Jüdisch in Südafrika
Begegnungen im Dreieck von Apartheid, Holocaust, Zionismus
Nachdem er 22 Jahre lang auf die grauen Wände einer Gefängniszelle geblickt hatte, umgab sich Denis Goldberg mit farbenfrohen afrikanischen Gemälden. Bilder, die das Leben feiern, Lust und Begehren. Sie hängen nun im „House of Hope“; der schlichte, funktionale Bau am Rande Kapstadts ist das Vermächtnis des bekanntesten jüdischen Antiapartheidkämpfers. Kinder aus den Townships können hier malen und Theater spielen. Im Garten, wo Goldbergs Asche verstreut wurde, picken Vögel.
Ein friedlicher Ort, und doch keine Idylle, in der die Vergangenheit Ruhe fände. Die Häusermeere der Townships, aus denen die Kinder kommen, liegen drei Jahrzehnte nach dem Ende der Apartheid mit empörender Trostlosigkeit in der hügeligen Landschaft am Kap. Und die Fragen, die Goldbergs Vermächtnis aufwirft, sind allzu gegenwärtig, Fragen nach den Maßstäben ethischer Entscheidungen, nach dem Wert des Lebens und den Interpretationen von Jüdisch-Sein.
Goldbergs Vorfahren stammten wie die meisten jüdischen Einwanderer Südafrikas aus Litauen, damals Teil des Zarenreichs, sie flohen vor Pogromen und Armut. Die Überzeugung, jeder Mensch verdiene unabhängig von Hautfarbe und Herkunft den gleichen Respekt, führte Goldberg ein halbes Jahrhundert später zum bewaffneten Arm des ANC, des African National Congress. An der Seite Nelson Mandelas zu mehrfach lebenslänglich verurteilt, wurde er nicht auf Robben Island eingekerkert, sondern in einem Weißen-Gefängnis in Pretoria. Die Apartheid segregierte sogar ihre Todfeinde. Auf einer Tafel im House of Hope steht: He was a Mensch. So heißt im Jiddischen, wer seine Menschlichkeit durch den Einsatz für andere beweist.
Nur eine kleine Minderheit der damals 120 000 Juden und Jüdinnen in Südafrika entschied sich für diesen dornigen Weg. Unter den Weißen im ANC waren sie weit überrepräsentiert; das ist die eine Seite, und sie ist so bemerkenswert wie die andere: Die Mehrheit der Juden und Jüdinnen arrangierte sich mit der Apartheid, duckte sich unter den Schirm für sie vorteilhafter Rassegesetze und mied in steter Furcht, Antisemitismus zu provozieren, den Kontakt mit den Freiheitskämpfern aus den eigenen Reihen.
Die Spitze der Gemeinde rang sich erst nach 37 Jahren Apartheid, nämlich 1985, zu klaren Worten der Verurteilung durch. Oberrabbiner Cyril Harris räumte später vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission ein: „Die jüdische Gemeinschaft hat von der Apartheid profitiert (…) Wir bitten um Vergebung.“1 Einerseits selbstloser Widerstand, bezahlt mit Haft, Exil, Verbannung, mit Tod und Verstümmelung durch die Waffen des Regimes. Andererseits Anpassung, Mittäterschaft. Jüdische Rechtsanwälte verteidigten Schwarze Aktivisten; jüdisch war ebenso der Generalstaatsanwalt, der Mandelas Verurteilung besonders fanatisch betrieb.
