Rojavas Zukunft: Die Unbeugsamen

Nr. 4 –

Zehn Jahre nach dem Sieg über den IS ist das kurdische Kobane wieder in Gefahr – die Menschen wappnen sich für den Notfall. Ein Besuch in der nordsyrischen Kleinstadt.

Hawar Barawad sitzt mit einem Gewehr am Boden
Frauen wie Hawar Barawad patrouillieren durch das nordsyrische Kobane, um ein erneutes Eindringen der Islamisten zu verhindern.

Wenn es in Kobane dämmert, verschwindet zuerst die türkische Flagge, die auf einem hohen Mast auf der anderen Seite der Grenze weht, in der Dunkelheit. Dann die Mauer, die sich zwischen Syrien und der Türkei entlangzieht. Nur die flackernden Neonröhren eines Kiosks, gespeist mit Strom aus ratternden Generatoren, werfen nun noch etwas Licht auf eine Strasse im Zentrum der Stadt. Licht, das die Gesichter von Frauen und Männern erkennen lässt, die an der Kreuzung Wache stehen – allesamt Nachbar:innen aus dem Viertel Schehid Chabat, zwischen dreissig und siebzig Jahre alt. Die Männer tragen Kapuzenpullis, die Frauen bunte Kopftücher und samtene, an den Ärmeln bestickte Gewänder. Darüber: kugelsichere Westen. Über den Schultern: Kalaschnikows.

Wenn die Autofahrer:innen ihre Schatten sehen, bremsen sie ab. Die Nachtwächter:innen werfen einen Blick in die Fahrzeuge. Kennen sie die Gesichter, winken sie. Die Fahrer:innen grüssen zurück, hupen, fahren weiter. «Die Jungen sind an der Front, die Stadt ist ohne Schutz», sagt Hawar Barawad, die 45-jährige Anführerin der Truppe. «Wenn wir es nicht tun: Wer bewahrt unsere Stadt sonst vor Eindringlingen?» Schon einmal hätten sich IS-Kämpfer nachts in die Stadt gestohlen, um von innen anzugreifen.

Der Krieg in Syrien ist nicht vorbei. An kaum einem anderen Ort wird das in diesen Tagen so deutlich wie in Kobane, jener kurdischen Kleinstadt an der türkischen Grenze, die vor zehn Jahren über Nacht berühmt wurde – und zum Symbol des Widerstands gegen den IS.

Seit sich Russland, die Türkei und das Regime von Baschar al-Assad 2019 auf eine Pufferzone einigten, die dreissig Kilometer ins syrische Landesinnere reicht, sind in der Stadt keine kurdischen Militäreinheiten mehr stationiert. Nicht Kämpfer:innen der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), der Militäreinheiten der Autonomen Selbstverwaltung, sichern seither die Grenze, sondern Regimesoldaten und Russen. Anfang Dezember sind sie von ihren Posten geflohen. Und am Himmel über Kobane kreisen rund um die Uhr türkische Drohnen.

Keine Woche vergeht ohne Bombardements von Dörfern in der Umgebung, während von Westen her die von der Türkei unterstützten Milizen der SNA (Syrische Nationale Armee) auf die Stadt vorzurücken versuchen. Es ist derzeit die einzig verbliebene klare Frontlinie des Krieges: jene zwischen den Gebieten, die von der islamistischen Haiat Tahrir al-Scham (HTS) und mit ihr verbündeten Milizen gehalten werden, und der Autonomen Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien, auch bekannt als Rojava. Der «ältesten Kraft im Syrien dieser Tage», wie sie in Kobane seit dem Fall des Regimes gerne sagen.

eine Frau hält eine Schischa-Pfeife in den Händen, der Rauch verdeckt das Gesicht
Dass Frauen Schischa rauchen, ist in der Gesellschaft nicht akzeptiert. In einem hippen Café in Kobane tun sie es trotzdem.

