Chines:innen in der Schweiz: «Ich musste etwas tun, wachrütteln»

Nr. 2 –

Die grössten Proteste seit Jahrzehnten, das plötzliche Ende der Null-Covid-Politik, nun die riesige Infektionswelle: Drei Chines:innen in Zürich erzählen, wie sie die Ereignisse in ihrer Heimat erleben. Und warum sie gegen das Regime aufstehen.

ein Foto von einer Demonstration gegen die chinesische gegen die staatliche Zero-Covid-Politik im November in Zürich
Kritik zu üben, erfordert für Chines:innen grossen Mut: An einer Demonstration gegen die staatliche Zero-Covid-Politik im November in Zürich. Foto: Sabina Bobst


Als an einem Montag im Oktober die Nacht hereinbricht, macht Meng Gao etwas, das er zuvor noch nie getan hat. Er nimmt seinen Mut zusammen, verabredet sich mit einer Freundin, verlässt sein Haus im Zürcher Kreis 4 und versteckt sein Gesicht hinter einer Maske. Dann übt er öffentlich Kritik an seinem Heimatland.

Meng und die Freundin kommen aus China. An jenem Abend hätten sich die beiden nahe der Langstrasse getroffen, erzählt er zwei Monate später, unter dem Arm einen Stapel Plakate. «Goodbye Jinping» steht auf einem, wie Fotos zeigen. Auf einem anderen ist der Ton schärfer: «Streikt! Stürzt den verräterischen Diktator Xi Jinping!», heisst es auf Englisch. Und darüber: «Leben, keine Null-Covid-Politik – Freiheit, kein Lockdown – Würde, keine Lügen – Reform, kein Rückschritt – Demokratie, keine Diktatur – Bürger, keine Sklaven»,

Mittlerweile sind diese Forderungen über China hinaus bekannt. Erstmals gebraucht hatte sie ein einsamer Demonstrant, der am 13. Oktober auf der Sitong-Brücke in Peking zwei Spruchbänder enthüllte. Ende November waren sie dann auch auf den Protesten der Zehntausenden vorwiegend jungen Chines:innen zu hören, die in mehreren Städten gegen die strikte Null-Covid-Politik in ihrem Land auf die Strasse gingen.

Die Proteste, ausgelöst durch den Tod von mindestens zehn Menschen bei einem Wohnhausbrand in Ürümqi, waren die grössten seit mehr als dreissig Jahren. Kaum jemand hatte sie kommen sehen. Neben dem Ende der monatelangen Lockdowns, Massentests und Zwangsquarantänen forderten einige Teilnehmer:innen auch ein Ende der staatlichen Zensur, einen politischen Wandel und manche selbst den Rücktritt von Staats- und Parteichef Xi Jinping. Ersteres wurde erfüllt: Am 7. Dezember leitete die Regierung das Ende der Null-Covid-Politik ein.

Es waren turbulente Wochen, auch für Chines:innen, die das Geschehen aus dem Ausland mitverfolgten. Manche verspürten das Bedürfnis, selbst Position zu beziehen – oft zum ersten Mal und wohl wissend, welche Risiken sie dabei eingehen.

Plakate zum Herunterladen

«Ich war schockiert, als ich von den Protesten erfuhr», sagt Meng Gao. Es ist kurz vor Weihnachten. Er sitzt im spärlich eingerichteten Zimmer eines Wohnhauses am Fenster und steckt sich eine Zigarette an. Meng ist um die dreissig, trägt eine dunkle Daunenjacke, Jogginghosen und eine lila Plüschmütze. Eigentlich heisst er anders, doch seinen richtigen Namen will er nicht in der Zeitung lesen. Auch sein Telefon hat er in einem anderen Raum gelassen. Eine Vorsichtsmassnahme. Man wisse ja nicht, wer womöglich mithöre, sagt er. Seine Familie lebt noch in China. Er will sie nicht in Schwierigkeiten bringen.

«Nie hätte ich gedacht, dass die Leute in meinem Land so mutig sein würden», sagt er über die Proteste. «Sie sahen wohl wirklich keinen anderen Ausweg mehr.»

Die Auswüchse der Null-Covid-Politik hat Meng nur aus der Ferne mitbekommen. Seit 2008 lebt er im Ausland, erst in den USA, seit 2015 in der Schweiz. Seine Eltern seien zwar vergleichsweise gut durch die Lockdowns gekommen und immer mit Lebensmitteln versorgt gewesen, sagt er. Doch die drakonischen Massnahmen hätten ihn stark aufgewühlt: «Die Rechte der Menschen wurden mit Füssen getreten. Ich musste etwas tun, wachrütteln.»­

Nach dem Protest auf der Sitong-Brücke mobilisierten sich Auslandschines:innen in mehreren Ländern. Auf Instagram stellten Regimekritiker:innen Plakate zum Herunterladen bereit. Für Meng und seine Freundin gab das den Anstoss: Mehrere Stunden lang hätten sie an jenem Abend plakatiert, an Tramhaltestellen, auf Mülleimern und auf der Polyterrasse vor der ETH. Denn die Aktion sollte sich vor allem an andere Auslandschines:innen richten, von denen fast 1400 an der technischen Hochschule arbeiten oder studieren.

