Reden über Kurdistan

Le Monde diplomatique –

Hundert Jahre nach dem Vertrag von Lausanne thematisiert eine Konferenz in Ostsyrien verpasste Chancen und Wege zum ersehnten Staat

Der Weg nach Nordostsyrien ist mühsam. Er führt über Erbil, Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, durch trockene Ebenen bis fast an die türkische Grenze. Dort, am Ufer des Tigris, liegt der Grenzposten Semalka, der einzige Zugang in das Gebiet der kurdischen Selbstverwaltung in Nordostsyrien.

In Semalka weiß man nie, was einen erwartet. Meist vergehen Stunden, bis man im Minibus die Brücke passieren darf. Deshalb trifft man hier nur Menschen, die unbedingt nach Nordostsyrien wollen. Neben Syrerinnen und Syrern sind das vor allem NGO-Mitglieder, Journalistinnen und Freunde des kurdischen Volks, zumeist linke Intellektuelle.

Anfang Juli ist die Spannung auf syrischer Seite groß. Eine Konferenz steht an, die internationale Beachtung finden soll – das Thema: „Hundert Jahre Vertrag von Lausanne. Kurskorrektur, Stabilität und regionale Sicherheit“. Nur wenige Ausländer werden erwartet. Zu unsicher ist die Lage vor Ort, zu kompliziert die Anreise, zu klandestin die ganze Veranstaltung. Umso wichtiger sind die wenigen, die es an diesem Tag über den Tigris schaffen: eine Gruppe von Katalanen, drei Franzosen, ein Österreicher, eine Deutsche (die Autorin dieses Beitrags) und ein US-Amerikaner.

Keiner von ihnen weiß, wo die Konferenz stattfinden soll – der Amerikaner, ein Journalist, weiß noch nicht einmal, dass sie seit Monaten geplant ist. Er recherchiert für einen Dokumentarfilm über IS-Gefangene – etwa 10 000 ausländische Kämpfer der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) sind in Nordostsyrien inhaftiert – und wird kurzerhand zum Ehrengast befördert. Amerikaner dabeizuhaben, ist aus kurdischer Sicht immer gut, schließlich schützen bis heute 900 US-Soldaten das Selbstverwaltungsprojekt – die Autonome Verwaltung Nord- und Ostsyrien (AANES) – vor einer Übernahme durch das syrische Regime in Damaskus und vor einer militärischen Invasion der Türkei.

Kurdische Gebiete

Kurdische Gebiete in Syrien, Irak, Iran und Türkei
(grosse Ansicht der Karte)

Die AANES wird weder innerhalb noch außerhalb Syriens als Autonomieregierung akzeptiert. Nur die Autonome Region Katalonien erkennt sie offiziell an; der angereiste katalanische Parlamentsabgeordnete Ruben Wagensberg hat deshalb ein Grußwort für die Konferenz vorbereitet.

Da die Selbstverwaltung unter dem Einfluss der kurdischen Partei der demokratischen Union (PYD) steht und diese nach Meinung von Experten ideologische und organisatorische Verbindungen zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hat, wird sie von der Türkei als „Terrorstaat“ bekämpft, vorzugsweise mit Drohnen. Seit Anfang des Jahres sind laut der unabhängigen Medienorganisation Rojava Information Center dabei mehr als 70 Menschen ums Leben gekommen. Aus Angst vor den türkischen Drohnen findet die Konferenz weit entfernt von der türkischen Grenze statt – in einem neu eröffneten Hotelresort am Rand von Hasaka, Hauptstadt der gleichnamigen syrischen Provinz. Die ausländische Delegation übernachtet in einer gut bewachten Anlage im Nirgendwo.

Dass es hundert Jahre nach der Unterzeichnung des Vertrags von Lausanne nur diesen Ort gibt, an dem kurdische Politikerinnen, Wissenschaftler und ein paar ausländische Gäste über die Folgen des historisch bedeutsamen Dokuments diskutieren können, spricht für sich. Die Kurden sind noch immer ein großes Volk ohne eigenen Staat, zu dem etwa 30 Millionen Menschen gehören, die in der Türkei, in Syrien, im Irak und in Iran leben, inklusive etwa 1,5 Millionen Kurd:innen in Europa. Für viele von ihnen ist der Lausanne-Vertrag ein historischer Verrat, der ihr Schicksal als zersplittertes und unterdrücktes Volk besiegelt hat.