Die Historikerin Shirli Gilbert, eine Expertin jüdisch-südafrikanischer Geschichte, sieht in dieser Polarisierung die Spannung zwischen zwei Holocaust-Interpretationen innerhalb des Judentums: Hier die Einzigartigkeit der Juden als Opfer, dort die Universalität der Lehre Niemals wieder für alle. Die erste Lesart nährt das Bedürfnis nach Selbstschutz, die zweite motiviert zum Handeln.2
Um zu begreifen, wie etwas entstehen konnte, das spezifisch südafrikanisch und zugleich verallgemeinerbar ist, hilft ein Blick auf die Anfänge. Die älteste Synagoge Südafrikas, 1863 aus Natursteinen gebaut, fungiert heute als Eingang zum Jüdischen Museum in Kapstadt. Fotos zeigen ärmliche Ankömmlinge am Hafen, Männer mit Schiebermützen und abgetragenen Jacken, die Pappkoffer von einer Kordel zusammengehalten. Frauen mit Kopftüchern, Bettzeug in Bündeln. 70 000 kamen im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert mit der großen Auswanderung aus dem Siedlungsrayon für Juden am Westrand des Zarenreichs, wo damals die Hälfte der weltweiten Judenheit lebte. Angelockt durch Geschichten von schnellem Geld in den Gold- und Diamantenminen Südafrikas, wurden manche zunächst Hausierer, fuhren auf hochrädrigen Maultier-Karren zu abgelegenen Siedlungen, mit Seife, Knöpfen, Essbestecken.
Profiteure und Gegner des Apartheidregimes
Allerdings spürte auch ein mittelloser Einwanderer, dass sein Status in der Kolonie ein anderer war als in der alten Heimat. Ein Schwarzer, so schilderte es ein Zeitzeuge, trat für ihn am Kai zur Seite und senkte den Blick. Wann, fragte sich der Mann, hätte in Russland jemand einem Juden höflich Platz gemacht?3
Als Weiße unter Weißen konnten sich Juden am schnellsten im ländlichen Raum in die burisch-koloniale Gesellschaft integrieren; deren Antisemitismus verschärfte sich erst später, in den 1930er Jahren. Und es gab bald Erfolgsstorys: etwa durch den Handel mit Straußenfedern, damals weltweit gefragt als Accessoire eleganter Damenhüte. Die Landhäuser wohlhabender jüdischer Händler wurden Federnpaläste genannt.
Von den Voraussetzungen solchen Erfolgs sprechen die Schautafeln im Museum nicht: Juden durften Land erwerben (im Extremfall jenes, von dem Schwarze Eigentümer zuvor vertrieben wurden), hatten Reisefreiheit, erhielten Bankkredite. Ihr Dasein war legitim, die Legitimität von Siedlern, inmitten einer entrechteten Mehrheit.
In den Städten dauerte der Aufstieg in ein gesichertes Weißsein länger. Für den britischen, antisemitisch eingefärbten Snobismus waren die sogenannten Ostjuden schmutzig und unzivilisiert, ihr Jiddisch dubios. Die Einwanderer warfen ihre Sprache bald ab wie Ballast, Jiddisch verschwand binnen einer Generation. Opfer von Diskriminierung zu sein, von realer oder befürchteter, lag auf der einen Waagschale, der Erwerb kolonialer Privilegien auf der anderen.
Apartheid, Holocaust, Zionismus: In diesem Dreieck sind die kollektiven Prägungen südafrikanischer Juden und Jüdinnen entstanden, doch haben sie sich in jede Familie, jedes Individuum anders eingetragen.
Steven Robins hat als Treffpunkt ein Kapstädter Café vorgeschlagen. Robins, seine Vorfahren hießen Robinski, ist Anthropologe, ein nahbarer, jugendlich wirkender Professor. Sein Vater, geflüchtet aus Nazideutschland, erreichte Kapstadt 1936. Nach ihm kam noch die „Stuttgart“ mit 537 deutschen Juden an Bord, dann schloss Südafrika unbarmherzig die Tore für Schutzsuchende.