Eine ganz normale Stadt

Bevor die Männer und Frauen aus der Nachbarschaft abends zu ihren Strassenpatrouillen aufbrechen, treffen sie sich im Wohnzimmer von Hawar Barawad. In der Mitte steht ein kleiner Ölofen, an den Wänden hängen Käfige mit Kanarien­vögeln und Dompfaffen, die nervös zwitschern, wann immer neue Besucher:innen den Raum betreten. Erst kommt Bakri Othman (48), Schauspieler. Dann Nasrat Mustafa (41), der als Schneider arbeitet. Dann Hisar Chalil (54), Chanum Barawad (55), Sari Asad (70). Hausfrauen, Mütter, Grossmütter. Gemeinsam bilden sie eine Nachbarschaftseinheit, ausgebildet von den lokalen Sicherheitsbehörden, bewaffnet von der Selbstverwaltung. Seit dem 8. Dezember hätten sich Hunderte dem Trupp angeschlossen, sagt Barawad. Allesamt aus Sorge, dass sich in Kobane die Geschichte wiederholen könnte.

Eine Geschichte, die auch in Barawads Wohnzimmer allgegenwärtig ist: Knapp unter der Decke hängen an der abblätternden Wand vier Porträts eines schüchtern dreinblickenden Jungen in Uniform. Karkir, der Sohn von Hawar Barawad, war fünfzehn, als er in Kobane im Krieg gegen den IS starb, als einer von 1200 kurdischen Kämpfer:innen. 134 Tage dauerte die Schlacht im Herbst 2014. Obwohl die Kämpfer:innen der Volksverteidigungseinheiten YPG und deren Frauenverbände YPJ zwischendurch nur noch einen Strassenzug Kobanes hielten, schafften sie es mit Unterstützung von Kämpfer:innen der Arbeiter:innenpartei Kurdistans (PKK), der irakisch-kurdischen Peschmerga sowie Einheiten der gegen das Assad-Regime rebellierenden Freien Syrischen Armee, das Blatt zu wenden.

Hawar Barawad steht vor einer Wand mit Portaits von gefallenen kurdischen Kämpfer:innen
«Unsere Kinder können sie uns nehmen, aber niemals unser Heimatland»: Hawar Barawad hat die Einheit mitbegründet, die nachts die Nachbarschaft bewacht.

Hawar Barawad ist nicht nur traurig über den Verlust ihres Sohnes, sondern auch stolz. «Sie können uns das Wasser nehmen. Unseren Strom. Unser Brot. Sogar unsere Kinder. Aber was sie uns niemals rauben können, ist unser Heimatland», sagt sie. Die umsitzenden Nachbar:innen nicken zustimmend.

Mit «sie» meint Barawad die Türkei. Weniger als einen Kilometer ist es von ihrer Haustür bis zur Grenze. Aus dieser Richtung seien die IS-Kämpfer gekommen. Dort waren während der Kämpfe türkische Panzer positioniert – aber griffen nicht ein. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan sagte damals: «Ich kann keinen Unterschied zwischen der PKK und dem IS erkennen.» Mit PKK meinte er alle kurdischen Kräfte.

Am 26. Januar 2015 war die Stadt vom IS befreit. Heute ist unbestritten, dass die Schlacht um Kobane die erste war, die der IS verlor – und dass dies den Niedergang seines Kalifats einläutete. Gleichzeitig wurde Kobane für die Kurd:innen zum Trumpf: Mit dem Sieg sicherten sie sich die Unterstützung der USA im Kampf gegen den IS. Um die YPG/YPJ effizienter zu unterstützen, wurde das Militärbündnis SDF gegründet, zu dem neben den YPG/YPJ auch assyrische und arabische Milizen gehören. Ausserdem wurde 2016 offiziell die Selbstverwaltung ausgerufen, die bald zum Sehnsuchtsort linker Aktivist:innen auf der ganzen Welt wurde.