Am 24. Juli 1923 stimmten die Siegermächte des Ersten Weltkriegs in Lausanne der Gründung einer Türkischen Republik zu – in den bis heute gültigen Grenzen. Die Kurden gingen leer aus, anders als ihnen drei Jahre zuvor in Aussicht gestellt worden war: Im August 1920 hatten Frankreich, Großbritannien und die anderen Ententemächte den geschlagenen Osmanen in Sèvres einen Friedensvertrag diktiert. Das Osmanische Reich wurde aufgeteilt, in Ostanatolien war die Errichtung eines armenischen Staats vorgesehen, als Wiedergutmachung für den Genozid von 1915; und den Kurden sollte weiter südlich ein eigenes Gebiet überlassen werden.

Liveschalte zum Oberkommandeur

Diese Pläne wurden jedoch von Mustafa Kemal, dem späteren Atatürk, vereitelt. Zwischen 1919 und 1922 führte er in Anatolien eine nationale Widerstandsbewegung an, die sämtliche ausländischen Mächte von dort vertrieb – Griechen, Armenier, Italiener und Franzosen. Südostanatolien, eines der Hauptsiedlungsgebiete der Kurden, wurde Teil der am 29. Oktober 1923 ausgerufenen Türkischen Republik. Für die Bürgerinnen und Bürger der modernen Türkei ist Mustafa Kemal Befreier und Gründungsvater. Für die Kurden jedoch starb mit Atatürks Siegeszug die Hoffnung auf Selbstbestimmung. Kein eigener Staat, keine Autonomie, nicht einmal die Anerkennung als Minderheit – das ist das historische Erbe von Lausanne aus kurdischer Sicht.

Was in den darauffolgenden hundert Jahren daraus folgte und wer die Verantwortung dafür trägt, daran lassen die Veranstalter der Konferenz in Hasaka keinen Zweifel. Die vier „Besatzungsmächte“ Türkei, Syrien, Irak und Iran hätten sich berechtigt gefühlt, den Kurden ihre Rechte zu nehmen, sie zu töten, zu verfolgen und kulturell auszulöschen, weil der Vertrag von Lausanne die „Existenz der Kurden und Kurdistans geleugnet“ habe, heißt es im dreisprachigen Begleitheft.

Es liegt im Konferenzsaal aus, zusammen mit Schreibblöcken, Kugelschreibern und den Namensschildern der Teilnehmenden – auch der spontan eingeladene US-amerikanische Kollege bekommt ein zweiseitig bedrucktes Namenskärtchen, einmal auf Kurdisch, einmal auf Englisch. In dem großen Saal stehen eine erhöhte Bühne und ein Pult, davor lange Tischreihen sowie diverse Kameras und Bildschirme für die Online-Übertragung der insgesamt zwei Dutzend Reden. Die meisten werden auf Kurdisch gehalten. Für die Zuhörer vor Ort gibt es Headsets und eine Simultanübersetzung. Die Konferenzsprachen sind Kurdisch, Arabisch und Englisch.

Professionell soll es sein, schließlich geht es bei der Tagung um Weltpolitik. Auf dem Logo der Konferenz sind deshalb die Umrisse Kurdistans zu sehen, vergrößert vor einer Weltkugel. Organisiert hat die Veranstaltung das Rojava Center for Strategic Studies, ein der Selbstverwaltung nahestehender Thinktank, der für die ausländischen Teilnehmenden Reisekosten und Unterbringung bezahlt.

Zwei Tage lang geht es um historische Zusammenhänge, eine Interpretation der Verträge von Sèvres und Lausanne, deren Auswirkungen auf das kurdische Volk, die Herausforderungen der Gegenwart und die Frage, wie man diesen am besten begegnet. Der Titel des letzten Panels deutet an, was den Veranstaltern vorschwebt: „Die Demokratische Autonome Verwaltung in Nord- und Ostsyrien als Lösungsmodell“.

Etwa 200 Menschen sind gekommen – Führungskräfte aus der Verwaltung, Politikerinnen verschiedener Parteien, Intellektuelle, Wissenschaftler, Vertreterinnen von NGOs, Reporter lokaler und regionaler Medien. In der ersten Reihe sitzen die beiden Vorsitzenden der PYD, Salih Muslim und Asya Abdullah, und lauschen ungerührt den Reden. In Nordostsyrien sind alle Führungspositionen mit einer Frau und einem Mann besetzt. Militärs sind in Hasaka ebenfalls dabei, nicht nur für die Sicherheitskontrolle am Eingang, auch im Publikum. Die Frauen und Männer in Uniform gehören den Volksverteidigungseinheiten (YPG) an. Die YPG stellen den größten Teil der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), die seit 2015 als Verbündete des Westens den IS bekämpfen.