Robins wuchs auf mit einem gerahmten Foto auf der Anrichte, drei Frauen, über die nie gesprochen wurde – der Vater hatte sie nicht holen, nicht retten können: seine Mutter und seine beiden Schwestern. Sie wurden in Auschwitz ermordet, andere Verwandte in den Wäldern bei Riga. Die flehentlichen Briefe der Familie nach Südafrika, mehr als einhundert, fand Robins viel später, als er längst erwachsen war. In jahrelangen Recherchen rekonstruierte er die Geschichte der Robinskis, schrieb darüber das Buch „Briefe aus Stein“.4 Seine Verwandten haben nun Stolpersteine in Berlin, und ihre Briefe sind an den Ursprungsort zurückgekehrt, sie werden im Archiv des Berliner Jüdischen Museums verwahrt.
Schwieg der Vater aus Schuldgefühl? „Schweigen ist komplex“, sagt Robins. „Es war eine furchtbare Niederlage für ihn, er wurde in den 40er Jahren schwer krank.“ Arthur, ein jüngerer Bruder des Vaters, dem die Flucht nach Südafrika gleichfalls gelungen war, entwickelte sich zum überzeugten Zionisten. Zwei Brüder, zwei Umgangsweisen mit der Last des Nicht-retten-Könnens.
Durch die Arbeit am Buch ist für Robins das eigene Jüdischsein deutlicher hervorgetreten. Dennoch stellt er jüdisches Leid nicht separat, zeigt vielmehr, wie der europäische Rassismus Holocaust und Apartheid zu miteinander verflochtenen Geschichten gemacht hat. Diese Sichtweise verbindet ihn mit international bekannten Gestalten der jüdisch-südafrikanischen Kunstszene wie Candice Breitz, Steven Cohen und William Kentridge. Eine geschichtspolitische Haltung, in der Menschlichkeit unteilbar ist, bringt sie alle in Gegensatz zum konservativ-zionistischen Mainstream – ganz besonders in diesen Tagen.
Mit Kentridge und 700 ähnlich Gesinnten hat Robins einen Protest gegen Israels Kriegsführung in Gaza unterzeichnet. „Die Erfahrung von Verfolgung und Völkermord ist in unser kollektives Gedächtnis eingewoben. Wir sind daher aufgerufen, zu verhindern, dass so etwas noch einmal geschieht, egal wo und egal wem.“5 Von jüdischen Freunden, sogar von Verwandten, erfuhr Robins wütende Kritik. Er verrate die Geschichte seiner Familie, verrate sein eigenes, unter so viel Schmerzen geschriebenes Buch. Robins widerspricht. „Die Lehre aus dem Holocaust ist, alle Leben als gleichwertig zu betrachten. Zu was sonst wäre Holocaust-Erinnerung gut?“
Nicht zu Stein werden, lautet eine Mahnung im Buch; aber was bedeutet das konkret? Die Antwort hat viele Schichten, persönliche, politische. Im Rückblick auf das Nicht-retten-Können der Angehörigen nicht erstarren wie Lots Frau, als sie auf das brennende Sodom blickte. Nicht versteinern nach dem Holocaust, gegenüber dem Leid anderer. Israels Militarismus und „die Priorisierung jüdischen Lebens“, sind das nicht Zeugnisse versteinerten Bewusstseins?
Was gegenwärtig in Gaza geschieht, empfindet Robins als Tragödie, als nicht auszulöschenden Makel. Wären Juden besser in der Diaspora geblieben?, fragt er in sich hinein. „Was kann mein Buch, was kann Holocaust-Gedenken angesichts von Gaza noch bedeuten?“
Im Mai 1948 begann die Apartheid in Südafrika, im Mai 1948 wurde der Staat Israel gegründet. Das ist einerseits Zufall, andererseits gehören beide Ereignisse genuin in die Spätzeit der kolonialen Weltepoche, und es besteht – ohne auf die Westbank zu blicken – durchaus ein Zusammenhang zwischen Apartheid und Zionismus.