Rojava

Karte von Syrien und umliegenden Ländern mit Gebieten unter kurdischer autonomer Selbstverwaltung und türkischer Besetzung
Karte: WOZ

Die Vision: kein eigener Staat, sondern eine autonome Region, organisiert nach den Prinzipien des «demokratischen Konföderalismus», wie ihn PKK-Gründer Abdullah Öcalan einst entworfen hatte. Inmitten des Krieges sollte hier ein progressives Gesellschaftsmodell gelebt werden, das auf Basisdemokratie und einem Netzwerk von Räten aufbaut, in denen alle Bevölkerungsgruppen mitbestimmen können. Die Frauenbefreiung soll im Mittelpunkt stehen, zudem will man in Rojava einen ökologischen Ansatz verfolgen, der nachhaltige Alternativen zur kapitalistischen Ausbeutung bietet.

Als «dritten Weg für Syrien» bezeichneten die Menschen in Rojava diese Vision. Ein Weg neben dem brutalen Schariaregime des IS – und dem nicht weniger brutalen der Assads.

Dabei wünschen sich viele Menschen in Kobane, so der Eindruck bei einem dreitägigen Besuch, vor allem eins: kein Symbol des Widerstands, sondern endlich eine ganz normale Kleinstadt zu sein. Im Zentrum hat gerade ein neues libanesisches Restaurant eröffnet, in dem Hochzeiten und Kindergeburtstage gefeiert werden. Es gibt ein Hotel und eine Bar, in der ein Rückkehrer aus Dänemark Johnnie Walker ausschenkt. Und ein hippes Café nur für Frauen, in dem Studentinnen und Teeniemädchen abhängen, Karten spielen.

Ein Café nur für Frauen

Schischarauch füllt den Raum. Aus den Boxen singt Justin Bieber «Baby, baby, baby, oh!». Die Wände sind mit künstlichen Blumen und vielen Spiegeln dekoriert. Rodschhilat Hassan, 31 Jahre alt, hat das Café vor vier Monaten eröffnet. Um jungen Frauen das zu geben, was sie früher vermisst hätten: einen Safe Space, geschützt vor den urteilenden Blicken der Männer. Wo Frauen Schischa rauchen und so laut lachen dürfen, wie sie wollen. Unter einer HTS-Regierung, fürchtet sie, wären Orte wie dieser in Gefahr.

Im Café sitzt die sechzehnjährige Roja, die nur ihren Vornamen preisgeben will. Auf Facebook habe sie gesehen, dass HTS-Milizen in der Nähe von Tartus Alawit:innen angegriffen hätten, erzählt sie. Und Freund:innen hätten von Angriffen auf das kurdische Viertel in Damaskus berichtet. Ausserdem lese sie jeden Tag von den Drohnenangriffen rund um Kobane. Diese Nachrichten machten ihr Angst, so Roja. «Deshalb lese ich keine mehr», sagt ihre gleichaltrige Freundin Simaw. Denn ändern könnten sie ohnehin nichts.

Roja und Simaw sitzen im Café
Die Nachrichten machen Angst: Roja und Simaw träumen im Café von Ausbildung, Wohlstand und einer Zukunft.

Roja kommt zum Lernen ins Café, Simaw arbeitet hier. Genau wie ihre drei jüngeren Geschwister müsse sie Geld verdienen, damit ihre Familie über die Runden komme. Wenn einmal Frieden herrsche und Geld da sei, dann wolle sie wieder zur Schule gehen. Um Ingenieurin zu werden, sagt Simaw. Roja möchte Ärztin werden oder Businessfrau. Hauptsache, nicht so früh Kinder bekommen wie die meisten Frauen in Kobane – «erst mit 25 und höchstens zwei», sagt Roja. Für Kobanes Zukunft hat sie eine Vision: hohe Gebäude, Porsches und BMWs auf den Strassen, internationale Schulen. Wichtiger als eine linke Utopie sind den zwei Teenagerinnen Wohlstand – und Sicherheit. Zu wissen, was morgen ist. Wie in einer ganz normalen Stadt eben.