Der SDF-Oberkommandierende Mazlum Abdi, die prominenteste Figur im Establishment der Selbstverwaltung, ist nicht im Programm angekündigt, wird aber als Überraschungsredner per Video in den Konferenzraum geschaltet. Ein persönlicher Auftritt ist zu riskant, denn Abdi gilt als wichtigster Ansprechpartner der Amerikaner und steht zugleich wegen seiner PKK-Vergangenheit auf der Fahndungsliste der Türkei. Die Kurden als Freund und Feind zweier Nato-Partner – es ist kompliziert.

Im Konferenzsaal stehen im hinteren Bereich Stellwände mit dutzenden Fotos, die zum Teil Grauenvolles zeigen: verletzte Kinder, Tote und Fliehende, aber auch Karten, Politiker und türkische Siedlungen in Nordsyrien. Mit der Ausstellung wollen die Veranstalter an die Unterdrückung und Gewalt erinnern, denen Kurdinnen und Kurden seit der Unterzeichnung des Lausanne-Vertrags ausgesetzt waren und sind – an Aufstände und Hinrichtungen, Massaker, Vertreibungen, Chemiewaffenangriffe, Anschläge und Morde.

Dazwischen hängen Porträts prominenter weiblicher Opfer. Zu sehen sind etwa die YPG-Kämpferin Barîn Kobanê und die Politikerin Hevrîn Xelef, die beide von syrischen, mit der Türkei verbündeten Extremisten getötet wurden. Ganz links hängt das Foto der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini, deren Tod in Polizeigewahrsam im September 2022 landesweite Demonstrationen in Iran auslöste. Nach Aminis Tod wurde der von kurdischen Kämpferinnen in Nordostsyrien schon seit Jahren benutzte Slogan Jin, Jiyan, Azadî – Frau, Leben, Freiheit – nicht nur zur Parole der iranischen Protestbewegung, sondern auch zum internationalen Hashtag und zur Chiffre feministischer Solidarität.

Einen differenzierten Blick bietet die Ausstellung allerdings nicht. So werden IS-Attentäter neben dem türkischen Präsidenten Erdoğan und den Unterzeichnern in Lausanne gezeigt, ohne zwischen politischer Verantwortung und Gewalttat zu unterscheiden.

Einerseits geht es um staatliche Aggression wie bei der Niederschlagung verschiedener Aufstände in der Türkei – etwa den Ararat-Aufständen zwischen 1927 und 1930 und dem Massaker in Dersim, bei dem 1937 und 1938 tausende kurdische Aleviten ermordet wurden. Auch die „Anfal-Kampagne“ des irakischen Diktators Saddam Hussein, in deren Verlauf 1987 und 1988 etwa 180 000 Menschen getötet wurden – unter anderem durch Giftgas – und mehr als 1,5 Millionen Kurdinnen und Kurden vertrieben wurden, ist ein Beispiel für staatlichen Terror. Andererseits sind Übergriffe dargestellt, die von faschistischen Gruppen in der Türkei, von radikalen syrischen Milizen oder von Terrororganisationen wie dem IS verübt wurden. Jede Gruppe folgte dabei ihrem eigenen ideologischen Wahn, jede einem anderen politischen Kalkül.

Indem die Ausstellung die Verbrechen pauschalisiert, verallgemeinert sie auch die dahinterstehenden Motive. Daraus wird in Hasaka eine eindeutige Botschaft: Kurdinnen und Kurden waren und sind vor allem Opfer, verfolgt, massakriert und kulturell ausgelöscht von nationalistischen Regimen in den von europäischen Kolonialmächten geschaffenen Staaten.

„Hätten die Kurden nach dem Ersten Weltkrieg ihre Rechte erhalten und eine eigene Einheit gebildet“ – so die rhetorische Frage des Rojava Centers for Strategic Studies im Begleitheft –, „wäre es dann zu diesen Tragödien, Konflikten, Kriegen und anhaltenden Aufständen gekommen?“ Die Verfasser beantworten diese Frage mit einem klaren Nein und fordern die im Konferenztitel genannte „Kurskorrektur“: Amerikaner und Europäer müssten „die Kurden und ihre gerechte Sache“ anerkennen und eine Lösung der Kurdenfrage finden. Denn „das Ignorieren und Vernachlässigen eines authentischen Bestandteils der Region“ werde diese weiter destabilisieren.