Die Einwanderer brachten aus Osteuropa zwei dort konkurrierende Überzeugungen mit nach Südafrika. Einerseits den Zionismus, der zu einer Art säkularer Zivilreligion wurde – bereits ein Jahr nach Theodor Herzls Basler Kongress von 1897 gründete sich die Zionistische Föderation Südafrikas. Andererseits das radikale Engagement für Gerechtigkeit im Hier und Jetzt der Bundisten: Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund war die jüdisch-sozialistische Partei Osteuropas, entstanden im selben Jahr, 1897, in Wilna, dem heutigen Vilnius. Ein Milieu, das im besetzten Europa Ghettokämpfer und Partisanen hervorbrachte, inspirierte in Südafrika die jüdischen Militanten im Kampf für die Freiheit aller.
Der Zionismus hingegen verfestigte sich unter der Apartheid: Die Ethnokratie verlangte die Zugehörigkeit zu einem Stamm – für Millionen Südafrikaner hieß das, willkürlich in Hautfarben-Kasten und Bantustans gezwungen zu werden. Für die Mehrheit der Juden und Jüdinnen funktionierte das Prinzip jedoch: nicht in der Gesellschaft aufgehen, sondern sich zusammendrängen. Noch heute ist die Gemeinde, durch Auswanderung auf knapp 60 000 Mitglieder geschrumpft, erstaunlich homogen, vier von fünf sind litauischer Abstammung. So wenig Vermischung in einem Zeitraum von 150 Jahren.
Beyachad, hebräisch für Zusammenhalt, heißt das Hauptquartier der Gemeinde in Johannesburg, zur Straße hin abgeschottet durch eine Sicherheitsmauer. Der Historiker David Saks, ein langjähriger Insider in Gemeindeangelegenheiten, hat sein Büro im ersten Stock, gleichwohl schützen massive Gitter das Fenster. Kaltes Neonlicht, der Charme einer Gefängniszelle. Dazu passt, wie Saks den Lauf der Dinge auf den Satz bringt: „Wir schauen wieder mehr nach innen.“
Einer Studie zufolge ist in Europa und in den USA die Diaspora säkularer geworden, in Südafrika hingegen religiöser, orthodoxer.6 Und da, wer regelkonform lebt, am Schabbat zu Fuß zur Synagoge geht, vermehren sich die kleinen, manchmal informellen Gebetshäuser. Die meisten Eltern schicken ihre Kinder an eine der jüdischen Privatschulen, obwohl sie sehr teuer sind – so entscheiden die Schulkosten über die gewünschte Zahl an Kindern. Lieber weniger, aber mit gesicherter jüdischer Identität.
Nach dem Ende der Apartheid, sagt Saks, habe es den Wunsch gegeben, sich mehr zur Gesellschaft hin zu öffnen. Das hielt nicht lange, und Saks nennt als einen Grund das Scheitern des Nahost-Friedensprozesses. Südafrikas Öffentlichkeit ist vehement propalästinensisch, was von vielen Juden als antisemitisch empfunden wird. So war es bereits vor dem 7. Oktober, nun haben sich die Spannungen verschärft. Wegen Hamas-Sympathien bei ANC-Politikern warnten jüdische Stimmen vor Mobs und Pogromen; Südafrikas Parlament verlangt wegen der Kriegführung in Gaza die Schließung der israelischen Botschaft, und die Regierung beschuldigt Israel vor dem Internationalen Gerichtshof des Genozids.
Gewiss, die Lage sei politisch unangenehm, differenziert Saks, aber Übergriffe gegen Juden seien äußerst selten. „In Ländern, deren Regierungen zu Israel stehen, gibt es mehr Antisemitismus, weil die Muslime ihre Frustration gegen die Juden richten. Das ist hier nicht nötig.“ Das Leben eines mittellosen Migranten aus Simbabwe sei in Südafrika vulnerabler als das eines Juden – wegen der xenophoben Gewalt, aber auch weil die jüdische Gemeinde Sorge trägt, dass niemand der Ihren auf der Straße landet. Verarmte gibt es neuerdings in ihren Reihen durchaus.