Obwohl seine Heimat mehr als 13 000 Kilometer entfernt sei und es Nacht und sein Gesicht vermummt gewesen sei, habe er grosse Angst gehabt, sagt Meng. «Ich dachte ständig daran, dass mich jemand fotografieren und das Bild an die chinesische Botschaft schicken könnte.»

Seiner Freundin ging es ähnlich. «Auf der Polyterrasse wurde ich richtig paranoid», sagt sie beim Treffen in einem Zürcher Lokal. Sie ist Mitte zwanzig und nennt sich Zhang Lu, ihren richtigen Namen will auch sie nicht publiziert sehen. China hat sie 2021 verlassen. Auch für sie war es der erste Protest gegen die Politik in ihrer Heimat. «Dabei dachte ich andauernd: Meine Fingerabdrücke sind überall.»

Drei Gruppen der Diaspora

Laut dem Bundesamt für Statistik lebten 2021 rund 20 650 Chines:innen mit einer Aufenthaltsdauer von mindestens zwölf Monaten in der Schweiz. Der Chinaexperte Ralph Weber betont die Diversität der Diaspora.

Weber unterscheidet grob drei Generationen: eine kleine Gruppe von Chines:innen, die seit Aufnahme der chinesisch-schweizerischen Beziehungen 1950 als Diplomat:innen in die Schweiz kamen; eine grössere Gruppe von meist aus Südchina und Südostasien stammenden Chines:innen, die ab den späten Siebzigern einwanderten und häufig in Sektoren wie dem Gastgewerbe tätig sind; und eine neuere, gut ausgebildete Generation, die mit Chinas wirtschaftlichem Aufstieg seit den nuller Jahren aus Metropolen wie Peking oder Schanghai einwandert. Ihre Vertreter:innen leben als Expats in der Schweiz und arbeiten häufig im Technologiebereich und in der Pharmaindustrie, für Banken oder an Universitäten.

Einschüchterung und Überwachung

Unbegründet sind solche Befürchtungen nicht. In den USA wurde Mitte Dezember ein Student aus China angeklagt, weil er einer Kommilitonin gedroht und ihre Familie bei der Kommunistischen Partei angeschwärzt haben soll. Wie Meng Gao und Zhang Lu hatte die junge Frau an ihrer Universität Flyer aufgehängt, die mehr politische Freiheit forderten.

Wie weit der Arm der chinesischen Behörden offenbar auch ins Ausland reicht, machten kürzlich Enthüllungen der in Spanien ansässigen NGO Safeguard Defenders deutlich. Demnach sollen Chinas Sicherheitskräfte in 53 Staaten «Polizeistationen» betreiben, mit dem Ziel, Auslandschines:innen zu überwachen und Regimekritiker:innen zur Rückkehr nach China zu zwingen. Laut Peking unterstützen die Einrichtungen hingegen die Diaspora bei administrativen Fragen.

In der Schweiz konnte Safeguard Defenders zwar keine Station ausmachen. Allerdings sei bekannt, dass China im Rahmen einer Antikorruptionskampagne Staatsbürger:innen in mehr als 120 Ländern gegen deren Willen und häufig auf illegale Weise für Strafverfolgungen zurückschaffe, sagt die Kampagnenleiterin der NGO, Laura Harth. «Sehr wahrscheinlich ist davon auch die Schweiz betroffen.»

Dass «chinesische Dienste an in der Schweiz ansässigen Diasporagemeinschaften interessiert» seien, hatte der Bundesrat 2020 gegenüber dem Parlament festgehalten. Er bezeichnete China punkto Spionage als eine «relativ grosse Bedrohung» für das Land.

Wenn sie anderen Chines:innen begegne, spreche sie nie über Politik, sagt Zhang Lu. Grundsätzlich versuche sie, Leute aus China zu meiden. «Wir trauen einander nicht.» Die Angst, wegen ihrer kritischen Haltung angeschwärzt zu werden, sei zu gross.

Bevor sie ihre Heimat verliess, studierte Zhang in Peking Kunst. Während mehrerer Jahre habe sie auf Filmfestivals gearbeitet – und miterlebt, wie sich die Zensur verschärft habe. «Ständig wurde diskutiert, ob wir diesen oder jenen Film zeigen können», sagt sie. Die Qualität der Beiträge sei von Jahr zu Jahr gesunken. Auch im Unterricht habe sich das bemerkbar gemacht. «Ein Kurs über osteuropäischen Film wurde gestrichen, aus Angst, das könne zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus führen.» Die Kreativen im Land hätten unter dieser Entwicklung gelitten, sagt Zhang. Für sie war das einer der Gründe, ihre Heimat zu verlassen.