Doch was eindeutig klingt, ist in Wirklichkeit vielschichtiger. So menschenverachtend jedes einzelne Massaker und jede Maßnahme der kulturellen Assimilation ist: Diese Ereignisse lassen sich nicht auf eine Verschwörung gegen das kurdische Volk zurückführen. Staatliches Selbstverständnis, politische Handlungsräume und gesellschaftliche Strukturen sind in der Türkei, in Syrien, Irak und Iran zu unterschiedlich, als dass sich daraus ein koordiniertes Vorgehen zur Vernichtung der Kurden ableiten ließe. Gäbe es eine solche Verschwörung, wären die Kurden hundert Jahre nach Lausanne nicht das, was sie heute sind: ein Volk, das seine Sprache wieder schreibt und lehrt, statt sie nur zu sprechen, das für seinen heroischen Kampf gegen den Terror des IS weltweit geachtet wird und das in immerhin zwei Ländern – Syrien und Irak – ein autonomes Gebiet verwaltet.

Der österreichische Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger zeigt bei der Konferenz in Hasaka die Unterschiede zwischen den vier Staaten auf und setzt damit das erlittene Unrecht in einen tieferen Zusammenhang. Es ist eine Gratwanderung, schließlich will er das Leid der Kurden nicht kleinreden, sondern nur kontextualisieren.

Schmidinger beschäftigt sich als Sozial- und Kulturanthropologe seit vielen Jahren mit der Region Kurdistan, er lehrt an der Universität Wien und als assoziierter Professor an der University of Kurdistan Hewlêr in Erbil. In seinem Vortrag weist er darauf hin, dass die Existenz eines kurdischen Volks über Jahrzehnte nur in der Türkei geleugnet wurde, während sie in Syrien, im Irak und in Iran zwar als politische Bedrohung bekämpft und als Feindbild missbraucht, aber nicht grundsätzlich infrage gestellt wurde.

Um aus dem multiethnischen und multikonfessionellen Osmanischen Reich eine türkische Republik zu formen, brauchte es aus Sicht Atatürks eine einheitliche Kultur und Sprache. Kulturelle Vielfalt wurde als existenzielle Bedrohung empfunden und zerstört. Auf Drängen der türkischen Delegation hatte der Vertrag von Lausanne den Minderheitenbegriff ausschließlich religiös definiert, ethnische Minderheiten gab es also in der Türkei per definitionem nicht. 15 Millionen Kurden wurden zu „Bergtürken“ umbenannt, ihre Sprache und ihre Kultur waren bis 1992 nicht nur verboten, sondern galten als nicht existent und wurden durch Assimilation weitgehend ausgelöscht.

Anders in Syrien und im Irak, wo Anfang der 1960er Jahre die arabischen Nationalisten von der Baath-Partei an die Macht kamen. Für sie gründete eine Nation auf der ethnischen Abstammung. Religiöse Vielfalt war dadurch kein Problem – die Menschen konnten glauben, woran sie wollten, Hauptsache, sie waren Araber.

In Syrien erleichterte dieses Selbstverständnis das Zusammenleben von Sunniten, Christen, Schiiten, Drusen, Ismaeliten und Alawiten – zu Letzteren zählt die Herrscherfamilie Assad selbst. Die mehr als 2 Millionen syrischen Kurden allerdings waren außen vor. „In Syrien galten die Kurden definitiv als ein eigenes Volk“, sagt Schmidinger. Man habe sie als minderwertig oder gefährlich betrachtet und deshalb unterdrückt, betont er, „aber ihre Existenz wurde nicht verleugnet“.

Stattdessen behauptete man, die syrischen Kurden seien alle aus der Türkei nach Syrien geflohen und nicht Teil der ursprünglichen Bevölkerung. Eine Verkennung von Tatsachen, denn die drei kurdisch geprägten Regionen Afrin, Kobanê und Cezîrê im Norden Syriens hatten als Rojava, (Deutsch: Westkurdistan) schon immer zum historischen Siedlungsgebiet der Kurden gehört. Die Unterdrückung in Syrien war strukturell – das Regime in Damaskus verbot die kurdische Sprache, verfolgte kurdische Aktivisten und vernachlässigte die kurdischen Gebiete. Bei einer Volkszählung 1962 wurde 120 000 Kurden ihre Staatsangehörigkeit aberkannt, die Gebiete entlang der Grenzen zur Türkei und zum Irak wurden arabisiert.