„Früher“, sagt Saks wehmütig, „spendeten wir an Israel mehr Geld als alle anderen jüdischen Gemeinden!“ Nun hat das Fundraising bei wohlhabenden Emigranten begonnen. Die meisten von ihnen gingen – Zionismus hin oder her – nicht nach Israel, sondern nach Kanada, Großbritannien, in die USA.
Die Wohnblöcke in Hillbrow stammen aus einer Zeit, in der es so etwas wie das gute Leben im Falschen gab: prosperierende jüdische Urbanität in einer für Weiße reservierten Gegend. Dann kam der weiße Exodus aus der Johannesburger Innenstadt. Heute leben in Hillbrow Menschen aus anderen Teilen Afrikas, prekär und beengt. Das Viertel gilt als gefährliches Pflaster, Weiße trauen sich nicht her – bis auf ein Häuflein Juden und Jüdinnen am Schabbat. Sie kommen zum Tempel Israel, der viel zu groß ist für die kleine Schar. Der imposante Art-déco-Bau von 1936 war die erste Synagoge eines damals neuen Reformjudentums, sollte von Modernität und Wohlstand künden.
Zur Begrüßung deutet Reeva Forman, als müsse sie Hillbrow verteidigen, auf das zerbrochene Glas eines Fensters über dem Eingang: „Das war ein Fußball, kein Antisemitismus!“ Aus Zuneigung zu dieser verrufenen Gegend und aus Treue zu einer progressiven Religiosität, die in der neoorthodoxen Welle unterzugehen droht, hat sie den verwaisten Tempel gerettet, ihn mit eigenem Vermögen und mit Fundraising vor dem Verkauf bewahrt. Forman verkörpert selbst die Grandezza alter Tage. Mit 13 begann die Apotheker-Tochter zu modeln, wurde später Südafrikas Beautyqueen, in doppeltem Sinne: als weißes Schönheitsideal und als Besitzerin der Kosmetikkette „Reeva“. Sie hält sich selbst noch immer mit Grazie, perfekt geschminkt, und ihr Geburtsdatum geheim; betagt ist auch ihr weißer BMW.
An diesem Schabbat leitet Forman den Gottesdienst vor mehreren hundert grauen Klappsesseln, kaum ein Dutzend sind besetzt, einige Gehbehinderte beten per Zoom. Das klingt nach letztem Aufgebot, doch ist die Stimmung aufgeräumt. Forman hat die überalterte Gemeinde geöffnet für Schwarze; manche sind Einwanderer, deren jüdisch-afrikanische Identität orthodoxen Kriterien nicht genügt, weil sie mit Christlichem durchsetzt ist, wie etwa bei den Sabbatianern aus Nigeria.
In Hillbrow sind alle willkommen. Das einzige Kind an diesem Morgen ist ein zehnjähriger Schwarzer, „die Zukunft der Gemeinde!“, sagt Forman und gibt dem Jungen die ehrenvolle Aufgabe, den Vorhang vor dem Toraschrein aufzuziehen. Sein Adoptivvater ist ein alter weißer jüdischer Hausmeister; er nahm vor zehn Jahren das Baby einer verzweifelten Mieterin in Obhut. Als hätten sich Verlorene getroffen.
Während der Apartheid betrieben Hillbrower Jüdinnen Schulen in einer Township, widersetzten sich so der Regierung, die dort nur minderwertige Bantu-Bildung wollte. Aber da ist noch eine andere, schwierigere Erinnerung: 1983, als die schöne Reeva vom weißen Südafrika zur Unternehmerin des Jahres gekürt wurde, zündete der bewaffnete Arm des ANC, aus dem Exil geleitet vom jüdischen Kommunisten Joe Slovo, eine Bombe vor der Synagoge – weil der Präsident des Apartheidstaats zum Besuch geladen war.
