen zusammen aber weniger als 0,4 Prozent des Gesamtbetrags der weltweiten Forderungen von öffentlichen und privaten Gläubigern aus; diese belaufen sich auf 300 Billionen US-Dollar. Vor diesem Hintergrund erscheint das Verschuldungsproblem Afrikas als marginal und beherrschbar.
Ein im April 2023 veröffentlichte Bericht der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (Unctad) zeichnet folgendes Bild: Von den 38 Staaten in Subsahara-Afrika, die bei der Internationalen Entwicklungsorganisation – der für die ärmsten Länder der Welt zuständige Teil der Weltbankgruppe– Hilfen beantragen können, sind aktuell 8 Länder überschuldet. Diese Zahl ist seit 2013 mehr oder weniger stabil. Bei 14 dieser Staaten ist das Risiko einer Überschuldung gegenüber dem Ausland erhöht, 2020 waren es 15. Allerdings hat sich für die betroffenen Staaten die Überschuldungsgefahr durch die Coronapandemie, die Abwertung der afrikanischen Währungen gegenüber dem US-Dollar und die Folgen des Ukrainekriegs weiter verschärft.
Einen Großteil der Schuldenlast entfällt auf Südafrika, Nigeria, Angola und Mosambik. 48 Prozent der im Jahr 2022 ausstehenden Kredite hatten diese vier Länder aufgenommen. Laut den Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) wird die Schuldenquote Subsahara-Afrikas 2023 gut 55,5 Prozent des BIPs betragen, verglichen mit 57 Prozent im Jahr 2020.
Die Schuldenquote der Erdöl exportierenden Länder in der Region dürfte wegen der steigenden Nachfrage sogar nur noch bei rund 44 Prozent liegen, nachdem sie 2020 noch knapp 49 Prozent erreicht hatte. In Angola könnte der Schuldenstand im Verhältnis zum BIP sogar um 24 Prozentpunkte, in der Republik Kongo um 18 und in Äquatorial-Guinea um 13 Punkte sinken.2
Bei all diesen Zahlen ist aber aus mindestens drei Gründen Vorsicht geboten: Erstens fällt es den Statistikämtern aufgrund mangelnder Ressourcen schwer, verlässliche Daten zu liefern. Zweitens wird die informelle Beschäftigung, die oft mehr als 70 Prozent der Gesamtbeschäftigung ausmacht, von den Behörden größtenteils nicht erfasst. Und drittens werden die Methoden zur Berechnung des BIPs immer wieder angepasst.
Zwar sind solche Anpassungen bei der BIP-Berechnung völlig normal und sollten aus Sicht des IWF mindestens alle zehn Jahre durchgeführt werden. Allerdings kann es dadurch zu starken Schwankungen kommen. So stieg das BIP Togos nach der Neuberechnung im September 2022 sprunghaft um 36,5 Prozent an, nachdem als Referenzjahr für die Preise nicht mehr 1993, sondern 2008 herangezogen wurde. 2018 erhöhten sich die BIPs von Senegal und Niger um 29,4 beziehungsweise 30 Prozent, während das BIP von Côte d’Ivoire im März 2020 um 38 Prozent in die Höhe schnellte. Immer wenn das BIP noch oben korrigiert wird, sinkt natürlich automatisch die Schuldenquote.
Außerdem hat sich die Situation durch die in den letzten 15 Jahren gestiegene Bedeutung privater Gläubiger tiefgreifend verändert: Deren Forderungen gegenüber den Ländern Subsahara-Afrikas beliefen sich nach Angaben der EU Ende 2021 auf 216 Milliarden US-Dollar. Davon waren 67 Prozent als Anleihen verbrieft und 33 Prozent als Bankkredite vergeben worden.3
Der Rückgang der Zinsen nach der Weltfinanzkrise von 2008 hatte den Ländern mit niedrigem Einkommen den Zugang zum internationalen Finanzmarkt erleichtert und gleichzeitig Anleger dazu bewogen, sich diesen Staaten zuzuwenden. Denn Letztere mussten den Investoren höhere Zinsen bieten, während das Zinsniveau in vielen Industrieländern nahe null lag.