An jeder Ecke wird aber ins Bewusstsein gerufen, dass Kobane vieles ist, aber nicht «normal». Da sind noch immer die Ruinen eingestürzter Wohnhäuser, in denen Hirten ihre Schafe unterbringen, ausgebrannte Autowracks, Raketenteile, um die die Stadtverwaltung einen Zaun errichtet hat. «Unser Museum», sagen die Leute. Und da ist im Stadtzentrum eine Statue aus weissem Stein, mehrere Meter hoch: eine Frau in Uniform, eine Hand in den Himmel gereckt, Engelsflügel. Arin Merkan, jene kurdische Kämpferin, die sich in der Schlacht um Kobane selbst in die Luft sprengte, um eine grosse Zahl IS-Kämpfer mit in den Tod zu reissen. Sie ist die Schutzpatronin der Stadt.

In Miniatur steht die Statue von Arin Merkan auch auf einem Tisch im Empfangszimmer des Rathauses. Vor einer Wand drei Flaggen: jene der Selbstverwaltung, des Kantons Kobane – und seit kurzem die grün-weiss-schwarze syrische mit den drei Sternen. «Natürlich haben wir gefeiert, als das Regime gestürzt wurde», sagt Masgin Chalil, die 31-jährige Vizebürgermeisterin von Kobane. Niemand habe unter den Assads so sehr gelitten wie die Kurd:innen. Das Regime habe die kurdische Sprache ab den 1960er Jahren in öffentlichen Einrichtungen und Schulen verboten. Und in den Siebzigern habe es versucht, sich durch die Ansiedlung von Araber:innen in den kurdischen Gebieten die Kontrolle zu sichern. Schon damals hätten sich die Leute gewehrt, sagt Chalil. Und Tausende seien dafür in den Gefängnissen des Regimes gelandet.

Das Gebiet der Selbstverwaltung erstreckt sich heute über ein Drittel des syrischen Territoriums. Rund fünf Millionen Menschen leben hier, und bei weitem nicht alle sind glücklich mit den Machtstrukturen. NGOs wie Amnesty International oder The Carter Center haben in der Vergangenheit über Gewalt und Menschenrechtsverstösse in den Gefängnissen und Gefangenenlagern berichtet, in denen mutmassliche IS-Anhänger und deren Familien festgehalten werden. Und über die Zwangsrekrutierung junger Männer für die SDF.

Gerade in arabischen Städten werden die kurdisch geführten SDF häufig als Besatzungsmacht wahrgenommen. Dass alle politisch mitentscheiden könnten, sei eine Illusion, erzählen Leute, die anonym bleiben wollen; in Wahrheit befinde sich die Macht in den Händen einiger weniger Kader der PYD, der Partei hinter den YPG/YPJ. Und wer sich dazu kritisch auf Social Media äussere, drohe festgenommen zu werden. Wie bröcklig die Macht der Selbstverwaltung in einigen nichtkurdischen Teilen des Gebiets überdies ist, wurde Anfang Dezember sichtbar, als der SDF-Sicherheitsrat in der Stadt Deir Essor kurzerhand zur HTS überlief. Oder als in Manbidsch arabische SDF-Kämpfer meuterten und der SNA so halfen, die Stadt einzunehmen.

Die Türkei versucht, die Spannungen anzuheizen und für sich zu nutzen. Seit Jahren tut sie alles dafür, die kurdische Autonomieregion zu Fall zu bringen. Schon in der Vergangenheit hat sie die Zufuhr von Wasser aus dem Euphrat blockiert und zivile Infrastruktur wie Umspannwerke, Wasserspeicher oder Getreidesilos bombardiert. Die jüngste Offensive der SNA unterstützt sie mit Drohnen und Kampfjets. Bei den Kämpfen sind seit dem 12. Dezember gemäss der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte 44 Zivilist:innen getötet worden. Zuletzt drohte die Regierung in Ankara gar mit einer Bodenoffensive, sollten die YPG/YPJ nicht die Waffen niederlegen.