Selbst einer liberalen Zionistin wie Forman fällt es schwer, diese Geschichte zu akzeptieren: Es waren letztendlich die militanten Säkularen, die das jüdische Ansehen retteten und der mehrheitlich konservativen Gemeinde einen sicheren Platz in Mandelas Post-Apartheid-Nation verschafften. Heute wird der Unterschied zwischen Widerstand und Wohltätigkeit gern verwischt, als verbinde die philanthropische Sorge für benachteiligte Schwarze das Gestern mit dem Heute. Zahlreiche jüdische Projekte firmieren nun unter den Begriffen „Tikkun Olam“ und „Jubuntu“. Das Prinzip Tikkun Olam bedeutet, die Welt verbessern oder auch: heilen durch gute Taten. Jubuntu definiert sich als jüdischer Beitrag zur afrikanischen Ubuntu-Philosophie menschlicher Verbundenheit. So pflegen jüdische Schulen nun Partnerschaften mit ärmeren Schulen – nicht zuletzt, damit jüdische Kinder lernen, ohne Herablassung mit Schwarzen Altersgenossen zu verkehren.
Solidarität mit den Palästinensern in Gaza
Motor solchen Engagements seien häufig unbewusste Schuldgefühle, meint die Soziologin Deborah Posel; es wäre besser, „unsere Komplizenschaft“ einzugestehen. Die Künstlerin Candice Breitz spricht sogar von ihrem „Tätererbe“. Solche Begriffe sind bei Gemeinde-Oberen verpönt. Wie uneins Südafrikas Juden im Hinblick auf die Vergangenheit sind, belegt eine Studie: 38 Prozent meinen, die Gemeinde habe die Apartheid zu sehr akzeptiert; etwas mehr sind gegenteiliger Ansicht, und ein Fünftel zieht es vor, keine Meinung zu haben.7
Was bedeutet es vor diesem Hintergrund, jüdisch zu sein in einem Land, das auf Israel durch die Linse der traumatischen Apartheid-Erfahrung blickt? Die Soziologin Posel und die Historikerin Shirli Gilbert fanden heraus, dass die seelische Bedrängnis für jene am stärksten ist, die sich weder als zionistisch noch als antizionistisch definieren wollen: In der Gemeinde ist kein Platz für ihre Ambivalenz gegenüber Israel und in der allgemeinen Öffentlichkeit gibt es kaum Verständnis für das Bedürfnis nach einer jüdischen Heimstatt.8
Man kann es als radikalen Ausbruch aus diesem Dilemma deuten, wenn sich junge jüdische Linke zur BDS-Bewegung bekennen, die in Südafrika hochpopulär ist. So lässt sich die Kluft zu Schwarzen Kommilitonen überwinden, vielleicht auch symbolisch das ungeliebte Erbe des Weißseins abwerfen. Es gebe, meint Steven Robins, jetzt einen jüdischen „68er Moment“: die Anklage gegen Eltern und Großeltern wegen der Apartheid und im Zusammenhang mit Gaza. Das Leid der Palästinenser aktualisiert und verschärft den Vorwurf schuldhafter Verwicklung.
Eine Wiese an der Strandpromenade von Kapstadt; vor der Metallskulptur einer überdimensionalen Mandela-Brille wird ein „Shabbat against Genocide“ gehalten. Auf einem Klapptisch Kerzen und frische Rosen in Rot und Weiß, Rosen für Palästina. Ein Aktivist mit Regenbogen-Kippa trägt ein Gebet vor, muslimische Ärztinnen und Pfleger verlesen die Namen von in Gaza getöteten Kollegen.