Wiederum anders verliefen die hundert Jahre seit dem Vertrag von Lausanne für die 5 Millionen Kurden im Irak. Die Machthaber in Bagdad versuchten die Kurden weder kulturell zu assimilieren wie in der Türkei, noch sie auszuschließen wie in Syrien, erklärt Thomas Schmidinger: „Stattdessen wollte man sie in das Herrschaftssystem integrieren.“ Jeder Widerstand gegen die Zentralmacht wurde militärisch zerschlagen. Die Folgen waren verheerend. Nirgendwo sei die kurdische Geschichte so blutig verlaufen wie im Irak, betont Schmidinger, aber „nirgendwo sonst hatten die Kurden zugleich so weitgehende kulturelle und sprachliche Rechte“.

Dank eines zusammenhängenden Siedlungsgebiets im Norden hatten die Kurden im Irak von Anfang an die größte Chance auf Autonomie. Diese scheiterte bis 1991 vor allem an innerkurdischen Rivalitäten, die das Regime von Saddam Hussein in Bagdad wiederum für sich zu nutzen wusste.

Die politische Landschaft in Kurdistan-Irak ist seit jeher von Stammesdenken geprägt und vom Antagonismus zwischen zwei Familienclans bestimmt – den Barzanis und den Talabanis. Das spiegelt sich auch in den verschiedenen kurdischen Dialekten wider: Die Barzanis regieren mit ihrer Demokratischen Partei Kurdistans (DPK) den nordwestlichen Teil rund um die Regionalhauptstadt Erbil. Dort sprechen viele Kurden wie ihre Landsleute in der Türkei und in Syrien Kurmancî. Die DPK betrachtet die Türkei als Verbündete und die PKK als Gegnerin. Dementsprechend ist sie auch der kurdischen Selbstverwaltung in Nordostsyrien feindlich gesinnt.

Das enge Verhältnis zwischen der DPK und der Türkei hat vor allem wirtschaftliche Gründe. Fast der gesamte Handel läuft über das nördliche Nachbarland. Im Kampf gegen die PKK, die sich in einem Teil der Kandil-Berge auf irakischem Territorium verschanzt hat, lässt die DPK dem türkischen Militär freie Hand und duldet inzwischen sogar Drohnenangriffe im Landesinneren.

Auf der anderen Seite kontrollieren die Talabanis mit der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) das Gebiet weiter südöstlich rund um die Stadt Sulaimania. Dort dominieren – wie im iranischen Kurdistan – die beiden anderen kurdischen Dialekte Soranî und Südkurdisch. Die PUK pflegt enge Verbindungen zu Iran, betrachtet die PKK als Freund und unterstützt deshalb das Autonomieprojekt in Nordostsyrien.1

Bleiben die 8 Millionen Kurden in Iran. Dort gibt es im Nordwesten bis heute eine Provinz Kurdistan. Der Vielvölkerstaat hatte nie ein grundsätzliches Problem mit anderen Sprachen; Kurdisch war dort nie verboten. Aus Angst vor separatistischen Bestrebungen verfolgt das Regime in Teheran jedoch kurdische Aktivisten und Politiker, die kurdischen Gebiete werden systematisch vernachlässigt. Proteste, auch die der vergangenen Monate, werden dort besonders brutal niedergeschlagen.

Das hat auch historische Gründe, denn im Nordwesten von Iran existierte 1946 der einzige anerkannte Kurdenstaat der Geschichte: die Republik Kurdistan. Ihr Präsident war Qazi Mohammad, ein religiöser Richter aus einer angesehenen kurdischen Familie, Hauptstadt war Mahabad. Der Staat währte nur elf Monate, gilt aber vielen Kurden bis heute wegen seiner fortschrittlichen Politik als Vorbild – in Mahabad wurden damals ein Theater, eine Mädchenschule, eine Frauenunion und eine Jugendorganisation gegründet. Im Dezember 1946 eroberten iranische Truppen das Gebiet zurück und verurteilten die kurdischen Anführer zum Tode.