Statue von Arin Merkan mit Flügeln
Schutzpatronin im Zentrum der Stadt: Arin Merkan hat im Kampf gegen die Islamisten des IS ihr Leben geopfert.

Sit-ins am Staudamm

Am Ortseingang von Kobane liegt der «Märtyrerfriedhof», fünf riesige steinerne Zacken ragen gen Himmel. Auf dem Areal dahinter sind seit Anfang Dezember sieben neue Grabreihen ausgehoben worden, aber noch war keine Zeit, um Grabplatten herbeizuschaffen. Die Gräber werden mit grauen Ziegelsteinen voneinander getrennt.

An diesem Mittag ist der Vorplatz voller Menschen. Sieben Särge stehen auf einer Erhöhung, alle in rotes Tuch gewickelt. Vier Soldaten und drei Zivilisten werden heute beerdigt. Angehörige und Freund:innen recken ihre Porträts in die Höhe. Auf einem ist ein ernst dreinblickender junger Mann mit schwarzen Locken und kantig rasiertem Bart zu sehen: Asad Scheich Hussein, getötet am 8. Januar.

Zwei Tage nach der Beerdigung trifft man vor dem Haus von Husseins Familie in Çelebî, einem Dorf fünfzig Kilometer ausserhalb von Kobane, noch immer auf eine Traube von Trauergästen. Die meiste Zeit verbrachte Asad mit seinem Cousin und besten Freund, dem zwanzigjährigen Hadschi Hussein. Dieser führt über den Pausenhof der Schule von Çelebî: Dort hätten sie immer Fussball gespielt, auch noch am Tag vor Asads Tod. Hadschi hat dessen Trikot dabei. Real Madrid, Bellingham, Rückennummer fünf. «Er hat immer davon geträumt, einmal nach Madrid zu fahren und ein Spiel im Bernabéu zu sehen – selbst wenn er dafür die Klos im Stadion hätte putzen müssen.»

Zwar sei Asad Teil des Revolutionary Youth Movement gewesen, einer PYD-nahen Jugendorganisation, doch selber kämpfen wollte er nie. Dennoch habe er beschlossen, am 8. Januar nach Tischrin zu fahren, wo die derzeit wichtigste Front verläuft. Der dortige Damm am Euphrat ermöglicht eigentlich die Versorgung grosser Teile Nordostsyriens mit Energie und Wasser. Seit die SNA ihn von Westen her angreift, ist das Kraftwerk aber ausser Betrieb. Nun muss in Kobane der Strom mit Dieselgeneratoren gewonnen werden. Sollte der Damm brechen, drohen Überflutungen. Ausserdem könnte die Strasse auf seiner Krone als Einfallstor in Richtung Kobane genutzt werden.

Seit einiger Zeit machen sich deshalb Zivilist:innen nach Tischrin auf, um ihren Damm zu schützen. Sie halten unweit der Kampfzone Sit-ins für den Frieden ab. Alte Männer, Frauen, Jugendliche. Sie halten Reden, um sich und den Kämpfer:innen Mut zu machen, tanzen zu kurdischen Volksliedern. «Ich habe versucht, Asad davon abzuhalten, dorthin zu fahren», sagt Cousin Hadschi. Das Letzte, was er und Asads Brüder von ihm zu sehen bekamen, war ein Selfie mit drei Freunden. Sie lächeln in die Sonne. Einer macht das Peacezeichen. Wenige Minuten später war Asad Hussein tot.

Getötet wurde er durch Schrapnelle einer Rakete. Aufnahmen vom Angriff legen nahe, dass diese von einem türkischen Kampfjet abgefeuert wurde. Laut dem in Kamischli ansässigen Rojava Information Center wurden bei türkischen Angriffen am Tischrin-Damm bis zum 22. Januar sechzehn Zivilist:innen getötet und über neunzig verletzt. Während türkische Pressevertreter die Selbstverwaltung beschuldigen, leichtfertig Zivilist:innen ins Kriegsgebiet zu schicken, finden sich weiterhin viele Freiwillige dort ein. Grösser als die Angst, bei einem Luftangriff zu sterben, ist jene vor dem Vormarsch protürkischer islamistischer Extremisten – und vor deren Rache.