Caitlin Le Roith, eine blonde junge Anwältin, hält ihre Rose behutsam und feierlich. Erst an der Universität habe sie begriffen, was die jüdische Herzliya-Schule ihr zum Thema Israel alles vorenthalten habe. „Ich fühlte mich betrogen.“ Vor kurzem schloss sie sich den „South African Jews for a Free Palestine“ an. Deren dezidierter Antizionismus ist Le Roiths Antwort auf die Erziehung an einer Schule, die mit zionistischem Stolz jeden Morgen die israelische Nationalhymne abspielte. Einmal ließen sich Schüler dabei auf ein Knie nieder, wie Schwarze US-Athleten im Protest gegen Rassismus; die Schulleitung tobte. In ihrer Familie, sagt Le Roith, verstehe kaum jemand, wie sie denkt. „Wir leben in verschiedenen Welten. Es ist schwer, noch miteinander zu reden.“
Das Dreieck Apartheid, Israel, Holocaust hat Heidi Grunebaum, Enkelin vertriebener Juden aus Hessen, mit besonderer Schärfe ausgeleuchtet, kompromisslos auch gegenüber sich selbst. Wir begegnen uns am Centre for Humantities Research der University of the Western Cape, wo sie leitende Forscherin ist. An eine Uni zu gehen, die als College für „Coloured“ entstand und gegen Apartheid kämpfte, war eine bewusste Entscheidung: mit dem Geist fortdauernder Privilegien brechen, gerade auch in der akademischen Welt. Grunebaum hat den Ruf einer Radikalen, doch es fällt sofort auf, wie sorgsam und suchend sie formuliert, die eigene Verletzbarkeit nicht verbergend.
Als junge Erwachsene hatte sie geglaubt, die Auswanderung nach Israel könne sie vor der unweigerlichen Verstrickung in die Apartheid bewahren. Hätte sie dort als Jüdin nicht eine moralisch fundierte Existenz, in Anbetracht ihrer in Auschwitz ermordeten Verwandten? Sie lernte Israel zuerst mit einem zionistischen Jugendprogramm kennen, dazu gehörte der Besuch des sogenannten Südafrika-Walds, den der Jüdische Nationalfonds aus Spendengeldern südafrikanischer Juden pflanzte – über den Ruinen eines 1948 zerstörten palästinensischen Dorfes. Heidi Grunebaum begriff erst viel später: Mit ihren Beiträgen in die blau-weißen Sammelbüchsen des Fonds war sie Teil einer anderen Verstrickung geworden.
Parallelen drängten sich ihr auf: in Südafrika die Zwangsumsiedlung von dreieinhalb Millionen Menschen, dort die Vertreibung der Palästinenser. In beiden Fällen ist das Verbrechen der ethnischen Säuberung einfach in der Unsichtbarkeit verschwunden – in Südafrika durch die sogenannte Versöhnung, in Israel durch Aufforstung und Amnesie. Grunebaum drehte darüber einen Dokumentarfilm, „The Village Under the Forest“. Seitdem ist sie in der Gemeinde verschrien. Jüdischer Selbsthass – mit diesem Begriff werden auch in Südafrika die Unliebsamen belegt. Es schmerze sie, sagt Grunebaum, dass ihre Eltern darunter litten.
Sie spricht vom Vater: Oft hörte er, wie seine Eltern, die aus Hessen Geflüchteten, im Schlafzimmer weinten. Wenn sie die Tür öffneten, taten sie, als wäre nichts. Der Sohn respektierte ihr Schweigen; es zu verletzen, ahnte er, ließe die Eltern zerbrechen. Er begleitete seine Tochter später auch nicht nach Deutschland, als sie begann, in der Kleinstadt der Großmutter, wo Augen hinter Vorhängen der Fremden folgten, diese Seite des Dreiecks zu ertasten. Inzwischen hat Grunebaum die ihren Vorfahren entrissene deutsche Staatsangehörigkeit beantragt und arbeitet an einem zweiten Film, „The Return“. Damit ist nicht allein die persönliche Rückkehr gemeint, „sondern die Wiederkehr einer überwunden geglaubten europäischen Geschichte, die Rückkehr des Faschismus“.