Als die Proteste in China losgingen, sei sie sehr aufgeregt gewesen – und zugleich neidisch, nicht dabei zu sein. «Nicht weil ich dachte, dass sie zu einer besseren Zukunft führen würden, sondern weil wir so etwas in den nächsten zehn oder mehr Jahren vielleicht nicht mehr erleben werden.»

Dass Zhang und Meng mit ihrem Bedürfnis, zu protestieren, in der Schweiz nicht alleine waren, wurde am 29. November 2022 deutlich. An jenem Abend versammelten sich etwa hundert Auslandschines:innen auf der Rathausbrücke in Zürich, legten Banner nieder und zündeten Kerzen an. Die meisten verbargen ihr Gesicht hinter Schutzmasken. Li Jiang, die in Wahrheit anders heisst, war eine von ihnen. «Wir mussten solidarisch sein. Für die Leute in China war es hundertmal gefährlicher zu demonstrieren. Also gab es für uns keinen Grund, es nicht zu tun.»

Li ist queer. Seit 2017 lebt sie im Ausland. Um ihre Identität ausleben zu können, wie sie sagt. In ihrer Heimat sei das seit Xis Machtübernahme vor zehn Jahren immer schwieriger geworden. Zur Rathausbrücke habe sie daher auch Plakate gebracht, die mehr Rechte für queere Chines:innen forderten. Der Protest war für sie ein grosser Schritt: «Unsere Meinung kundzutun, hat für viele Chines:innen etwas Beängstigendes.»

Dem Chinaexperten Ralph Weber von der Universität Basel ist aus den vergangenen dreissig Jahren kein anderer Fall bekannt, bei dem Chines:innen in der Schweiz so offen ein Zeichen gegen das eigene Regime gesetzt hätten. «Die Leute wissen ja, welche Konsequenzen das haben kann.» Er hat 2020 eine Studie veröffentlicht, die aufzeigt, wie sehr der chinesische Staatsapparat versucht, die Diaspora in der Schweiz zu kontrollieren, unter anderem über zahlreiche Vereinigungen. «Das geht von Belohnungen wie der Vergabe eines attraktiven Postens bis zu Benachteiligungen.» Allein das Wissen um dieses System bringe viele Auslandschines:innen dazu, sich bedeckt zu halten.

Gemischte Gefühle

In China haben die Menschen mit dem Ende der Null-Covid-Politik Freiheiten zurückgewonnen, auf die sie lange verzichten mussten. Doch seit der abrupten Öffnung explodieren die Infektionszahlen förmlich. Internationale Medien berichten von überfüllten Spitälern und überlasteten Krematorien. Chinas Behörden veröffentlichen nur mehr geschönte Zahlen der Coronatoten, tägliche Updates haben sie eingestellt. Damit bleiben einzig Schätzungen aus dem Ausland, wie jene des Londoner Unternehmens Airfinity. Es geht davon aus, dass bis Ende April 1,7 Millionen Menschen am Virus sterben werden.

Weiter verschärfen dürfte sich die Lage durch das Neujahrsfest Mitte Januar, sagt der Chinaexperte John Delury von der Yonsei University in Seoul: wenn zahlreiche Chines:innen zu ihren Familien reisen und das Virus auch in ländliche Gebiete bringen, die bisher weniger exponiert waren. «Deren medizinische Versorgung ist viel schlechter, die Bevölkerung älter und damit besonders gefährdet.» Für Xi Jinping bestehe das Risiko, nach den mehrheitlich urbanen Protesten bei einem weiteren Teil der Bevölkerung an Vertrauen zu verlieren.

Zhang Lu und Meng Gao blicken mit gemischten Gefühlen auf die Entwicklungen in ihrem Land. Zur Freude über die Lockerungen kommen Sorgen um ältere Familienmitglieder. Viele ihrer Verwandten hätten sich mit dem Virus infiziert. «Man öffnet ein Land doch nicht ohne jede Vorbereitung», sagt Meng. Die Proteste Ende November haben ihn aber optimistisch gestimmt: Er will künftig eine engere Verbindung zu seinem Heimatland aufbauen.

Zhang sieht ihre Zukunft ausserhalb von China. Nicht als Aktivistin an vorderster Front. Doch sie hofft, dass sich Teile der chinesischen Diaspora, trotz der damit verbundenen Risiken, zu einer starken oppositionellen Stimme entwickeln könnten. Ähnlich, wie das bei den Exiliraner:innen der Fall sei. Dazu will sie in Zürich einen Beitrag leisten.