Ringen um Unterstützung

In den vergangenen Jahren wurde Kobane auf Verteidigung getrimmt. Manche Strassen der Innenstadt sind mit Wellblech überdacht, um den Drohnen die Sicht zu nehmen. Entlang der Strassen um die Stadt ziehen sich Erdwälle, die aussehen, als wären sie von riesigen Maulwürfen aufgeschüttet worden: Sie zeugen von kilometerlangen Tunneln, die SDF-Kämpfer:innen erlauben, sich trotz türkischer Luftschläge zu bewegen.

Und da ist noch etwas, was den Menschen in Kobane Mut macht: Vor wenigen Tagen schob sich eine Karawane von Lastwagen in die Stadt. Geladen hatten sie «T-Walls»: Mauerteile, wie sie nur die US-Amerikaner:innen verbauen würden, sagen die Leute. Inzwischen stehen die Elemente aufgereiht um das alte Hotel. Entsteht hier ein US-Stützpunkt? «Das ist der Gossip der Stadt», sagt der Barbesitzer. Die USA haben die Gerüchte zwar zuletzt dementiert, eine Frage aber bleibt: Was passiert unter dem neuen US-Präsidenten Donald Trump?

«Ich glaube, die USA wissen ganz gut, woran sie sind, immerhin haben wir jahrelang kollaboriert», sagt YPG-Sprecher Siamand Ali bei einem Treffen. Zuletzt hatten unterschiedliche Parteien den Kurd:innen direkt oder indirekt ihre Unterstützung zugesichert. Der französische Präsident Emmanuel Macron kündigte an, Frankreich werde «Freiheitskämpfer wie die Kurden», mit denen man gemeinsam den IS besiegt habe, nicht im Stich lassen. Auch Israels Aussenminister Gideon Saar warnte vor Versuchen, die Autonome Selbstverwaltung aufzulösen, und sprach den Kurd:innen «moralische und diplomatische Unterstützung» zu.

Syriens von der HTS geführte Übergangsregierung hält sich derweil mit Statements zur Selbstverwaltung zurück. Wohl auch deshalb, weil sie es sich nicht mit den westlichen Verbündeten der SDF verscherzen will. Hinter verschlossenen Türen finden Gespräche statt, und bislang sind keine direkten militärischen Konfrontationen zwischen HTS und SDF bekannt geworden. Doch beim Besuch in Ankara hatte Syriens neuer Aussenminister gesagt: «Wir stellen uns ein geeintes Syrien vor, in dem alle Gebiete unter zentraler Verwaltung stehen.» Was wohl bedeuten würde, dass die SDF Teil der syrischen Armee würde. Seite an Seite mit Dschihadisten also, die sie einst bekämpfte? «Wir müssen die Kontrolle über die Gebiete haben, in denen unsere Leute leben, denn die Geschichte hat uns gelehrt, dass wir unser Volk nicht schutzlos zurücklassen dürfen», sagt dazu YPG-Sprecher Ali.

Wenn die Waffen an der Front schweigen, wolle auch sie ihre alte Kalaschnikow in den Schrank stellen, sagt Nachtwächterin Hawar Barawad. Ob sie sie nicht abgeben würde? Sie schaut ungläubig. «Abgeben? Sollen wir uns wie die Schafe zum Metzger führen lassen?» Die Vorstellung, dass in Kobane bald wirklich Frieden herrschen könnte, scheint unwirklich. Noch vergeht kein Tag, an dem auf dem «Märtyrerfriedhof» vor den Toren der Stadt keine neuen Gräber ausgehoben werden.

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Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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