Ahmed Kathadra, Sohn indischer Händler und später führender ANC-Kader, besuchte 1951 Auschwitz und die Ruinen des Warschauer Ghettos. Die Erfahrung ließ ihn nie mehr los. Zurück in Südafrika, zeigte er bei seinen Reden gegen die Apartheid einen Glasbehälter mit Knochenresten aus dem Lager. Seht, was Rassismus im Extrem bedeutet! Später, im Gefängnis auf Robben Island, las Kathadra ebenso wie Nelson Mandela heimlich Anne Franks Tagebuch. Es ist heute Pflichtlektüre an Südafrikas Schulen.
Auch wenn führende ANC-Politiker Sympathien für die Hamas zeigen: Der Holocaust wurde hier nie geleugnet. Im Gegenteil: Vergleiche zwischen Apartheid und Nationalsozialismus dienten schon bald nach 1945 der Mobilisierung einer internationalen Öffentlichkeit. 1994, am Vorabend der ersten demokratischen Wahlen, besiegelte Mandela bei einer Anne-Frank-Ausstellung symbolisch das Ende der Apartheid. „Indem wir Annes Angedenken ehren“, sagte er bei der Eröffnung, „sagen wir mit einer Stimme: Niemals und niemals wieder!“
Unterricht über den Holocaust steht an Südafrikas höheren Schulen verbindlich im Lehrplan. Zur Unterstützung entstanden drei „Holocaust & Genocide Centres“ in Kapstadt, Durban und Johannesburg. Wie es der Zufall will, sind am Tag meines Besuchs im Johannesburger Zentrum jüdische Teenager gekommen; 60 Jungen und Mädchen hören nun von einem Schwarzen nichtjüdischen Pädagogen, was die Vernichtung der Juden mit dem Völkermord in Ruanda verbindet. Beide Genozide werden hier gleichrangig nebeneinandergestellt. Immer geht es um ein gewalttätiges Othering, um die Ausgrenzung aus dem gemeinsamen Menschsein. Im Foyer, unweit eines Zitats des Auschwitz-Überlebenden Primo Levi, hängen Fotos von Szenen xenophober Gewalt der jüngsten Gegenwart.
Tali Nates, eine in Südafrika eingebürgerte Israelin, hat diesem Haus seine besondere Sprache gegeben. Ihr Vater wurde durch Oskar Schindlers Liste gerettet. Was junge Leute von hier mitnehmen, sind nicht Definitionen von Antisemitismus, sondern ist der Auftrag, für Menschlichkeit einzutreten. Und zu wissen: Es gibt immer eine Wahl, auch das Nichtstun ist eine ethische Entscheidung.
1 South African Press Association, 18. November 1997.
2 Shirli Gilbert, „Remembering the Racial State. Holocaust Memory in the Post-Apartheid South Africa“, in: Jacob S. Eder, Philipp Gassert, Alan E. Steinweis (Hg.): „Holocaust Memory in a Globalizing World“, Göttingen 2017, S. 202 ff.
3 Mitchel Joffe Hunter, „White skin, white masks. Ashkenazi Jews in Southern Africa“, The Funambulist, 22. Juni 2023.
4 Steven Robins, „Briefe aus Stein. Von Nazi-Deutschland nach Südafrika“, Berlin (Metropol Verlag) 2019.
5 „Concerned South African Jews Call for Ceasefire in Gaza“, Daily Maverick, 15. November 2023.
6 Nadia Beider, David Fachler, „Bucking the Trend: South African Jewry and Their Turn Toward Religion“, 30. Juli 2023.
7 „Identity, community, society and demography of Jews in South Africa“, Bericht des Isaac and Jessie Kaplan Centre for Jewish Studies der University of Cape Town, 2020.
8 Shirli Gilbert, Deborah Posel, „Israel, Apartheid, and a South African Jewish dilemma“, in: Journal of Modern Jewish Studies, Bd. 20, Nr. 1, 2021.
Charlotte Wiedemann ist Journalistin und Autorin. Zuletzt erschienen: „Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“, Berlin (Propyläen) 2022.
LMd, Berlin