Die Bedingungen, unter denen sich kurdischer Widerstand in den vergangenen hundert Jahren entwickeln konnte, waren also von Land zu Land unterschiedlich. Entsprechend vielfältig ist die kurdische politische Landschaft bis heute. Während in der Türkei die PKK Anfang der 1980er Jahre einen bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat aufnahm, blieben Syriens Kurdenparteien – seit 2011 im Kurdischen Nationalrat zusammengeschlossen – marginalisiert. Iraks Kurden erkämpften sich Autonomie, scheitern aber aufgrund von tribalen und patriarchalischen Strukturen bis heute an einer effektiven Regierungsführung. In Iran sind die Kurden politisch zersplittert, aber gesellschaftlich geeint in der aktuellen Protestbewegung.

In der kurdischen Parteienlandschaft lassen sich vereinfachend zwei Lager identifizieren. Auf der einen Seite stehen die PKK, ihre Schwesterorganisationen in Syrien (PYD) und Iran (Partei für ein freies Leben in Kurdistan, PJAK) sowie, als Verbündeter, die PUK in Irakisch-Kurdistan. Den Gegenpol bildet die Demokratische Partei Kurdistans mit ihren Ablegern im Irak (DPK) und in Iran (DPK-I).

Erschwerend kommt hinzu, dass die innerkurdischen Verwerfungen über Jahrzehnte von den Regimen in Ankara, Damaskus, Bagdad und Teheran geschürt und ausgenutzt wurden. Denn diese betrachteten sich gegenseitig als Feinde. Die Türkei und Syrien stritten um Land und Wasser; in Syrien und Irak machten sich zwei Baath-Regime Konkurrenz; Irak und Iran führten acht Jahre lang gegeneinander Krieg.

Vor diesem Hintergrund wurden die Kurden zum Spielball der herrschenden Regime. Man unterdrückte die eigene kurdische Bevölkerung und unterstützte zugleich die kurdische Opposition im jeweiligen Nachbarland. Das Assad-Regime in Damaskus etwa gewährte PKK-Chef Abdullah Öcalan 19 Jahre lang Unterschlupf. Die iranische DPK-I nutzt den Irak bis heute als Rückzugsraum in ihrem Widerstand gegen die Machthaber in Teheran. Und die Türkei unterstützt die DPK in Erbil und den kurdischen Nationalrat in Syrien gegen die PKK in den Kandil-Bergen und die PYD in Nordostsyrien. „Sämtliche kurdischen Akteure waren zu schwach, um ohne Unterstützung von außen zu kämpfen“, sagt der Politikwissenschaftler Schmidinger, das habe sie von ihren Unterstützern abhängig gemacht und die politischen Spannungen der kurdischen Organisationen untereinander verschärft.

Wer also trägt die Schuld am Leid der Kurdinnen und Kurden, an Unrecht, Gewalt und Zerstrittenheit? Die Antwort liegt auf der Hand: Einerseits haben die vier Staaten Türkei, Syrien, Irak und Iran mit ihrer Politik des „Teile und Herrsche“ eine kurdische Einheit erfolgreich verhindert. Andererseits ließen sich die Kurden vielfach instrumentalisieren, verstrickten sich in Bruderkämpfe und betrachteten – getrieben von persönlichen Interessen und Machtstreben – den Feind ihres Feindes stets als eigenen Freund.

Dass viele der Menschen im Konferenzsaal in Hasaka das ähnlich sehen, zeigen ihre Wortmeldungen. Kritik ist erlaubt, jede und jeder darf ausreden – keineswegs selbstverständlich in einer Region, die seit Jahrzehnten von Angst und Zensur geprägt ist.

Damit sich Lausanne nicht wiederhole, müssten die Kurden vereint sein und dürften nicht an ihren persönlichen Vorteil denken, meint einer. Ein anderer spricht von der „dunklen Seite unserer Geschichte“, als die Kurden sich von den Osmanen bei dem Genozid an den Armeniern haben instrumentalisieren lassen. Statt die Schuld nur bei anderen zu suchen, sollte man die Probleme von innen lösen, kritisiert der nächste und erinnert daran, dass auch Kurden für die Regime in Syrien, Irak und der Türkei arbeiteten und dabei gegen die eigenen Landsleute agierten.