Indem sie private Finanzierungsangebote in Anspruch nahmen, versuchten die Schuldnerstaaten außerdem den mit der Kreditvergabe durch internationale Finanzinstitutionen verbundenen Bedingungen aus dem Weg zu gehen; insbesondere der Verpflichtung, sich den Regeln des Freihandels und der liberalen Wirtschaftsordnung zu unterwerfen.
Immer mehr private Gläubiger
Sollten also die Schulden der Länder Subsahara-Afrikas alle fünf oder zehn Jahre gestrichen werden? Ein solches Vorgehen würde sehr wahrscheinlich zu einem massiven Anstieg der Zinsen führen. Dieses Phänomen lässt sich schon heute beobachten: Sobald die Ratingagenturen, die bekanntermaßen viele Vorbehalte gegenüber den afrikanischen Ländern hegen, die Rückzahlungsfähigkeit dieser Staaten herunterstufen, erhöhen die Investoren sogleich ihre Risikoprämien.
„Seit Ende 2021 haben sich die Zinsen für die Länder Subsahara-Afrikas mehr als verdoppelt“, sagt Luc Eyraud vom IWF.4 „Aufgrund dieser Erhöhung an den internationalen Märkten hat seit Beginn des Ukrainekriegs keines dieser Länder Auslandsanleihen emittiert.“ Stattdessen entscheiden sie sich immer häufiger für Inlands- und Regionalanleihen.
Die Verschuldungsfrage ist auch deswegen kompliziert, weil Angaben stark variieren können, je nachdem welche Quelle man konsultiert. Laut Bloomberg ist der Anteil der ausstehenden öffentlichen Kredite, die von den 22 staatlichen Gläubigern des Pariser Clubs an die einkommensschwachen Länder Subsahara-Afrikas vergeben wurden, von 15 Prozent 2007 auf 3 Prozent 2016 gefallen. Die Weltbank spricht indes von einem Rückgang von 25 auf 7 Prozent. Im Gegenzug sei der Anteil der durch andere bilaterale Kreditgeber gehaltenen Schulden von 11 auf 18 Prozent gestiegen.
Zu diesen Gläubigern zählt auch China, dem häufig vorgeworfen wird, für einen gefährlichen Anstieg der Verschuldung Afrikas verantwortlich zu sein. Glaubt man dem US-Thinktank American Enterprise Institute, hat Peking den Staaten Subsahara-Afrikas zwischen 2005 und 2018 Kredite in Höhe von 298 Milliarden US-Dollar gewährt.5 Die China Africa Research Initiative an der Johns Hopkins University kommt zu einem ganz anderen Ergebnis. Dort schätzt man, dass China den afrikanischen Ländern zwischen 2000 und 2019 rund 150 Milliarden US-Dollar geliehen hat.6
Das auf internationale Entwicklung spezialisierte Forschungsinstitut AidData hält dazu fest, dass „fast 50 Prozent der von China an Entwicklungsländer vergebenen Darlehen nicht in den offiziellen Statistiken auftauchen“7, wobei unklar bleibt, auf welche Quellen sich diese Behauptung stützt.