Damit einher geht das große Thema Identität, das an den zwei Tagen immer wieder zur Sprache kommt. Etwa als Fawza Alyoussef ans Rednerpult tritt, eine charismatische Frau, die im Präsidium der PYD sitzt und innerhalb der Selbstverwaltung als einflussreich gilt. Lausanne habe die Kurden nicht nur geografisch getrennt, sondern auch in ihrem Denken, sagt sie. „Wenn wir diese Spaltung akzeptieren und uns damit arrangieren, sind wir selbst verantwortlich für den Verlust unserer Identität“, betont Yussef und fordert mehr Patriotismus, um die kurdische Identität wieder aufzubauen.

Doch das ist leichter gesagt als getan. Denn wie können Kurden patriotisch sein, ohne von außen als Bedrohung wahrgenommen zu werden? Ist die AANES ein kurdisches oder ein syrisches Projekt? Manche fühlen sich als syrische Kurden, andere als kurdische Syrer. Was zählt mehr, die kulturelle oder die nationale Identität? Auch hier gibt es keine einfachen Antworten, umso wichtiger ist die ehrliche Diskussion darüber – ohne Ressentiments und Verurteilungen.

Nur in Kobanê hätten die Kurden vorübergehend zusammengefunden, sagt Salih Muslim, der Ko-Vorsitzende der PYD, in seinem Beitrag. Er meint die Schlacht um Kobanê Ende 2014, als den Einheiten der YPG in Syrien die Kämpfer der Peschmerga aus dem Nordirak zur Hilfe eilten, um eine Übernahme der Stadt durch die IS-Terroristen abzuwehren. Im Angesicht des dschihadistischen Feinds sprangen Politiker über ihren ideologischen Schatten. Aber daraus folgte nichts, stellt Muslim fest: „Keine Partei konnte diese kurdische Einheit aufbauen.“

Zugleich betont er, dass weder Kurden ein Problem mit Arabern und Türken hätten noch umgekehrt. „Nicht die Türken und nicht die Araber sind gegen uns Kurden“, mahnt Muslim. Es seien allein ihre Regime, die sie dazu bringen würden, so der Parteichef.

Nationalistische und autokratische Machthaber erschweren das Zusammenleben, keine Frage. Thomas Schmidinger verknüpft das Schicksal der Kurden deshalb mit dem Zustand der Demokratie in der Region. Die durch den Vertrag von Lausanne entstandenen Grenzen hätten nicht nur den Kurden geschadet, sondern den meisten Menschen im Nahen Osten. Es seien autoritäre „Möchtegern-Nationalstaaten“ entstanden, die nicht im Interesse ihrer Bürgerinnen und Bürger agierten, sondern nur auf Grundlage von Repression funktionierten. Nach dieser Einschätzung lässt sich die kurdische Frage nur im Rahmen einer föderalen Neuordnung der gesamten Region lösen und nicht durch die Errichtung eines kurdischen Nationalstaats.

Das hat man in Nordostsyrien längst erkannt – zumindest theoretisch. Die Autonome Verwaltung ist der Versuch, alle Bevölkerungsgruppen sowie die verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Strömungen an der Regierung zu beteiligen – auch wenn das in der Praxis oft an der Vormachtstellung der PYD scheitert.

Hundert Jahre nach der Unterzeichnung des Vertrags von Lausanne ist das kurdische Volk zwar noch immer politisch gespalten und abhängig von anderen, aber zugleich kulturell erstarkt und international präsent. Einen Abschnitt der damals gezogenen Grenze zwischen Syrien und dem Irak kontrollieren die Kurden am Grenzübergang Semalka inzwischen sogar selbst. Das mühsame Prozedere dort zeigt, dass nicht nur ausländische Mächte und nationalistische Regime das Leben der Menschen vor Ort erschweren, sondern auch die eigenen Politiker.

Es mag die Schuld europäischer Imperialisten sein, dass es die Grenze zwischen Syrien und Irak überhaupt gibt. Aber dass sich beiderseits dieser Grenze die Vertreter rivalisierender Autonomieprojekte gegenseitig das Leben schwermachen, dafür sind die Kurden vor allem selbst verantwortlich.

 

1 Zum Konflikt zwischen DPK und PUK siehe Vicken Cheterian, „Gibt es eine Zukunft für Kurdistan?“, LMd, April 2023.

Kristin Helberg ist Journalistin und Politikwissenschaftlerin. Sie berichtete sieben Jahre lang aus Damaskus und hat mehrere Bücher zu Syrien geschrieben. Zuletzt erschien von ihr „Der Syrien-Krieg. Lösung eines Weltkonflikts“, Freiburg (Herder) 2018.

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