Die Kritik gegenüber China ist Teil eines größeren geopolitischen Konflikts. So hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron im Februar 2021 am Rande eines Treffens der Regionalorganisation G5 Sahel in N’Djamena gesagt: „Eine Umstrukturierung der Schulden Afrikas gegenüber Europa und den USA nutzt nichts, wenn dann zusätzliche Kredite bei China aufgenommen werden.“
In einer Ende Mai 2022 veröffentlichten Studie8 weisen die Politikwissenschaftler Nicolas Lippolis und Harry Verhoeven allerdings darauf hin, dass eine Fokussierung auf die Rolle Chinas in die Irre führe. Mehrere US-Regierungen hätten davor gewarnt, „dass Peking Afrika in die Verschuldung treiben würde, um politischen Einfluss auszuüben und die afrikanischen Staaten zur Veräußerung strategischer Vermögenswerte an China zu zwingen“. Sie selbst kommen zu einem anderen Fazit: „Nicht die chinesische Schuldenfalle bereitet den afrikanischen Regierungschefs schlaflose Nächte, sondern die Launen des Anleihemarkts.“
Die Ungewissheit über die Höhe der Forderungen Chinas gegenüber den afrikanischen Staaten verkompliziert auch die Debatte über einen Schuldenerlass. Wegen der Heterogenität der Geldgeber ist es schwierig, einen einheitlichen Ansatz zu finden. Wenig verwunderlich, dass der IWF und die Weltbank von den afrikanischen Staaten verlangen, ihre Schulden gegenüber China offenzulegen. Eine hohe Staatsverschuldung ist an sich noch kein Problem – Japans Schuldenquote etwa liegt bei rund 250 Prozent. Entscheidend ist die Fähigkeit der Regierung, die Kredite trotz hoher anderweitiger Haushaltsbelastungen weiter bedienen zu können. Die Ausgaben durch einen Schuldenerlass zu verringern, ist zwar eine wirksame Maßnahme, aber sie ist nicht unbedingt nachhaltig.
Überschuldung ist das Resultat eines Prozesses und kehrt wieder, wenn die Ursachen bestehen bleiben. Gegenüber den stark vom Rohstoffexport abhängigen Nationen warb der AfDB-Präsident im Juni 2021 für einen „afrikanischen Stabilitätsmechanismus, um die afrikanischen Volkswirtschaften dabei zu unterstützen, sich vor exogenen Schocks zu schützen“9. Aber ist diese Maßnahme geeignet, um das wiederkehrende Problem der Überschuldung an der Wurzel zu packen?
Es gibt jedenfalls eine Reihe von Alternativen: eine regelmäßige, mindestens alle zehn Jahre stattfindende Neubewertung des BIPs, eingehende Prüfungen der Inlandsverschuldung sowie die Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktivität, um die Lebensmittelimporte zu verringern. Zielführend wären außerdem eine Stärkung der Einnahmeseite durch die Ausweitung der Besteuerungsgrundlage, die Bekämpfung der Korruption und Maßnahmen, um den Abflusses von illegalen Vermögenswerten zu stoppen (nach Schätzungen etwa 85 Milliarden US-Dollar pro Jahr).
Auch die Eindämmung der Militärausgaben könnte helfen, ebenso wie die Neuverhandlung der Bergbauverträge im Interesse der betroffenen afrikanischen Länder. Ein Schuldenerlass ist also nicht der einzige gangbare Weg.
1 „La BAD réfute les propos du président de la Banque mondiale insinuant qu’elle contribue au problème d’endettement des pays africains“, Agence Ecofin, 15. Februar 2020.
2 Siehe „Africa’s Pulse“, Nr. 26, Weltbank, Oktober 2022.
3 „Afrique subsaharienne: le stock de la dette extérieure a atteint 790 milliards $ en 2021, mais reste à 80 % à long terme“, Agence Ecofin, 17. Januar 2023.
4 „Comprendre l’actuelle pénurie de financement“, Agence Ecofin, 24. Mai 2023.
5 Siehe „Chine-Afrique: La dette s’envole, c’est grave, docteur?“, Le Point, 4. Januar 2019.
6 Siehe „Chinese Loans to Africa Database“, Global Development Policy Center.
7 „Les prêts chinois à l‘Afrique pourraient déclencher une crise financière mondiale, selon Olaf Scholz“, Agence Ecofin, 31. Mai 2022.
8 Nicolas Lippolis und Harry Verhoeven, „Politics by default: China and the global governance of African debt“, in: Survival, Bd. 64, Nr. 3, London 2022.
9 „Assemblées annuelles 2021 de la BAD: premières discussions sur la gestion de la dette africaine“, Agence Ecofin, 24. Juni 2021.
Aus dem Französischen von Markus Greiß
Gilbert Germain ist Politikwissenschaftler und Autor von „Non à un plan Marshall pour l’Afrique subsaharienne“, Paris (L’Harmattan) 2022.